„Selbstschussanlage“ – Versionsunterschied

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Geschichte; Todesopfer und Verletzte; Entwicklung; Installation; Kosten; Abbau; Rechtswidrigkeit; Quellennachweise; Literaturverzeichnis angelegt; Satzumstellung, damit Zusammengehöriges zusammen steht; Doppelungen behoben; sprachlich überarbeitet
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[[Datei:Spring-gun Selbstschussanlage.JPG|mini|Am [[Point Alpha]] ausgestellte Selbstschussanlage SM-70 („Splittermine Modell 1970“).]]
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[[Datei:Sm-70 schlagsdorf.jpg|mini|Nachbau einer SM-70, sichtbar die Anordnung der Spanndrähte.]]
[[Datei:Sm-70 schlagsdorf.jpg|mini|Nachbau einer SM-70, sichtbar die Anordnung der Spanndrähte.]]
== Frühe Neuzeit ==
Bis zu ihrem Verbot im 17. Jahrhundert wurde die selbstauslösende [[Legbüchse]] in der Jagd eingesetzt.
== Neuzeit ==
Eine '''Selbstschussanlage''' ist „eine kegelförmige Splitter[[Landmine|mine]] mit Richtwirkung“ (offizielle [[DDR]]-Bezeichnung), wie sie an der DDR-Grenzsperre verbaut war. Ab 1971 bis zu Beginn der 1980er Jahre errichtete die DDR an der [[Innerdeutsche Grenze|innerdeutschen Grenze]] auf einer Länge von 450 Kilometern 71.000 ''Selbstschussanlagen SM-70'' am vorderen Metallgitter-Grenzzaun,<ref>Jürgen Ritter, Peter Joachim Lapp: ''Die Grenze: ein deutsches Bauwerk.'' Ch. Links Verlag. S. 103.</ref> die ausschließlich den Zweck hatten Fluchtversuche aus der DDR zu verhindern, indem sie Menschen beim Betreten oder Durchqueren des Grenzstreifens automatisch schwer verletzten oder töteten.<ref>Gerhard Werle, Klaus Marxen, Toralf Rummler, Petra Schäfter: ''Strafjustiz und DDR-Unrecht: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze.'' De Gruyter 2002; Reprint 2012. S. 553.</ref>


Eine '''Selbstschussanlage''' ist „eine kegelförmige Splitter[[Landmine|mine]] mit Richtwirkung“ (offizielle [[Deutsche Demokratische Republik|DDR]]-Bezeichnung), die an der DDR-Grenze eingesetzt wurde. Ab 1971 bis zu Beginn der 1980er Jahre errichtete die DDR an der [[Innerdeutsche Grenze|innerdeutschen Grenze]] auf einer Länge von etwa 450 Kilometern rund 71.000 ''Selbstschussanlagen SM-70'' am vorderen Metallgitter-Grenzzaun.<ref>Jürgen Ritter, Peter Joachim Lapp: ''Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk''. Ch. Links Verlag, Berlin, 7., aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009, S. 103.</ref> Deren ausschließlicher Zweck war es, Fluchtversuche aus der DDR zu verhindern, indem sie Menschen beim Betreten oder Durchqueren des Grenzstreifens automatisch schwer verletzten oder töteten.<ref>Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): ''Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation'', Bd. 2: ''Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze'', bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, S. 553.</ref>
Entwickelt wurde das Konzept für die Selbstschussanlage von dem SS-Führer [[Erich Lutter]] während seiner Beschäftigung im [[Reichssicherheitshauptamt]] im Auftrag von [[Reinhard Heydrich]]. Sie hatte das Ziel, die Umzäunungsanlagen von [[Konzentrationslager]]n so zu sichern, dass Häftlinge mit geringem Personalaufwand an einer Flucht gehindert werden konnten.


Das erste Opfer einer Selbstschussanlage war Leo Hoffmann aus [[Worbis]], der am 14. November 1972 in der Nähe von [[Teistungen]] zerfetzt wurde.<ref name="Jochen Staadt">Jochen Staadt: ''Ihr verdammten Schweine. Über die Einführung und den Abbau der tödlichen Splitterminen an der innerdeutschen Grenze entschied DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker souverän.'' In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. August 2017, S. 6.</ref> Von 1970 bis 1984 verloren 14 Flüchtlinge durch Selbstschussanlagen ihr Leben.<ref name="Jochen Staadt" /> Außerdem kam ein Soldat der [[Grenztruppen der DDR]] bei Wartungsarbeiten zu Tode.<ref name="Jochen Staadt" /> Das letzte Opfer einer Selbstschussanlage war der 20-jährige Frank Mater, der am 22. März 1984 bei [[Wendehausen]] getötet wurde. Etwa 140 Menschen wurden beim Fluchtversuch durch Selbstschussanlagen verletzt.<ref name="Jochen Staadt" />
Durch die Selbstschussanlagen erlitt die DDR einen enormen Image-Schaden: Die Selbstschussanlagen der DDR verschossen Stahlsplittergeschosse mit der Wirkung von [[Teilmantelgeschoss|Dum-Dum]]-Geschossen und verstießen grob gegen das [[Völkerrecht]]. Auf internationalen Druck und nachdem [[Franz-Josef Strauß]] der DDR einen Milliarden-Kredit in Aussicht gestellt hatte, wurden die Selbstschussanlagen an den innerdeutschen Grenze bis zum 30. November 1984 binnen eines Jahres komplett abgebaut.<ref name=SM70 />


== Innerdeutsche Grenze ==
== Innerdeutsche Grenze ==
Die „Selbstschussanlagen SM-70“ waren jahrelang die vorherrschenden Sicherungselemente der DDR und waren an der [[Innerdeutsche Grenze|innerdeutschen Grenze]] zwischen der [[Bundesrepublik Deutschland]] und der [[Deutsche Demokratische Republik|DDR]] ausschließlich in die Richtung der DDR ausgerichtet.<ref name="Strafjustiz">Gerhard Werle, Klaus Marxen, Toralf Rummler, Petra Schäfter: ''Strafjustiz und DDR-Unrecht: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze.'' De Gruyter 2002; Reprint 2012. S. 560.</ref> Die DDR unternahm alles, um die Existenz dieser Tötungsautomaten und die durch sie verursachten Tötungen an der Grenze dem Westen gegenüber zu verheimlichen und zu vertuschen. Die Todesfälle wurden aber auch der DDR-Öffentlichkeit nicht bekannt gemacht, sodass die Selbstschussanlagen keine Abschreckungswirkung auf Fluchtwillige ausüben konnten.<ref>Gerhard Werle, Klaus Marxen, Toralf Rummler, Petra Schäfter: ''Strafjustiz und DDR-Unrecht: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze.'' De Gruyter 2002; Reprint 2012. S. 568.</ref> Insofern haben die Opfer ihren eigenen Tod nicht in Kauf genommen oder selbst verursacht, da die Gefährlichkeit und Existenz der automatischen Tötungsmaschinen im Grenzbereich nicht jedermann bekannt war. Aufgrund des Todeserfolges beschloss der [[Nationaler Verteidigungsrat der DDR|Nationale Verteidigungsrat der DDR]] mit Sitzung vom 14. Juli 1972, dass der weitere pioniertechnische Ausbau der Grenzanlagen, mit besonderem Schwerpunkt auf die Errichtung der „Selbstschussanlagen SM-70“, fortzusetzen ist.<ref>Gerhard Werle, Klaus Marxen, Toralf Rummler, Petra Schäfter: ''Strafjustiz und DDR-Unrecht: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze.'' De Gruyter 2002; Reprint 2012. S. 576f.</ref>
Die „Selbstschussanlagen SM-70“ waren jahrelang die vorherrschenden Sicherungselemente der DDR und an der [[Innerdeutsche Grenze|innerdeutschen Grenze]] zwischen der [[Bundesrepublik Deutschland]] und der Deutsche Demokratische Republik|DDR ausschließlich in die Richtung der DDR ausgerichtet.<ref name="Strafjustiz 560">Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): ''Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation'', Bd. 2: ''Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze'', bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, S. 560.</ref>


=== Entwicklung ===
Internationale Bekanntheit erlangten die Selbstschussanlagen der DDR, nachdem zahlreiche Flüchtlinge aus der DDR von den Selbstschussanlagen bei Fluchtversuchen verletzt oder getötet worden waren. Im März und April 1976 demontierte der ehemalige DDR-Bürger [[Michael Gartenschläger]] an der innerdeutschen Grenze erfolgreich zwei Selbstschussanlagen und präsentierte sie im [[Der Spiegel|Magazin ''Der Spiegel'']].<ref>[http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41238170.html Der Spiegel 16/1976 „Schnell das Ding vom Zaun“]</ref> Die Demontage und Entwendung der Selbstschussanlagen war von westdeutscher Seite aus möglich, weil die Tötungsautomaten an der DDR-wärtigen Grenzzaunseite angebracht waren und es dadurch problemlos möglich war, den Zaun von der Bundesrepublik in Richtung DDR zu überwinden.<ref name="Strafjustiz" />
Entwickelt wurde die anfangs als „Schützensplittermine“ (SSM) bezeichnete Selbstschussanlage mit Hilfe des militärtechnischen Institutes VUSTE der [[Tschechoslowakei]]. Am 23. Februar 1967 schlossen die Tschechoslowakei und die DDR einen Vertrag über die Entwicklung und Erprobung einer Selbstschussanlage sowie die Lieferung von 100 Prototypen an die DDR.<ref name="Jochen Staadt" /> Die DDR zahlte der Tschechoslowakei dafür 700.500 [[Mark (DDR)|Mark]].<ref name="Jochen Staadt" /> Gefertigt wurden die nach dem Jahr der geplanten Indienststellung nun „SM-70“ genannten Selbstschussanlagen ab 1969 im [[Volkseigener Betrieb|VEB]] Chemiewerk [[Oranienbaum#Kapen|Kapen]] (dieser Standort war bereits ab 1936 als Munitionsfabrik genutzt worden).<ref name="Jochen Staadt" /> Als Geschosse wurden in Kapen während der Erprobungsphase zunächst Metallkugeln verwendet. Diese wurden „wegen der besseren Treffsicherheit“ durch die noch größere Verletzungen hervorrufenden Metallsplitter ersetzt. Die „versuchsweise Einführung“ (Erprobung) erfolgte im Januar 1971 an der innerdeutschen Grenze im Abschnitt [[Salzwedel]]/[[Arendsee (Altmark)|Arendsee]] (DDR) und [[Lüchow (Wendland)|Lüchow]]/[[Prezelle]] (Niedersachsen).<ref name="Jochen Staadt" />

Danach konnte die DDR nicht mehr leugnen, Selbstschussanlagen aufgestellt zu haben. Am 30. April 1976 versuchte Gartenschläger, eine dritte SM-70 zu demontieren. Dabei wurde er durch ein Spezialkommando des [[Ministerium für Staatssicherheit|Ministeriums für Staatssicherheit]] erschossen.

Die Selbstschussanlagen wurden seit 1970 an der DDR-Grenze zur Bundesrepublik (nicht an der [[Berliner Mauer]]) installiert und auf bundesdeutschen Druck ab 1983 wieder abgebaut. Bis zum Abbau waren auf 440&nbsp;km der innerdeutschen Grenze ca. 60.000 SM-70 im Einsatz („SM“ für „Splittermine“). Die offizielle DDR-Bezeichnung lautete „kegelförmige Splittermine mit Richtwirkung“ (auch „Anlage 500“ oder „Anlage 501“). Die Installation der Anlagen kostete je Kilometer etwa 100.000 [[Mark (DDR)]].<ref>[http://www.chronik-der-mauer.de/de/chronicle/180385/protokoll-der-45-sitzung-des-nationalen-verteidigungsrates-der-ddr-3-mai-1974-auszug Protokoll der 45. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 3. Mai 1974]</ref> Bis 1977/78 verbauten die Grenztruppen die Splittermine SM-70-Anlage 501. Danach installierten sie den verbesserten Typ Splittermine SM-70-Anlage 701 (mit Plastekasten) an den Grenzzäunen.<ref name=SM70>Jürgen Ritter, Peter Joachim Lapp: ''Die Grenze: ein deutsches Bauwerk.'' Ch. Links Verlag. S. 105.</ref>

Grenztruppen der DDR demontierten am 30. November 1984 die letzten Splitterminen an der innerdeutschen Grenze.<ref>[http://www.hdg.de/lemo/html/1984/index.html Deutsches Historisches Museum: ''Chronik 1984''], abgefragt am 29. November 2009</ref> Von 1970 bis 1984 verloren etwa zehn Menschen durch sie ihr Leben.

Auch nach dem Abbau der Selbstschussanlagen blieb die innerdeutsche Grenze praktisch undurchdringlich, weil die DDR sie inzwischen aufwändig verstärkt hatte.<ref name="spiegel">[http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13510051.html Der Spiegel 13/1984] ''Das schafft nur ein Stabhochspringer. - Trotz Abbau der Todesautomaten ist die DDR-Grenze undurchdringlich.''</ref>


=== Funktionsweise ===
=== Funktionsweise ===
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|Quelle=Teilbericht über die taktische Erprobung der Splittermine SM-70 vom 17. August 1971 (VVS-Nr. G/079675)}}
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=== Installation ===
Entwickelt wurde die Selbstschussanlage mit Hilfe des militärtechnischen Institutes VUSTE aus der [[Tschechoslowakei]] ab 1966 in der DDR im [[Volkseigener Betrieb|VEB]] Chemiewerk [[Oranienbaum#Kapen|Kapen]] (dieser Standort war bereits ab 1936 als Munitionsfabrik genutzt worden), wo die SM-70 auch hergestellt wurde.<ref>[[Jochen Staadt]]: ''Ihr verdammten Schweine. Über die Einführung und den Abbau der tödlichen Splitterminen an der innerdeutschen Grenze entschied DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker souverän.'' In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. August 2017, S. 6.</ref> Als Geschosse wurden in Kapen während der Erprobungsphase zunächst Metallkugeln verwendet. Diese wurden „wegen der besseren Treffsicherheit“ durch die noch größere Verletzungen hervorrufenden Metallsplitter ersetzt. Die „versuchsweise Einführung“ (Erprobung) erfolgte 1971 an der innerdeutschen Grenze im Abschnitt [[Salzwedel]]/[[Arendsee (Altmark)|Arendsee]] (DDR) und [[Lüchow (Wendland)|Lüchow]]/[[Prezelle]] (Niedersachsen).
Die Selbstschussanlagen wurden seit 1971 an der DDR-Grenze zur Bundesrepublik (nicht an der [[Berliner Mauer]]) installiert. Aufgrund der Todeserfolge und Verstümmelungserfolge der Anlagen beschloss der [[Nationaler Verteidigungsrat der DDR|Nationale Verteidigungsrat der DDR]] in seiner Sitzung am 14. Juli 1972, dass der weitere pioniertechnische Ausbau der Grenzanlagen, mit besonderem Schwerpunkt auf die Errichtung der „Selbstschussanlagen SM-70“, fortzusetzen ist.<ref>Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): ''Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation'', Bd. 2: ''Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze'', bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, S. 576f.</ref>

Bis zum Abbau 1984 waren 447&nbsp;km der innerdeutschen Grenze mit Selbstschussanlagen gesichert.<ref name="Jochen Staadt" /> Dazu kamen ca. 60.000 SM-70 im Einsatz („SM“ für „Splittermine“). Die offizielle DDR-Bezeichnung lautete „kegelförmige Splittermine mit Richtwirkung“ (auch „Anlage 500“ oder „Anlage 501“). Bis 1977/78 verbauten die Grenztruppen die Splittermine SM-70-Anlage 501. Danach installierten sie den verbesserten Typ Splittermine SM-70-Anlage 701 (mit Plastekasten) an den Grenzzäunen.<ref name=SM70>Jürgen Ritter, Peter Joachim Lapp: ''Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk''. Ch. Links Verlag, Berlin, 7., aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009, S. 105.</ref>

=== Kosten ===
Die Installation der Anlagen kostete je Kilometer etwa 100.000 [[Mark (DDR)]].<ref>[http://www.chronik-der-mauer.de/de/chronicle/180385/protokoll-der-45-sitzung-des-nationalen-verteidigungsrates-der-ddr-3-mai-1974-auszug Protokoll der 45. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 3. Mai 1974]</ref> [[Klaus-Dieter Baumgarten]], der Befehlshaber der Grenztruppen der DDR, bezifferte die Kosten der Installation (ohne Wartung) 1982 mit 376.600 Mark für fünf Kilometer.<ref name="Jochen Staadt" /> Dazu kamen die hohen Betriebskosten. Vom 1. Dezember 1974 bis zum 30. Mai 1982 waren 52.794 Splitterminen detoniert, vor allem durch Wildtiere.<ref name="Jochen Staadt" /> „Nur“ 0,3 % der Detonationen wurden durch „Grenzverletzungen“ ausgelöst, so der Bericht von Baumgarten.

=== Geheimhaltung und Bekanntwerden ===
Die DDR unternahm alles, um die Existenz dieser Tötungsautomaten und die durch sie verursachten Tötungen an der Grenze dem Westen gegenüber zu verheimlichen und zu vertuschen. Die Todesfälle wurden auch der DDR-Öffentlichkeit nicht bekannt gemacht, sodass die Selbstschussanlagen keine Abschreckungswirkung auf Fluchtwillige ausüben konnten.<ref>Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): ''Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation'', Bd. 2: ''Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze'', bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, S. 568.</ref> Insofern haben die Opfer ihren eigenen Tod nicht in Kauf genommen oder selbst verursacht, da die Gefährlichkeit und Existenz der automatischen Tötungsmaschinen im Grenzbereich nicht jedermann bekannt war.

Erste Berichte über Montagearbeiten an den Grenzzäunen erschienen in westdeutschen Zeitungen bereits im Februar 1971, einen Monat nach der Installation der ersten Anlagen.<ref name="Jochen Staadt" /> Die DDR dementierte diese Berichte. Bei einer Tagung von [[Freie Deutsche Jugend|FDJ]]-Funktionären 1973 empörte sich [[Erich Honecker]] über das „Geschrei über Todesmaschinen an der Staatsgrenze, die es gar nicht gibt“.<ref name="Jochen Staadt" /> Nicht mehr abzuleugnen waren und international bekannt wurden die Selbstschussanlagen der DDR, nachdem die ersten Flüchtlinge dadurch verletzt oder getötet worden waren.

Im März und April 1976 demontierte der ehemalige DDR-Bürger [[Michael Gartenschläger]] an der innerdeutschen Grenze erfolgreich zwei Selbstschussanlagen und präsentierte sie im [[Der Spiegel|''Spiegel'']].<ref name="Spiegel 1976/16">[http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-41238170.html ''„Schnell das Ding vom Zaun“''], in: ''Der Spiegel'' vom 12. April 1976.</ref> Die Demontage und Entwendung der Selbstschussanlagen war von westdeutscher Seite aus möglich, weil die Tötungsautomaten an der DDR-wärtigen Grenzzaunseite angebracht waren und es dadurch problemlos möglich war, den Zaun von der Bundesrepublik in Richtung DDR zu überwinden.<ref name="Strafjustiz 560" />

Danach konnte die DDR nicht mehr leugnen, Selbstschussanlagen aufgestellt zu haben. Am 30. April 1976 versuchte Gartenschläger, eine dritte SM-70 zu demontieren. Dabei wurde er durch ein Spezialkommando des [[Ministerium für Staatssicherheit|Ministeriums für Staatssicherheit]] erschossen.

=== Abbau ===
Durch die Selbstschussanlagen erlitt die DDR einen enormen Image-Schaden: Die Selbstschussanlagen der DDR verschossen Stahlsplittergeschosse mit der Wirkung von [[Teilmantelgeschoss|Dum-Dum]]-Geschossen und verstießen grob gegen das [[Völkerrecht]]. Auf internationalen Druck und nachdem [[Franz-Josef Strauß]] der DDR einen Milliarden-Kredit in Aussicht gestellt hatte, wurden die Selbstschussanlagen an den innerdeutschen Grenze ab September 1983 abschnittsweise abgebaut.<ref name=SM70 /> Am 30. November 1984 demontierten Grenztruppen der DDR die letzten Splitterminen an der innerdeutschen Grenze.<ref>[http://www.hdg.de/lemo/html/1984/index.html Deutsches Historisches Museum: ''Chronik 1984''], abgefragt am 29. November 2009</ref>

Auch nach dem der Selbstschussanlagen blieb die innerdeutsche Grenze praktisch undurchdringlich, weil die DDR sie inzwischen aufwändig verstärkt hatte.<ref name="spiegel">[http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13510051.html Der Spiegel 13/1984] ''Das schafft nur ein Stabhochspringer. - Trotz Abbau der Todesautomaten ist die DDR-Grenze undurchdringlich.''</ref>


=== Rechtswidrigkeit ===
=== Rechtswidrigkeit ===
Die DDR-Grenzsoldaten, die die Selbstschussanlagen und Minen installierten und auf Flüchtlinge schossen handelten nach dem Recht der DDR rechtswidrig. Nach dem StGB sind sie Täter des [[Totschlag (Deutschland)|Totschlags]]. Den Befehlsgebern und den für die Tötungsbefehle Verantwortlichen stand kein Rechtfertigungsgrund zur Seite. Die Staatspraxis der DDR nahm die vorsätzliche Tötung von Flüchtlingen in Kauf, womit ein offensichtlicher und unerträglicher Verstoß gegen die elementaren Gebote der Gerechtigkeit und gegen die [[Völkerrecht|völkerrechtlich]] geschützten [[Menschenrechte]] vorlag.<ref>Gerhard Werle, Klaus Marxen, Toralf Rummler, Petra Schäfter: ''Strafjustiz und DDR-Unrecht: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze.'' De Gruyter 2002; Reprint 2012. S. 601.</ref> Wegen der Todesschüsse an der Mauer wurde von der Generalstaatsanwaltschaft der DDR am 5. Dezember 1989 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des mehrfachen Mordes und der mehrfachen Körperverletzung gegen den vormaligen Staats- und Parteichef [[Erich Honecker]] eingeleitet und wegen der „Minensperren“, also den Selbstschussanlagen, am 8. August 1990 erweitert.<ref>Friedrich Wolff: ''Verlorene Prozesse: Meine Verteidigungen in politischen Verfahren.'' Edition Ost, 2015.</ref>
Die DDR-Grenzsoldaten, die die Selbstschussanlagen und Minen installierten und auf Flüchtlinge schossen handelten nach dem Recht der DDR rechtswidrig. Nach dem StGB sind sie Täter des [[Totschlag (Deutschland)|Totschlags]]. Den Befehlsgebern und den für die Tötungsbefehle Verantwortlichen stand kein Rechtfertigungsgrund zur Seite. Die Staatspraxis der DDR nahm die vorsätzliche Tötung von Flüchtlingen in Kauf, womit ein offensichtlicher und unerträglicher Verstoß gegen die elementaren Gebote der Gerechtigkeit und gegen die [[Völkerrecht|völkerrechtlich]] geschützten [[Menschenrechte]] vorlag.<ref>Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): ''Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation'', Bd. 2: ''Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze'', bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, S. 601.</ref> Dem ''[[Übereinkommen über das Verbot oder die Beschränkung des Einsatzes bestimmter konventioneller Waffen, die übermäßige Leiden verursachen oder unterschiedslos wirken können#Protokoll II über Landminen, Sprengfallen und andere Vorrichtungen|Protokoll II über Landminen, Sprengfallen und andere Vorrichtungen]]'' der [[Vereinte Nationen|Vereinten Nationen]] zufolge, dem die DDR 1981 beitrat, waren sie völkerrechtswidrig. Wegen der Todesschüsse an der Mauer wurde von der Generalstaatsanwaltschaft der DDR am 5. Dezember 1989 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des mehrfachen Mordes und der mehrfachen Körperverletzung gegen den vormaligen Staats- und Parteichef Erich Honecker eingeleitet und wegen der „Minensperren“, also den Selbstschussanlagen, am 8. August 1990 erweitert.<ref>Friedrich Wolff: ''Verlorene Prozesse: Meine Verteidigungen in politischen Verfahren.'' Edition Ost, 2015.</ref>

== Frühere Selbstschussanlagen ==
Bis zu ihrem Verbot im 17. Jahrhundert wurde die selbstauslösende [[Legbüchse]] in der Jagd eingesetzt.

[[Erich Lutter]], ein SS-Führer, der das Referat II D 4 („Waffenwesen“) im [[Reichssicherheitshauptamt]] leitete, entwickelte im Auftrag von [[Reinhard Heydrich]] ein Konzept für Selbstschussanlagen an der Umzäunung von [[Konzentrationslager]]n. Dadurch sollten Häftlinge mit geringem Personalaufwand an einer Flucht gehindert werden. Lutters Entwürfe wurden nie verwirklicht. Dem Journalisten Georg Bensch zufolge fielen seine Pläne nach dem Zweiten Weltkrieg den sowjetischen Siegern in die Hände. In der DDR seien Lutters Pläne für die Entwicklung eigener Selbstschussanlagen genutzt worden.<ref name="Spiegel 1976/16" />


== Türkei ==
== Türkei ==
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== Siehe auch ==
== Siehe auch ==
* [[Die Todesautomatik]], Drama über den Tod von Michael Gartenschläger, 2007
* [[Die Todesautomatik]], Drama über den Tod von Michael Gartenschläger, 2007

== Literatur ==
* Jürgen Ritter, [[Peter Joachim Lapp]]: ''Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk''. Ch. Links Verlag, Berlin, 7., aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009, ISBN 978-3-86153-560-7, S. 103–105: ''Selbstschussanlagen / Splitterminen am Grenzzaun''.
* Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): ''Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation'', Bd. 2: ''Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze'', bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, ISBN 3-89949-006-1 (Nachdruck 2012).
* [[Jochen Staadt]]: ''Ihr verdammten Schweine. Über die Einführung und den Abbau der tödlichen Splitterminen an der innerdeutschen Grenze entschied DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker souverän.'' In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. August 2017, S. 6.


== Weblinks ==
== Weblinks ==

Version vom 14. September 2017, 13:47 Uhr

Am Point Alpha ausgestellte Selbstschussanlage SM-70 („Splittermine Modell 1970“).
Nachbau einer SM-70, sichtbar die Anordnung der Spanndrähte.

Eine Selbstschussanlage ist „eine kegelförmige Splittermine mit Richtwirkung“ (offizielle DDR-Bezeichnung), die an der DDR-Grenze eingesetzt wurde. Ab 1971 bis zu Beginn der 1980er Jahre errichtete die DDR an der innerdeutschen Grenze auf einer Länge von etwa 450 Kilometern rund 71.000 Selbstschussanlagen SM-70 am vorderen Metallgitter-Grenzzaun.[1] Deren ausschließlicher Zweck war es, Fluchtversuche aus der DDR zu verhindern, indem sie Menschen beim Betreten oder Durchqueren des Grenzstreifens automatisch schwer verletzten oder töteten.[2]

Das erste Opfer einer Selbstschussanlage war Leo Hoffmann aus Worbis, der am 14. November 1972 in der Nähe von Teistungen zerfetzt wurde.[3] Von 1970 bis 1984 verloren 14 Flüchtlinge durch Selbstschussanlagen ihr Leben.[3] Außerdem kam ein Soldat der Grenztruppen der DDR bei Wartungsarbeiten zu Tode.[3] Das letzte Opfer einer Selbstschussanlage war der 20-jährige Frank Mater, der am 22. März 1984 bei Wendehausen getötet wurde. Etwa 140 Menschen wurden beim Fluchtversuch durch Selbstschussanlagen verletzt.[3]

Innerdeutsche Grenze

Die „Selbstschussanlagen SM-70“ waren jahrelang die vorherrschenden Sicherungselemente der DDR und an der innerdeutschen Grenze zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutsche Demokratische Republik|DDR ausschließlich in die Richtung der DDR ausgerichtet.[4]

Entwicklung

Entwickelt wurde die anfangs als „Schützensplittermine“ (SSM) bezeichnete Selbstschussanlage mit Hilfe des militärtechnischen Institutes VUSTE der Tschechoslowakei. Am 23. Februar 1967 schlossen die Tschechoslowakei und die DDR einen Vertrag über die Entwicklung und Erprobung einer Selbstschussanlage sowie die Lieferung von 100 Prototypen an die DDR.[3] Die DDR zahlte der Tschechoslowakei dafür 700.500 Mark.[3] Gefertigt wurden die nach dem Jahr der geplanten Indienststellung nun „SM-70“ genannten Selbstschussanlagen ab 1969 im VEB Chemiewerk Kapen (dieser Standort war bereits ab 1936 als Munitionsfabrik genutzt worden).[3] Als Geschosse wurden in Kapen während der Erprobungsphase zunächst Metallkugeln verwendet. Diese wurden „wegen der besseren Treffsicherheit“ durch die noch größere Verletzungen hervorrufenden Metallsplitter ersetzt. Die „versuchsweise Einführung“ (Erprobung) erfolgte im Januar 1971 an der innerdeutschen Grenze im Abschnitt Salzwedel/Arendsee (DDR) und Lüchow/Prezelle (Niedersachsen).[3]

Funktionsweise

Schematische Darstellung einer SM-70 mit 3 Spanndrähten (2 „Bird“-Wires, 1 Trip-Wire).

Die Anlagen konnten 80 Stahlsplitter à 4 × 4 mm mit einer Ladung von 110 Gramm TNT-Sprengstoff verschießen; der verbesserte Typ, die Splittermine SM-70-Anlage 701 (mit Plastekasten), verschoss 20 Wälzlagerkugeln à 8 mm mit 98 Gramm TNT/Hexogen. Die Flugreichweite der Splitter und Geschosse lag bei 120 bzw. 280 Metern; die seitliche Streuung betrug 15 bzw. 26 Meter.[5] Die Auslösung erfolgte elektromechanisch durch Spanndrähte am Grenzzaun. Diese Splitterminen waren zunächst einzeln angebracht. Nachdem es Michael Gartenschläger 1976 gelang, von westdeutscher Seite aus zwei SM-70 abzubauen, wurden drei Anlagen gestaffelt in unterschiedlichen Höhen parallel zum Grenzzaun installiert. Die Verletzungswirkung war auf bis zu 120 Meter ausgelegt (maximale Reichweite der Splitter), wobei in unmittelbarer Nähe eine tödliche Wirkung entfaltet wurde.

Zitat aus dem Teilbericht über die taktische Erprobung der Splittermine vom 17. August 1971 (VVS-Nr. G/079675):

„Die SM-70 ist eine Mine mit richtungsgebundener Wirkung unter Teilausnutzung des kumulativen Effektes.
Der Minenkörper besteht aus einem kegelförmigen Blechmantel mit eingesetztem Presskörper TNT. Zwischen den Wandungen sind Splitter (ca. 110 Stahlwürfel) eingebracht.
Nach erfolgter Detonation breitet sich eine kegelförmige Splittersäule aus, deren Mittelachse richtungsgleich zu der vor der Detonation bestehenden Körperachse der Mine verläuft.
Die kinetische Energie der Splittermine reicht aus, um mit Sicherheit Personen unschädlich zu machen, die versuchen, den Sperrbereich der SM-70 zu durchbrechen.
Die Auslösung der SM-70 erfolgt auf mechanisch-elektrischem Wege. Bei Belastung bzw. Zerschneiden des Spanndrahtes wird ein Signal- und Zündstromkreis geschlossen.
Im Verlauf der Truppenerprobung hat sich der mit SM-70 ausgebaute Sperrzaun als wirksame Grenzsicherungsanlage erwiesen.“

Kollegiumsvorlage Nr. 23/71 des Ministeriums für Nationale Verteidigung

„Die Splitterwirkung an den beschossenen Wildarten: Reh-, Schwarz- und Federwild lässt den sicheren Schluss zu, dass durch SM-70 geschädigte Grenzverletzer tödliche bzw. so schwere Verletzungen aufweisen, dass sie nicht mehr in der Lage sind, den Sperrzaun zu überwinden.“

Teilbericht über die taktische Erprobung der Splittermine SM-70 vom 17. August 1971 (VVS-Nr. G/079675)

Installation

Die Selbstschussanlagen wurden seit 1971 an der DDR-Grenze zur Bundesrepublik (nicht an der Berliner Mauer) installiert. Aufgrund der Todeserfolge und Verstümmelungserfolge der Anlagen beschloss der Nationale Verteidigungsrat der DDR in seiner Sitzung am 14. Juli 1972, dass der weitere pioniertechnische Ausbau der Grenzanlagen, mit besonderem Schwerpunkt auf die Errichtung der „Selbstschussanlagen SM-70“, fortzusetzen ist.[6]

Bis zum Abbau 1984 waren 447 km der innerdeutschen Grenze mit Selbstschussanlagen gesichert.[3] Dazu kamen ca. 60.000 SM-70 im Einsatz („SM“ für „Splittermine“). Die offizielle DDR-Bezeichnung lautete „kegelförmige Splittermine mit Richtwirkung“ (auch „Anlage 500“ oder „Anlage 501“). Bis 1977/78 verbauten die Grenztruppen die Splittermine SM-70-Anlage 501. Danach installierten sie den verbesserten Typ Splittermine SM-70-Anlage 701 (mit Plastekasten) an den Grenzzäunen.[5]

Kosten

Die Installation der Anlagen kostete je Kilometer etwa 100.000 Mark (DDR).[7] Klaus-Dieter Baumgarten, der Befehlshaber der Grenztruppen der DDR, bezifferte die Kosten der Installation (ohne Wartung) 1982 mit 376.600 Mark für fünf Kilometer.[3] Dazu kamen die hohen Betriebskosten. Vom 1. Dezember 1974 bis zum 30. Mai 1982 waren 52.794 Splitterminen detoniert, vor allem durch Wildtiere.[3] „Nur“ 0,3 % der Detonationen wurden durch „Grenzverletzungen“ ausgelöst, so der Bericht von Baumgarten.

Geheimhaltung und Bekanntwerden

Die DDR unternahm alles, um die Existenz dieser Tötungsautomaten und die durch sie verursachten Tötungen an der Grenze dem Westen gegenüber zu verheimlichen und zu vertuschen. Die Todesfälle wurden auch der DDR-Öffentlichkeit nicht bekannt gemacht, sodass die Selbstschussanlagen keine Abschreckungswirkung auf Fluchtwillige ausüben konnten.[8] Insofern haben die Opfer ihren eigenen Tod nicht in Kauf genommen oder selbst verursacht, da die Gefährlichkeit und Existenz der automatischen Tötungsmaschinen im Grenzbereich nicht jedermann bekannt war.

Erste Berichte über Montagearbeiten an den Grenzzäunen erschienen in westdeutschen Zeitungen bereits im Februar 1971, einen Monat nach der Installation der ersten Anlagen.[3] Die DDR dementierte diese Berichte. Bei einer Tagung von FDJ-Funktionären 1973 empörte sich Erich Honecker über das „Geschrei über Todesmaschinen an der Staatsgrenze, die es gar nicht gibt“.[3] Nicht mehr abzuleugnen waren und international bekannt wurden die Selbstschussanlagen der DDR, nachdem die ersten Flüchtlinge dadurch verletzt oder getötet worden waren.

Im März und April 1976 demontierte der ehemalige DDR-Bürger Michael Gartenschläger an der innerdeutschen Grenze erfolgreich zwei Selbstschussanlagen und präsentierte sie im Spiegel.[9] Die Demontage und Entwendung der Selbstschussanlagen war von westdeutscher Seite aus möglich, weil die Tötungsautomaten an der DDR-wärtigen Grenzzaunseite angebracht waren und es dadurch problemlos möglich war, den Zaun von der Bundesrepublik in Richtung DDR zu überwinden.[4]

Danach konnte die DDR nicht mehr leugnen, Selbstschussanlagen aufgestellt zu haben. Am 30. April 1976 versuchte Gartenschläger, eine dritte SM-70 zu demontieren. Dabei wurde er durch ein Spezialkommando des Ministeriums für Staatssicherheit erschossen.

Abbau

Durch die Selbstschussanlagen erlitt die DDR einen enormen Image-Schaden: Die Selbstschussanlagen der DDR verschossen Stahlsplittergeschosse mit der Wirkung von Dum-Dum-Geschossen und verstießen grob gegen das Völkerrecht. Auf internationalen Druck und nachdem Franz-Josef Strauß der DDR einen Milliarden-Kredit in Aussicht gestellt hatte, wurden die Selbstschussanlagen an den innerdeutschen Grenze ab September 1983 abschnittsweise abgebaut.[5] Am 30. November 1984 demontierten Grenztruppen der DDR die letzten Splitterminen an der innerdeutschen Grenze.[10]

Auch nach dem der Selbstschussanlagen blieb die innerdeutsche Grenze praktisch undurchdringlich, weil die DDR sie inzwischen aufwändig verstärkt hatte.[11]

Rechtswidrigkeit

Die DDR-Grenzsoldaten, die die Selbstschussanlagen und Minen installierten und auf Flüchtlinge schossen handelten nach dem Recht der DDR rechtswidrig. Nach dem StGB sind sie Täter des Totschlags. Den Befehlsgebern und den für die Tötungsbefehle Verantwortlichen stand kein Rechtfertigungsgrund zur Seite. Die Staatspraxis der DDR nahm die vorsätzliche Tötung von Flüchtlingen in Kauf, womit ein offensichtlicher und unerträglicher Verstoß gegen die elementaren Gebote der Gerechtigkeit und gegen die völkerrechtlich geschützten Menschenrechte vorlag.[12] Dem Protokoll II über Landminen, Sprengfallen und andere Vorrichtungen der Vereinten Nationen zufolge, dem die DDR 1981 beitrat, waren sie völkerrechtswidrig. Wegen der Todesschüsse an der Mauer wurde von der Generalstaatsanwaltschaft der DDR am 5. Dezember 1989 ein Ermittlungsverfahren wegen des Verdachts des mehrfachen Mordes und der mehrfachen Körperverletzung gegen den vormaligen Staats- und Parteichef Erich Honecker eingeleitet und wegen der „Minensperren“, also den Selbstschussanlagen, am 8. August 1990 erweitert.[13]

Frühere Selbstschussanlagen

Bis zu ihrem Verbot im 17. Jahrhundert wurde die selbstauslösende Legbüchse in der Jagd eingesetzt.

Erich Lutter, ein SS-Führer, der das Referat II D 4 („Waffenwesen“) im Reichssicherheitshauptamt leitete, entwickelte im Auftrag von Reinhard Heydrich ein Konzept für Selbstschussanlagen an der Umzäunung von Konzentrationslagern. Dadurch sollten Häftlinge mit geringem Personalaufwand an einer Flucht gehindert werden. Lutters Entwürfe wurden nie verwirklicht. Dem Journalisten Georg Bensch zufolge fielen seine Pläne nach dem Zweiten Weltkrieg den sowjetischen Siegern in die Hände. In der DDR seien Lutters Pläne für die Entwicklung eigener Selbstschussanlagen genutzt worden.[9]

Türkei

Die Türkei errichtet wegen des Krieges in Syrien an ihrer dortigen Grenze zu Syrien einen Zaun. Im Februar 2016 berichteten Medien, an dem Zaun seien auch Selbstschussanlagen geplant.[14][veraltet]

Siehe auch

Literatur

  • Jürgen Ritter, Peter Joachim Lapp: Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk. Ch. Links Verlag, Berlin, 7., aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009, ISBN 978-3-86153-560-7, S. 103–105: Selbstschussanlagen / Splitterminen am Grenzzaun.
  • Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Bd. 2: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, ISBN 3-89949-006-1 (Nachdruck 2012).
  • Jochen Staadt: Ihr verdammten Schweine. Über die Einführung und den Abbau der tödlichen Splitterminen an der innerdeutschen Grenze entschied DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker souverän. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. August 2017, S. 6.
Commons: SM-70 – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Jürgen Ritter, Peter Joachim Lapp: Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk. Ch. Links Verlag, Berlin, 7., aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009, S. 103.
  2. Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Bd. 2: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, S. 553.
  3. a b c d e f g h i j k l m Jochen Staadt: Ihr verdammten Schweine. Über die Einführung und den Abbau der tödlichen Splitterminen an der innerdeutschen Grenze entschied DDR-Staats- und Parteichef Erich Honecker souverän. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. August 2017, S. 6.
  4. a b Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Bd. 2: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, S. 560.
  5. a b c Jürgen Ritter, Peter Joachim Lapp: Die Grenze. Ein deutsches Bauwerk. Ch. Links Verlag, Berlin, 7., aktualisierte und erweiterte Aufl. 2009, S. 105.
  6. Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Bd. 2: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, S. 576f.
  7. Protokoll der 45. Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates der DDR vom 3. Mai 1974
  8. Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Bd. 2: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, S. 568.
  9. a b „Schnell das Ding vom Zaun“, in: Der Spiegel vom 12. April 1976.
  10. Deutsches Historisches Museum: Chronik 1984, abgefragt am 29. November 2009
  11. Der Spiegel 13/1984 Das schafft nur ein Stabhochspringer. - Trotz Abbau der Todesautomaten ist die DDR-Grenze undurchdringlich.
  12. Klaus Marxen, Gerhard Werle (Hg.): Strafjustiz und DDR-Unrecht. Dokumentation, Bd. 2: Gewalttaten an der deutsch-deutschen Grenze, bearbeitet von Toralf Rummler und Petra Schäfter. De Gruyter, Berlin 2002, S. 601.
  13. Friedrich Wolff: Verlorene Prozesse: Meine Verteidigungen in politischen Verfahren. Edition Ost, 2015.
  14. NZZ.ch: Betonblöcke und Selbstschussanlagen