Prospektiv (Grammatik)

Der (oder das) Prospektiv (von lat. prospicere „in die Ferne schauen, vorhersehen“) ist in der Grammatik eine Kategorie des Verbs, meist eine Hilfsverbkonstruktion, die relativ zu einem gegebenen Zeitpunkt ein dazu zukünftiges Ereignis angibt. Die Bedeutung ähnelt also dem Futur, es handelt sich aber nicht, wie beim Futur, um ein Tempus, sondern um einen Aspekt bzw. ein Relativtempus. Das bedeutet, dass die prospektive Aussage wiederum mit einem Tempus versehen wird. Im Ergebnis wird eine Beziehung zwischen Betrachtzeit und späterem Ereignis ausgedrückt, die als ganze in der Gegenwart oder in der Vergangenheit verankert werden kann. Für den auffälligen Untertyp der Verankerung in der Vergangenheit ist auch die Bezeichnung Futurum praeteriti geprägt worden („Futur der Vergangenheit“).

Ein Prospektiv in diesem Sinn sind deutsche Konstruktionen mit sollte oder würde, die von einem vergangenen Zeitpunkt als Betrachtzeit ausgehen. Beispiel: „Kolumbus glaubte (damals), er hätte die Ostküste Indiens erreicht. Das sollte sich aber (später) als Irrtum erweisen.“ Prospektiv-Konstruktionen im Englischen sind: „She is going to do something / She was going to do something...“.

Neben der aspektuellen Kategorie des Prospektivs im engeren Sinn wird der Ausdruck „prospektiv“ in der Sprachwissenschaft aber auch für andersartige Bedeutungen verwendet, wo es um einen Bezug auf Zukünftiges geht, zum Beispiel für die zukunftsgerichtete Bedeutung der perfektiven Verbform im Russischen[1] oder für den sogenannten Konjunktiv der Erwartung im Altgriechischen.[2]

Prospektiv als Relativtempus

In erster Annäherung kann der Prospektiv als eine Kategorie aufgefasst werden, die spiegelbildlich zum Perfekt ist (wenngleich die beiden sich nicht in jeder Hinsicht symmetrisch verhalten).[3] Das Perfekt hat zwar eine Vielzahl von möglichen Bedeutungen, aber in einer Lesart kann es als Relativtempus beschrieben werden:[4] Es betrachtet dann einen Zeitpunkt, zu dem ein Rückblick auf ein schon abgeschlossenes Ereignis erfolgt (das noch relevant ist). In Umkehrung dazu betrachtet der Prospektiv einen Zeitpunkt, zu dem eine Vorausschau auf ein bevorstehendes Ereignis erfolgt (das schon relevant ist).

Das Perfekt als ein solches Relativtempus kann von der Gegenwart aus auf ein früheres Ereignis zurückgreifen (Präsensperfekt) oder von einer vergangenen Betrachtzeit aus auf eine noch frühere Zeit (Plusquamperfekt). Parallel hierzu kann ein Prospektiv im Prinzip ebenso mit verschiedenen Tempora kombiniert werden, allerdings sind die deutschen sollte / würde-Konstruktionen auf die Vergangenheit beschränkt. Im Englischen und Französischen existieren jedoch Prospektiv-Konstruktionen, die mit Präsens oder einem Vergangenheitstempus verbunden werden können. Der zeitliche Rückgriff des Perfekts kann außerdem auch an einem zukünftigen Zeitpunkt verankert werden (Futur exakt); der entsprechende Fall ist bei der Prospektivkonstruktion deutlich seltener, aber im Prinzip auch möglich. Diese verschiedenen Möglichkeiten werden im nächsten Abschnitt genauer dargestellt.

Beispiele in anderen Sprachen

Englisch und Französisch

Die Prospektivkonstruktionen des Englischen und Französischen sind in vieler Hinsicht parallel. Beide beruhen auf einem Gebrauch des Verbs für „gehen“ (engl. go, frz. aller) als Hilfsverb. Dieses Hilfsverb wird stets in einem imperfektiven Aspekt verwendet, also im Englischen in der Verlaufsform (continuous form), im Französischen im Imparfait. Ein Unterschied ist, dass das Englische das zukünftige Ereignis mit der Präposition to einführt, also wie ein metaphorisches Ziel einer Bewegung, wogegen das französische Hilfsverb sich mit dem bloßen Infinitiv verbindet.

  • Englisch:
go → Verlaufsform be going
Präsens: He is going to make a cake „Er wird / will einen Kuchen backen“.
Past: He was going to make a cake „Er würde / wollte dann einen Kuchen backen.“
  • Französisch
aller → Präsens (il) va etc., Imperfekt (il) allait (etc.)
Präsens: Il va se réveiller „Er wird aufwachen“
Imperfekt: Il allait se réveiller „Er würde (dann) aufwachen“

Die Tatsache, dass nur eine unvollendete Aspektform zur Verfügung steht, ist auffällig, da das Französische eine große Zahl an Konjugationsformen des Verbs besitzt, aber alle anderen ausgeschlossen sind: so die einfache Vergangenheit (passé simple, * Il alla se réveiller) und das Futur (* Il ira se réveiller), aber auch der Subjunktiv (subjonctif, * qu'il aille se réveiller) und der Konditional (* Il irait se réveiller). Dies steht im Gegensatz zu umschreibenden Formulierungen für bevorstehende Ereignisse, die diese gesamte Formenreihe durchgängig erlauben, einschließlich des Futurs: Il {était / fut / sera / soit / serait } sur le point de se réveiller[5] (vgl. deutsch etwa: „Er war (etc.) drauf und dran, zu erwachen“).

In beiden Sprachen ist die Bedeutung der Konstruktion mit go bzw. aller gegen das Futur abzugrenzen. Die französische Konstruktion wird als ein „nahes Futur“ bezeichnet,[6] die englische Konstruktion nimmt mit belebten Subjekten, insbesondere der 1. Person, eine Bedeutungsnuance von Absicht an. Bei unbelebten Subjekten kann die Interpretation sein, dass die Betrachtzeit bereits Anzeichen eines kommenden Ereignisses enthält.[7] Zum Beispiel erschließt man aus dem Satz: The ladder is going to fall („Die Leiter fällt gleich um!“), dass sie bereits jetzt nicht stabil steht.[8]

Bulgarisch

Das Bulgarische besitzt ein außerordentlich reiches Inventar an Verbformen. Darunter findet sich eine Konstruktion, die ein Verb mit der ursprünglichen Bedeutung „wollen“ (šta) als Prospektiv-Hilfsverb verwendet. Dieses Hilfsverb erscheint wiederum im Imperfekt (markiert als IPF) (einer Form für nicht abgeschlossene Vergangenheit), welches an einen zusätzlich als imperfektiv (IMPFV) markierten Verbstamm tritt.[9]

Toj čakaše         pred  sgradata,  kădeto šteše          po-kăsno  da raboti.
er wartete.impfv.ipf vor  Gebäude.def  wo     wollte.impfv.ipf später    ptc arbeitet
„Er wartete vor dem Gebäude, wo er später arbeiten würde/sollte.“

Die Beschränkung auf Imperfekt-Formen des Hilfsverbs motiviert die übliche Bezeichnung Futurum praeteriti für diese Form. Die prospektive Konstruktion erscheint jedoch weniger grammatikalisiert als die anderen Zeitformen des Bulgarischen, insbesondere dient eine aus šta abgeleitete unveränderliche Form šte als Markierung des Futurtempus, wogegen šta als prospektives Hilfsverb Konjugationsformen besitzt.[10]

Der Befund, dass der Prospektiv weniger grammatikalisiert ist als andere Zeitformen, ist auch für andere Sprachen festgestellt worden.[11]

Maltesisch

Die semitische Sprache Maltesisch besitzt eine Partikel sa zum Ausdruck des Prospektivs. Hier findet sich nun auch der seltene Fall, dass ein Prospektiv (unten als PROSP markiert) am Futur verankert sein kann. Er bezeichnet dann ein Ereignis, das einer zukünftigen Betrachtzeit nachfolgt:[12]

Jien in-kun sa   n-ibda          meta t-asl-u        ghada
 ich 1sg-fut prosp 1sg-anfangen:ipfv  wenn 2-kommen:ipfv-pl morgen
„Ich werde dann bald anfangen, wenn du morgen kommst.“
(Englische Wiedergabe in der Quelle: „I will be about to start when you come tomorrow“)

Literatur

Einzelnachweise

  1. Das Metzler-Lexikon Sprache nennt nur diese Bedeutung: Helmut Glück (Hrsg.): Metzler Lexikon Sprache. 4. aktualisierte u. überarbeitete Auflage. Verlag J. B. Metzler, Stuttgart u. Weimar 2010, ISBN 978-3-476-02335-3. Lemma: „Prospektiv“, S. 539.
  2. Helena Kurzová: Altgriechisch (Indogermanisch). In: Geert Booj et al. (eds.): Morphology. An International Handbook on Inflection and Word-Formation. Walter de Gruyter, Berlin 2004. Vol.2, S. 1310–1327. – Siehe S. 1318, §4.2.3. Modus.
  3. Vgl. Comrie (1976), S. 64f.
  4. Dies vertritt besonders Wolfgang Klein (1994).
  5. Olivier Bonami: Periphrasis as collocation. In: Morphology, Vol. 25, 2015. S. 63–110. doi:10.1007/s11525-015-9254-3. Siehe S. 76.
  6. Bonami (2015: 76)
  7. So auch Comrie (1976), S. 64f.
  8. Kees Hengeveld: The grammaticalization of tense and aspect. In: Bernd Heine, Heiko Narrog (eds.): The Oxford Handbook of Grammaticalization. Oxford University Press 2011. S. 580–594.
  9. Beispiel zitiert aus: Hagen Pitsch: Die Aorist/Imperfekt-Distinktion im Bulgarischen: Form, Bedeutung, Markiertheit. Ms., Universität Göttingen 2020. doi:10.13140/RG.2.2.17120.51207, dort zitiert aus Hilmar Walter, Elga Georgieva Karvanbasieva: Lehrbuch der bulgarischen Sprache. Verlag Enzyklopädie, Leipzig 1987. S. 342.
  10. Hagen Pitsch (2020), S. 16
  11. Robert Binnick: Temporality and aspectuality. = Kap. 42 in: Martin Haspelmath, Ekkehard König, Wulf Oesterreicher, Wolfgang Raible (Hrsg.): Language Typology and Language Universals. An International Handbook. ( = Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft (HSK), 20). Walter de Gruyter, Berlin 2001. ISBN 3-11-011423-2. Vol. 1, S. 557–567. – Siehe S. 559
  12. Ray Fabri: The Tense and Aspect System of Maltese. In Rolf Thieroff (ed.): Tense Systems in European Languages. Vol. II. Max Niemeyer Verlag, Tübingen 1995. S. 327–344. – Siehe S. 339.