„Neoliberalismus“ – Versionsunterschied

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In Anlehnung an [[Egon Tuchtfeldt]] kann der Neoliberalismus in ''Gesellschaftlich orientierte Varianten'' (Ordoliberalismus und Soziologischer Liberalismus) und ''Individualistisch orientierte Varianten'' (Österreichische Schule, Londoner Schule, Chicago School) unterschieden werden. Die ''Gesellschaftlich orientierte Varianten'' sehen eine besondere Verpflichtung der Gemeinschaft, diejenigen Gesellschaftsmitglieder aufzufangen, die unverschuldet in eine Notlage gelangen.<ref>Jan Hegner, Alexander Rüstow-Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland, Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart, 2000, ISBN 3-8282-0113-X, Seite 8</ref>
In Anlehnung an [[Egon Tuchtfeldt]] kann der Neoliberalismus in ''Gesellschaftlich orientierte Varianten'' (Ordoliberalismus und Soziologischer Liberalismus) und ''Individualistisch orientierte Varianten'' (Österreichische Schule, Londoner Schule, Chicago School) unterschieden werden. Die ''Gesellschaftlich orientierte Varianten'' sehen eine besondere Verpflichtung der Gemeinschaft, diejenigen Gesellschaftsmitglieder aufzufangen, die unverschuldet in eine Notlage gelangen.<ref>Jan Hegner, Alexander Rüstow-Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland, Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart, 2000, ISBN 3-8282-0113-X, Seite 8</ref>


In den 1960er Jahren geriet der Begriff ''Neoliberalismus'' zunehmend in Vergessenheit, es gibt seitdem keinen Kreis von Wissenschaftlern, der sich selbst als neoliberal bezeichnet. In den 1970er Jahren wurde der Ausdruck ''Neoliberalismus'' wieder aufgegriffen und erfuhr einen Bedeutungswandel. Oppositionelle Wissenschaftler in Chile versahen ihn mit einer negativen Konnotation und kritisierten damit die von den Ideen der [[Chicagoer Schule]] beeinflussten [[Wirtschaft Chiles#Wirtschaftsliberale Wende|radikalen Reformen]] unter [[Augusto Pinochet|Pinochet]].<ref>According to Oscar Muñoz, one of the first opposition economists to use the term in academic writing, Chilean scholars’ use of neoliberism was not a specific reference to the German neoliberals or any other theoretical revision of liberalism. Rather, it described the new “market fundamentalism” being implemented in Chile—one which differed from classical liberalism because it dispensed with political liberty, which classical liberalism (as well as the philosophy of Hayek) had always seen as inseparable from economic freedom. Characterizing Pinochet’s project as neoliberal did not imply cognitive dissonance. Moreover, Muñoz notes that in the polarized political climate of the 1970s, opposition scholars intentionally imbued the term with pejorative connotations, and using it constituted a “fairly open and blunt criticism” of the government’s radical reforms. Quelle: {{Literatur | Autor=Taylor C. Boss und Jordan Gans-Morse | Titel=Neoliberalism: From New Liberal Philosophy to Anti-Liberal Slogan | Sammelwerk=Studies in Comparative International Development | Band=44 | Nummer=2 | Jahr=2009 | ISSN=0039-3606 | Seiten=151 | DOI=10.1007/s12116-009-9040-5}}</ref> Heute werden mit dem Begriff Neoliberalismus häufig [[Ökonomismus|ökonomistisch]] verengte libertäre Minimalstaatskonzeptionen bezeichnet.<ref>Andreas Renner: Die zwei Neoliberalismen, in: Ingo Pies, Martin Leschke, Walter Euckens Ordnungspolitik, Mohr Siebeck, 2002, ISBN 3-16-147919-X, S. 176</ref>
In den 1960er Jahren geriet der Begriff ''Neoliberalismus'' zunehmend in Vergessenheit, es gibt seitdem keinen Kreis von Wissenschaftlern, der sich selbst als neoliberal bezeichnet. In den 1970er Jahren wurde der Ausdruck ''Neoliberalismus'' wieder aufgegriffen und erfuhr einen Bedeutungswandel. Oppositionelle Wissenschaftler in Chile versahen ihn mit einer negativen Konnotation und kritisierten damit die von den Ideen der [[Chicagoer Schule]] beeinflussten [[Wirtschaft Chiles#Wirtschaftsliberale Wende|radikalen Reformen]] unter [[Augusto Pinochet|Pinochet]].<ref>According to Oscar Muñoz, one of the first opposition economists to use the term in academic writing, Chilean scholars’ use of neoliberism was not a specific reference to the German neoliberals or any other theoretical revision of liberalism. Rather, it described the new “market fundamentalism” being implemented in Chile—one which differed from classical liberalism because it dispensed with political liberty, which classical liberalism (as well as the philosophy of Hayek) had always seen as inseparable from economic freedom. Characterizing Pinochet’s project as neoliberal did not imply cognitive dissonance. Moreover, Muñoz notes that in the polarized political climate of the 1970s, opposition scholars intentionally imbued the term with pejorative connotations, and using it constituted a “fairly open and blunt criticism” of the government’s radical reforms. Quelle: {{Literatur | Autor=Taylor C. Boss und Jordan Gans-Morse | Titel=Neoliberalism: From New Liberal Philosophy to Anti-Liberal Slogan | Sammelwerk=Studies in Comparative International Development | Band=44 | Nummer=2 | Jahr=2009 | ISSN=0039-3606 | Seiten=151 | DOI=10.1007/s12116-009-9040-5}}</ref> Seither wird der Ausdruck ''Neoliberalismus'' zumeist von Kritikern eines [[Wirtschaftsliberalismus|wirtschaftlichen Liberalismus]] verwendet, oft ohne Definition und zur Charakterisierung unterschiedlichster Phänomene. Statt die Abgrenzung des neuen, moderaten Liberalismus vom [[Laissez-faire]] zu kennzeichnen, wird das Präfix neo- auch im akademischen Kontext daher häufig gleichbedeutend mit radikal und zur Abwertung der Gedankengebäude Friedrich von Hayeks und Milton Friedmans gebraucht.


== Geschichte und Entwicklung ==
== Geschichte und Entwicklung ==

Version vom 15. November 2010, 00:40 Uhr

Neoliberalismus (Zusammensetzung aus altgriech. νέος neos neu, und Liberalismus) ist eine Neubelebung des wirtschaftlichen Liberalismus in der Mitte des 20. Jahrhunderts. Wie der Klassische Liberalismus wendet sich der Neoliberalismus gegen ein aktives Eingreifen des Staates in die Wirtschaftsprozesse, fordert aber eine staatliche Ordnungspolitik, die den Wettbewerb fördern und dem Entstehen von privaten Machtpositionen entgegenwirken soll. Betont wird der Zusammenhang von politischer und wirtschaftlicher Freiheit.

Der Begriff Neoliberalismus wird zur Bezeichnung einer breiten, heterogenen Strömung verwandt, wobei die feste Abgrenzung gegenüber anderen Schulen und die Zuordnung einzelner Personen strittig ist. Insbesondere werden die Freiburger Schule (Ordoliberalismus) und die Chicagoer Schule als neoliberale Varianten bezeichnet, aber auch Vertreter der Österreichischen Schule wie Friedrich von Hayek werden als eine weitere Variante dazu gezählt.

Die Sozialen Marktwirtschaft geht von Ideen des Neoliberalismus aus, setzt aber mit größerem Pragmatismus, z.B. hinsichtlich prozesspolitischer Beeinflussung durch Konjunkturpolitik, und ausgeprägterer Sozialpolitik eigene Akzente.[1].

In Anlehnung an Egon Tuchtfeldt kann der Neoliberalismus in Gesellschaftlich orientierte Varianten (Ordoliberalismus und Soziologischer Liberalismus) und Individualistisch orientierte Varianten (Österreichische Schule, Londoner Schule, Chicago School) unterschieden werden. Die Gesellschaftlich orientierte Varianten sehen eine besondere Verpflichtung der Gemeinschaft, diejenigen Gesellschaftsmitglieder aufzufangen, die unverschuldet in eine Notlage gelangen.[2]

In den 1960er Jahren geriet der Begriff Neoliberalismus zunehmend in Vergessenheit, es gibt seitdem keinen Kreis von Wissenschaftlern, der sich selbst als neoliberal bezeichnet. In den 1970er Jahren wurde der Ausdruck Neoliberalismus wieder aufgegriffen und erfuhr einen Bedeutungswandel. Oppositionelle Wissenschaftler in Chile versahen ihn mit einer negativen Konnotation und kritisierten damit die von den Ideen der Chicagoer Schule beeinflussten radikalen Reformen unter Pinochet.[3] Seither wird der Ausdruck Neoliberalismus zumeist von Kritikern eines wirtschaftlichen Liberalismus verwendet, oft ohne Definition und zur Charakterisierung unterschiedlichster Phänomene. Statt die Abgrenzung des neuen, moderaten Liberalismus vom Laissez-faire zu kennzeichnen, wird das Präfix neo- auch im akademischen Kontext daher häufig gleichbedeutend mit radikal und zur Abwertung der Gedankengebäude Friedrich von Hayeks und Milton Friedmans gebraucht.

Geschichte und Entwicklung

Überblick

Bereits im 19. Jahrhundert finden sich vereinzelt Ablehnung sowohl von klassischem Liberalismus und Sozialismus (so nennt Röpke als Vorläufer Jean-Charles-Léonard Simonde de Sismondi, Pierre-Joseph Proudhon, Wilhelm Heinrich Riehl, Pjotr Alexejewitsch Kropotkin und Pierre Guilleaume Fréderic Le Play). Der eigentliche Beginn des Neoliberalismus wird meist auf die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen datiert. Werden Ludwig von Mises, Frank Knight und Edwin Cannan auch meist noch nicht als Vertreter des Neoliberalismus geführt, so war doch insbesondere der Einfluss von Mises’ auf die nachfolgende Generation groß: Seine Kritik an der zentral geplanten Wirtschaft und die monetäre Überinvestitionstheorie aus den 1920er Jahren wurden in liberalen Kreisen weithin rezipiert.[4]

Als erste Schulen, die meist dem Neoliberalismus zugerechnet werden, entstand in den 1930ern die Freiburger Schule, die School of Cannan und die Chicago School. Die europäischen Schulen sind durch die Auseinandersetzung mit Sozialismus, Kommunismus und dem Nationalsozialismus und zugleich in Abgrenzung vom klassischen Liberalismus gekennzeichnet. Sie kritisierten die damaligen Eingriffe des Staates in das Preissystem (etwa den New Deal) und machten Vorschläge für eine Marktwirtschaft bei größtmöglicher Reduzierung wirtschaftlicher Macht.[4]

Bestand zunächst kaum Kontakt zwischen den einzelnen Schulen, änderte sich dies als zahlreiche deutsche und österreichische Neoliberale in den 1930ern wegen der Bedrohung durch den Nationalsozialismus in angelsächsische Länder emigrierten. Als erstes internationales Treffen kam 1938 das Colloque Walter Lippmann in Paris zustande und das Centre International des Études pour la Rénovation du Libéralisme wurde gegründet. Nach dem 2. Weltkrieg vermehrten sich die internationalen Kontakte mit der Gründung der Mont Pèlerin Society 1947. Viele Länder standen nach dem 2. Weltkrieg vor der Frage des zu wählenden Wirtschaftssystems: Zwischen 1945 und 1965 kam der Neoliberalismus so zu seinem größten politischen Einfluss.[4] Akademisch wurden ihre Arbeiten mit den Nobelpreisen für Friedrich von Hayek, Milton Friedman, George Stigler und James M. Buchanan ausgezeichnet.

Deutschland/Österreich

Österreichische Schule

Die Zuordnung der Österreichischen Schule zum Neoliberalismus ist strittig: Sehen einige Autoren ihre Vertreter ab der dritten Generation als typische Vertreter des Neoliberalismus,[5] so bestreiten insbesondere Vertreter der Neo-Austrians die Zugehörigkeit Mises zum Neoliberalismus und sehen seine Lehren in Gegensatz dazu und ordnen ihn dem klassischen Liberalismus zu.[6]

Ludwig von Mises

Mises entwickelte eine streng mikroökonomische Analyse des Interventionismus: In seinen frühen Werke Liberalismus (1927) und Kritik des Interventionismus (1929) untersuchte er staatliche Eingriffe auf ihre Wirksamkeit hin. Er kommt zu dem Ergebnis, dass staatliche Eingriffe niemals das von ihnen selbst gesteckte Ziel erreichen. Stattdessen führten sie zu zunehmender Einschränkung individueller Freiheit durch obrigkeitsstaatliche Anordnung, Verbote und Regulationen. Dies führe zu einem schleichenden Erosionsprozess (vgl. Ölflecktheorem). Er lehnt Mischsysteme deshalb als dauerhaft unmöglich ab. Sein umfassendstes Werk Nationalökonomie. Theorie des Handelns und Wirtschaftens (1940) entwickelt auf Basis des methodologischen Individualismus eine deduktive Theorie menschlichen Handelns.[5]

Friedrich von Hayek

Mises’ Schüler Friedrich von Hayek war in seiner Jugend zunächst fabianischer Sozialist. Unter von Mises’ Einfluss entwickelte dessen Theorien weiter, wenn auch ohne dessen streng deduktive Methode. Die einflussreiche Monographie The Road to Serfdom (1940) wendet sich gegen die von ihm beobachteten zunehmenden sozialistischen Tendenzen in Großbritannien. Ähnliche Tendenzen hätten bereits im Deutschland der 20er und 30er Jahre zum Nationalsozialismus geführt. Galt der Nationalsozialismus insbesondere unter linken Intellektuellen als kapitalistische Bewegung, ordnete ihn Hayek dem Sozialismus zu[5] Beide entstammten der philosophischen Tradition des Kollektivismus, der sich lediglich in ein Mal internationaler ein anderes Mal in nationalistischer Gestalt zeige. Letztlich forderten beide „die Herrschaft über die Mittel für alle unsere Ziele“ und versuchten mit Gewalt die gesamte Gesellschaft auf ein Ziel hin auszurichten. Die Einschränkung der wirtschaftlichen Freiheit sei aber von der Einschränkung politischer Freiheit nicht trennbar, die beiden Ausprägungen des Kollektivismus totalitär.

Schien ihm die Gefahr durch den Sozialismus in den westlichen Ländern durch das Beispiel der Ostblockländer zunehmend gebannt, so sah er mit zunehmender Sorge die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates: In Die Verfassung der Freiheit (1960) widmete er sich deshalb der Auseinandersetzung mit Freiheit des Individuums und deren Verhältnis zu staatlicher Gesetzgebung.[5]

Die Gefährdung individueller Menschenrechte durch eine totalitäre Demokratie wird schließlich in Recht, Gesetzgebung und Freiheit erörtert: Befürwortet er die Demokratie grundsätzlich als utilitaristisches Mittel zur Beschränkung politischer Macht, so führe sie doch nicht als solche zur Bewahrung individueller Freiheit. Er sieht die Gefahr zunehmender Beeinflussung der Politik durch Interessengruppen. Entscheidend sei somit das Verhältnis von demokratischer Entscheidung zu individuellen Menschenrechten, um der Gefahr einer Diktatur der Mehrheit vorzubeugen.

„Der Liberalismus […] sieht die Hauptaufgabe in der Beschränkung der Zwangsgewalt jeder Regierung, sei sie demokratisch oder nicht; der dogmatische Demokrat dagegen kennt nur eine Beschränkung der Staatsgewalt und das ist die Meinung der jeweiligen Majorität.“

Friedrich von Hayek: Die Verfassung der Freiheit: Kapitel 7

Hayek ging davon aus, dass auch in einer Demokratie politische Entscheidungen nur entfernt über Wahlen getroffen würden. Die Richtung sei durch die dominierenden intellektuellen Strömung vorgegeben, die ihre Öffentlichkeitswirksamkeit etwa über Journalisten und Lehrer aufbauen könnte. Die Produzenten der Theorien seien die „Original Thinkers“, während die „Second Hand Dealers“ die Ergebnisse der Ideologieproduktion in der Gesellschaft wirksam werden lassen könnten. Die Rolle der „Second Hand Dealers“ ordnete Hayek den Think-Tanks zu.[7]

Hayek beschäftigte sich auch mit der Frage, wie ihre wirtschaftswissenschaftlichen Positionen einer größeren Zahl von Menschen bekannt gemacht werden könnten und in die politische Realität umsetzbar seien. Friedrich August von Hayek sieht die entscheidende Rolle zum Erreichen dieses Ziels bei den Intellektuellen. Er zeigt sich beeindruckt durch eine Passage aus John Maynard KeynesThe General Theory of Employment, Interest, and Money:

“[…] but he [Keynes] has never said a truer thing than when he wrote […] that ‚the ideas of economists and political philosophers, both when they are right and when they are wrong, are more powerful than is commonly understood. Indeed the world is ruled by little else. Madmen in authority, who hear voices in the air, are destilling their frenzy from some academic scribbler of a few years back.‘”

„[…] aber er [Keynes] sagte nie etwas Wahreres denn als er schrieb, dass ‚die Ideen der Nationalökonomen und Philosophen wirken stärker als allgemein angenommen wird und zwar sowohl, wenn sie recht haben, als wenn sie irren. Tatsächlich wird die Welt kaum von etwas anderem regiert. Wahnsinnige an der Macht, die Stimmen aus dem Äther hören, holen sich ihre Phantasien aus irgendeinem akademischen Schmierer von Jahren vorher.‘“

Friedrich von Hayek[8]

Er gründete 1947 mit 36 Liberalen, darunter Walter Eucken, Milton Friedman, Frank H. Knight, Ludwig von Mises, Karl Popper und Wilhelm Röpke die Denkfabrik Mont Pelerin Society, zu der später auch Ludwig Erhard gehörte. Diese machte sich – neben der Verteidigung von Freiheit und Rechtsstaat – die Förderung von Privateigentum und Wettbewerb zur Aufgabe, die als wesentlich für eine freie Gesellschaft angesehen wurden.[9]

Freiburger Schule (Ordoliberalismus)

Die Zuordnung der Freiburger Schule zum Neoliberalismus ist strittig: Einige Autoren sehen Differenzen zu anderen als neoliberal bezeichneten Schulen, die eine Abgrenzung rechtfertigen würden[5], andere sehen den Ordoliberalismus als spezifisch deutsche Ausformung des Neoliberalismus.

Sie entstand zu Beginn der 1930er Jahre als Juristen und Wirtschaftswissenschaftler unter Leitung Euckens die Buchreihen Probleme der theoretischen Nationalökonomie und Ordnung der Wirtschaft herausgaben. Ihrer Ansicht nach begünstigte das deutsche Recht Kartelle und Monopole; ihre besondere Aufmerksamkeit galt deshalb der Kartellgesetzgebung und der Einschränkung wirtschaftlicher Macht und dem Erhalt des Wettbewerbs. Dies ging in ihre Überlegungen zur wirtschaftlichen Gestaltung Deutschlands nach dem Ende des Nationalsozialismus mit ein. Es bestanden Beziehungen zum Widerstand um Carl Friedrich Goerdeler und dem Freiburger Kreis.[4]

Franz Böhm

Franz Böhm zählt neben Eucken zu den Begründern der Freiburger Schule (auch Ordoliberalismus). Zu seinen wirkungsreichsten Lehren zählt die Analyse der Interdependenz von Rechtsordnung und Wirtschaftsordnung, von Privatrechtsgesellschaft und Marktwirtschaft. Die Privatrechtsgesellschaft zeichnet sich für ihn durch die Trennung von Staat und Gesellschaft aus. Sie bedarf zu ihrer Fortentwicklung der Wettbewerbsordnung. In seinen frühen Schriften vertritt er die Auffassung, vollständigen Wettbewerb durch die Norm der Wettbewerbsordnung konstruktivistisch zu erzwingen. Die späteren Schriften lassen von dieser Forderung ab und beschränken sich auf Wettbewerbsfreiheit in gesetzlichem Rahmen (Freiheit und Ordnung in der Marktwirtschaft).[5]

Walter Eucken
Walter Eucken

Eucken verhalf dem Denken in Ordnungsmodellen in Deutschland zu Durchbruch. In seinen Grundlagen der Nationalökonomie (1940) versuchten die bis dahin noch in Deutschland vorherrschende Trennung von theoretischer (angelsächischer) Ökonomie und der in Deutschland noch vorherrschenden historischen Methode durch "pointiert hervorhebende Abstraktion" zu überwinden. Als Ergebnis gewinnt er zwei Grundtypen idealtypischer Wirtschaftssysteme: Die Zentralverwaltungs- und Verkehrswirtschaft. In den Grundsätzen der Wirtschaftspolitik (1952) bringt er diese Modelle mit realen Wirtschaftsordnungen in Verbindung. Mischmodelle lehnt ihres Mangels an leitenden Prinzipien wegen ab. Er entwickelt anhand dieser Modelle ein Wirtschaftssystem vollständiger Konkurrenz und zeigt auf, wie es real zu verwirklichen wäre. Nur durch permanenten Wettbewerb sei es möglich wirtschaftliche Macht und individuelle Freiheit in Einklang zu bringen.[5]

Die von Eucken aufgestellten Leitlinien wurden in der Sozialen Marktwirtschaft, wie sie Ludwig Erhard (1949–1963 Bundeswirtschaftsminister, 1963–1966 Bundeskanzler) durchgesetzt hat, beispielhaft verdichtet.[10] Somit gilt Eucken als der theoretische Vordenker der Sozialen Marktwirtschaft.[11]

„Wenn nämlich jemals eine Theorie die Zeichen der Zeit richtig zu deuten wußteund einer ihren Erkenntnissen gemäßen Wirtschafts-und Gesellschaftspolitik neue Impulse gab, dann waren es die Gedanken der Männer, die heute als Neo- oder Ordoliberale gelten. Sie haben der Wirtschaftspolitik immer mehr gesellschaftspolitische Akzente verliehen und sie aus der Isolierung eines mechanistisch-rechenhaften Denkens gelöst.“

Ludwig Erhard[12]

Ab 1948 gab er die Zeitschrift ORDO – Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft heraus.

Das Walter Eucken Institut an der Universität Freiburg, das sich der ordnungspolitischen Grundlagenforschung verschrieben hat, ist nach ihm benannt. Anlässlich seines 50. Todestages wurde die Stiftung Ordnungspolitik gegründet.

Weitere Vertreter der Freiburger Schule

Weitere Vertreter der Freiburger Schule sind Hans Grossmann-Doerth, Hans Gestrich, Bernhard Pfister, Constantin von Dietze, Friedrich A. Lutz, Fritz W. Meyer, Karl Friedrich Maier, Leonhard Miksch, Adolf Lampe und Rudolf Johns. Eng mit ihr verbunden sind darüber hinaus Erwin von Beckerath, Günter Schmölders und Heinrich Freiherr von Stackelberg.[4]

Soziologischer Liberalismus

Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke
Alexander Rüstow prägte 1938 den Begriff Neoliberalismus

Beschäftigte sich die Freiburger Schule hauptsächlich mit der Beschränkung wirtschaftlicher Macht, richtete sich der Blick bei Rüstow und Röpke auch auf soziologische Probleme, etwa der sozialen Kohäsion ("sozialer Ausgleich") und Vermassung.[13] Das Instrumentarium des Ordoliberalismus wird deshalb um soziale Interventionen erweitert. Die Marktwirtschaft dient dabei als Mittel zu Verwirklichung christlich-humanistischer Ethik.

„Das Maß der Wirtschaft ist der Mensch. Das Maß des Menschen ist sein Verhältnis zu Gott.“

Wilhelm Röpke[5]

Die Wirtschaftsordnung ist für Röpke nur ein Teil einer Gesellschaftsordnung: Aufgabe der Gesellschaftsordnung sei es, der Entwurzelung des Menschen entgegenzuwirken und so der menschlichen Anfälligkeit für kollektivistische Strömungen entgegenzuwirken. Früh erkannte er Tendenzen zum modernen Wohlfahrtsstaat kollektivistischer Prägung, die er eindringlich kritisierte. Rökpe sah sein Konzept als "Dritten Weg" zwischen Liberalismus und Kollektivismus an.

Im September 1932 umriss Alexander Rüstow auf einer Tagung des Vereins für Socialpolitik das neue liberale Credo:

„Der neue Liberalismus jedenfalls, der heute vertretbar ist, und den ich mit meinen Freunden vertrete, fordert einen starken Staat, einen Staat oberhalb der Wirtschaft, oberhalb der Interessenten, da, wo er hingehört.“

Alexander Rüstow[14]

Alexander Rüstow prägte auf dem internationalen Symposium Colloque Walter Lippmann 1938 auch den Begriff Neoliberalismus. Dort sollte die Fähigkeit des Liberalismus erörtert werden, sich den Problemen der Zeit, sprich dem Totalitarismus und der Weltwirtschaftskrise, entgegen zu stellen. Die Wortschöpfung Neoliberalismus sollte die Abgrenzung der neuen liberalen Konzepte gegenüber dem Laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts dienen. Allerdings war die Wortwahl nicht unumstritten.[15] Wilhelm Röpke betrachtete sie als „das am wenigsten glückliche Ergebnis der Konferenz“[16] und Walter Eucken benutzte den Ausdruck nicht, da die Verwendung „oft tendenziös und nicht zutreffend“ sei.[17] Dennoch spielte der Begriff nach dem 2. Weltkrieg bis Anfang der 1960er Jahre insbesondere im deutschsprachigem Raum eine herausragende Rolle bei der Diskussion der konzeptionellen Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft.[18]

Alfred Müller-Armack
Alfred Müller-Armack (Mitte) entwickelte das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft

In seinem Werk Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft (1946) entwickelte Müller-Armack das Konzept einer „Sozialen Marktwirtschaft“. Der Markt und das Soziale seien dabei nicht als Gegensätze zu verstehen: Enorme Sozialleistungen seien vielmehr bereits das Ergebnis: Die Effizienz des Marktprozesses ermögliche die permanente Steigerung des Lebensstandards. Damit steige auch das Pro-Kopf-Einkommen und die zur Verfügung stehenden Geldmittel für Sozialleistungen. Die Konsumentensouveränität und der Wettbewerb wirkten Machtkonzentrationen entgegen. Zu ergänzen seien dies um soziale Institutionen wie Familienversicherung, Bildung neuen Eigentums, verbesserte Chancen für Selbständige, und auch betriebliche Mitbestimmung.[5] Müller-Armacks Positionen werden in Teilen abseits der klaren ordnungspolitischen Vorstellungen der Freiburger Schule gesehen.[13] Karl Georg Zinn schreibt:

„Jedoch bestehen auch erhebliche Differenzen zwischen Müller-Armack und den neoliberalen Anhängern einer freien bzw. liberalen Marktwirtschaft. In vielerlei Hinsicht steht Müller-Armack mit seinen philosophisch übergreifenderen Vorstellungen den beiden Emigranten Röpke und Rüstow näher als dem ordnungstheoretischen Puristen Eucken. Müller-Armack gab der Sozialpolitik und der staatlichen Konjunktur- und Strukturpolitik ein weit größeres Gewicht als Eucken, für den Sozialpolitik allenfalls als Minimalprogramm gegen extreme Mißstände erforderlich erschien und der Konjunkturpolitik für schlichtweg überflüssig, ja schädlich hielt“ [19]

Großbritannien

School of Cannan

An der London School of Economics in den 1930er Jahren um Edwin Cannan eine ökonomische Schule heraus, die im Gegensatz zum damals vorherrschenden fabianischen Sozialismus stand. Cannnan selbst stand noch unter dem Einfluss der englischen Klassiker. Der Schule gehörten – außer ihrem Gründer Cannan – Frederic Charles Benham, Theodore Emmanuel Gregory, William Harold Hutt, Frank Walter Paish, Arnold Plant und Lionel Charles Robbins an. Bis auf Hutt, der an der Universität Kapstadt lehrte, waren alle an der LSE tätig.[4]

Einfluss auf sie übte vor allem Mises und Hayek aus, der von 1935 bis 1950 Professor in London war; insbesondere deren Kritik an der zentral gesteuerte Wirtschaft übte hier nachhaltige Wirkung aus. Weiterhin grenzen sie sich vom Keynesianismus ab. Dennoch standen sie dem klassischen laissez faire-Liberalismus fern. Die Rezeption der Gruppe in der Wirtschaftswissenschaft war – gemessen am Keynesianismus – vernachlässigbar.[4]

Das Institute of Economic Affairs wurde 1957 von ihnen gegründet. Sie gab die sogenannten Hobart Papers, die Readings, die Occasional Papers sowie ab 1980 das Journal of Economic Affairs heraus.[4]

Karl Popper

Nach dem 2. Weltkrieg wurde Karl Popper Dozent an der LSE. Er attackierte besonders alle Arten des Historizismus und Totalitarismus. Er vertritt ein neoliberales Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell mit demokratischer Intervention in das Wirtschaftsgeschehen. Er war stark von Hayek beeinflusst auf dessen Schriften er sich oft beruft. Er unterscheidet zwischen peacemeal social engineering, das er befürwortet, und utopian social engineering. Die Planung des Wirtschaftsprozesses sei dem zu verwerfenden utopian social engineering zuzuordnen.[4]

Vereinigte Staaten

Chicago School

Die Chicago School entwickelte sich aus der Opposition zum zunehmenden Interventionismus (vor allem zum New Deal) in den USA der Zwischenkriegszeit. Ihre Vertreter waren zumeist auch politisch und bemühten sich um die Umsetzung einer freiheitlichen Ordnung in politische Realität.[5]

Henry C. Simons

Henry Calvert Simons entwarf in Economic Policy for a Free Society (1948) die Grundlagen für eine freiheitliche Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung. Ihre Bedrohungen sah er einerseits in Monopolstellungen – diese seien notfalls zu verstaatlichen –, andererseits in der damaligen Finanzverfassung der USA. Bereits 1936 hatte er sichin Monetary Policy gegen die vorgefundene Geldpolitik gewandt, durch die er die Währungsmanipulation begünstigt sah. Anstelle dessen spricht er sich für eine regelgebundene Geldversorgung mit dem Ziel der Preisniveaustabilität aus. 1938 sprach er sich für eine flat tax aus (Personal Income Taxation (1938)). Anstelle der Zentralisierung der Regierungsaufgaben setzte er zunehmende Föderalisierung, insbesondere für fiskalische Aufgaben (Federal Tax Reform (1950).[5]

Milton Friedman
Datei:MiltonFriedman.jpg
Milton Friedman

Der Nobelpreisträger Milton Friedman gilt als einer der bedeutendsten Vertreter des Neoliberalismus. Er entwickelte die geldpolitische Theorie der Chicago School zum Monetarismus weiter. Die Verstaatlichung natürlicher Monopole lehnt er als nicht zweckführend ab. Ebenso erreiche staatliche Einkommensumverteilung nicht die selbst gesteckten Ziele (Capitalism and Freedom (1962)). Er gehört zu den wichtigsten Befürwortern flexibler Wechselkurse.[5]

Später übertrug er die ökonomische Analyse auf politische Szenarien und entwickelte daraus eine Theorie des Lobbyismus und der Einflusse von Verbänden und Interessengruppen auf Parteien und Politik[5]:

“Is it really true that political self-interest is nobler somehow than economic self-interest? […] Just tell me where in the world you’re going to find these angels who are going to organize society for us?”

„Ist es wirklich wahr, dass politischer Eigennutz in irgendeiner Weise edler ist als wirtschaftlicher Eigennutz? […] Können Sie mir sagen, wo Sie diese Engel finden wollen, die die unsere Gesellschaft planen sollen?“

Milton Friedman: Interview 1979 mit Phil Donahue

Virginia School of Political Economy

Zu den wichtigsten Vertretern der Virginia School zählen der Nobelpreisträger James M. Buchanan und Gordon Tullock, die wesentliche Beiträge zur Public Choice Theory leisteten.

Italien

Die wichtigsten italienischen Wissenschaftler sind Luigi Einaudi, Costantino Bresciani Turroni, Bruno Leoni und Carlo Antòni. Luigi Einaudi war Präsident der Banca d’Italia und wurde später Vizepräsident und Finanzminister, von 1948 bis 1955 war er italienischer Präsident.[4]

Frankreich

Vertreter des Neoliberalismus in Frankreich sind Louis Rougier, der Initiator des Colloque Walter Lippmann, Louis Baudin, Maurice Allais, Gaston Leduc, Daniel Villey und Jacques Rueff. Ab 1980 trat die Gruppe des Nouveaux Économistes auf.[4]

Bedeutungswandel seit etwa 1980

Geschichte der Bedeutungsverschiebung

Der Einfluss des Neoliberalismus auf die Politik schwand ab Mitte der 1960er mit dem wachsenden Einfluss des Keynesianismus auf die Wirtschaftspolitik in Deutschland; die Bezeichnung wurde kaum noch gebraucht. Keine ökonomische Schule bezeichnet sich seitdem mehr als neoliberal.[20][21]

Ausgehend vom als positiv empfundenen Vorbild der deutschen neoliberalen Schule und des deutschen Wirtschaftswunders wurde das Wort zunächst in den 1960er Jahren als neoliberalismo in Lateinamerika sowohl aus marktfreundlicher als auch marktkritischer Perspektive gebraucht, ohne von seiner neutralen bis positiven Bedeutung abzuweichen. Ein erster Bedeutungswechsel setzte ein, als Kritiker der Reformen unter Pinochet 1973 begannen den Begriff sporadisch – ohne direkten Bezug zur Freiburger oder einer sonstigen ökonomischen Schule – zu gebrauchen. Bis 1980 kam es so zu einer Bedeutungsverschiebung: Statt die Abgrenzung des neuen, moderaten Liberalismus zu kennzeichnen, wurde das Präfix neo- auch in akademischem Kontext gleichbedeutend mit radikal und zur Abwertung der Gedankengebäude Friedrich von Hayeks und Milton Friedmans gebraucht.[21] Mit Neoliberalismus wurde eine aus Ansicht der Kritiker reduktionistische Position gekennzeichnet, die soziale Sicherheit im Namen des ökonomischen Primats opfere.[22]

Als zentraler Zeitpunkt für diese Verschiebung wird der Staatsstreich Augusto Pinochets in Chile vom 11. September 1973 angesehen: Nach einem Jahr unentschlossener Wirtschaftspolitik, besetzte Pinochet die zentralen Stellen der Wirtschaftspolitik mit Chilenen, die seit 1955 in Chicago bei Friedman studiert hatten. Sie wurden als Chicago Boys bekannt; es kam innerhalb des autoritären Regimes somit dennoch zu einem weitreichenden Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, dessen Folgen hochumstritten sind. Während dieser Militärdiktatur löste sich neoliberalismo vollends von seinem Bezug zur wirtschaftswissenschaftlichen Schule und sollte die als radikal empfundene Transformation der Wirtschaft bei poltischer Repression kennzeichnen. Von hier aus verbreitete sich die neue Bedeutung des Wortes in die angelsächsische Welt, wo es nunmehr fast alles bezeichnen konnte, was sich negativ auf Marktwirtschaften bezog.[21]

Asymmetrie und Unbestimmtheit der Verwendung – Vielzahl der bezeichneten Phänomene

Der Gebrauch des Wortes ist stark asymmetrisch verteilt: In Publikationen taucht es fast nie auf, wenn positive Aspekte des beschriebenen Phänomens reflektiert werden.[21] Abweichend von seinem Gebrauch in der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften, wo der Begriff zur Beschreibung einer moderaten Variante des laissez-faire-Liberalismus des 19. Jahrhunderts positiv konnotiert gebraucht wird, ist er in diesem Zusammenhang ebenso oft neutral wie negativ besetzt.[21] Nach Auffassung des Wirtschaftswissenschaftlers Andreas Renner wird marktanarchistisch, marktfundamental oder marktradikal synonym verwandt.[20] Als Ergebnis einer Untersuchung über die Verwendung des Begriffs in amerikanischen wissenschaftlichen Zeitschriften im Bereich Entwicklungspolitik wurde festgestellt, dass eine explizite Definition des Wortes in den meisten der untersuchten nicht-empirischen wissenschaftlichen Publikationen nicht gegeben wird.[21] Die Autoren stellen den analytischen Wert für die Sozialwissenschaften aufgrund der Vielzahl der damit bezeichneten Phänomene bis zur Erarbeitung einer anerkannten Definition im akademischen Diskurs in Frage; bis dahin sei der Begriff als „anti-liberaler Slogan“ und „catchphrase“ („Schlagwort“) eher von rhetorischem als akademischem Nutzen.[21] Die Autoren sehen aber Potential für die Erarbeitung einer konsistenten Verwendung.[21] Auch für andere Autoren ist neoliberal zum „politischen Schlagwort[20] oder zu einer „Kampfparole“[23] geworden.

Grob lässt sich sein Gebrauch, neben der wirtschaftsgeschichtlichen, in vier Kategorien einteilen:

  1. Politisches Konzept:[21] Am häufigsten ist das Wort im Zusammenhang mit Kritik an wirtschaftspolitischen Reformen verknüpft. So wird der Washington Consensus oft als Beispiel für ein neoliberales wirtschaftspolitisches Programm genannt;[24] zum Teil wird Washington Consensus sogar synonym mit Neoliberalismus verwandt.[25] Auch die wirtschaftspolitischen Reformen in den USA unter Reagan (Reaganomics), in Großbritannien unter Thatcher (Thatcherismus),[26] und in Neuseeland unter Roger Douglas Rogernomics[27] werden oft als neoliberal bezeichnet. Innerhalb der wirtschaftspolitischen Konzepte lassen wiederum drei Kategorien unterscheiden:
    1. Liberalisierung der Wirtschaft durch Abschaffung von Preiskontrollen, Deregulierung des Kapitalmarktes und die Abschaffung von Handelsbarrieren.
    2. Senken der Staatsquote durch Privatisierung von Staatsunternehmen
    3. Fiskalpolitische Sparmaßnahmen durch ausgeglichene Staatshaushalte und strikte Kontrolle der Geldmenge
    Nach Joseph Stiglitz ist die neoliberale Überzeugung von einer Kombination dieser drei Elemente gekennzeichnet.[28]
  2. Entwicklungsmodell:[21] Daneben findet sich die Bezeichnung neoliberal zur Bezeichnung eines umfassenden Staats- und Ordnungsmodells mit festgelegter Rollenverteilung von Gewerkschaften, privaten Unternehmen und Staat in Kontrast zum staatsinterventionistischen Modell.
  3. Ideologie:[21] Weiterhin verwenden Autoren das Wort in der Analyse eines bestimmten normativen Freiheitsverhältnis des Individuums gegenüber Kollektiven.
  4. Akademisches Paradigma:[21] Zuletzt findet neoliberal deskriptiv Anwendung zur Bezeichnung eines bestimmten wirtschaftswissenschaftlichen Paradigmas, vor allem der neoklassischen Theorie.

Rezeption und Kritik

Noam Chomsky

Der Linguist Noam Chomsky veröffentlichte 1998 Profit over People – Neoliberalism and Global Order. Er vertritt darin, der Neoliberalismus habe seit Ronald Reagan und Margaret Thatcher weltweite Hegemonie erlangt. Dies habe zur Privilegierung weniger Reicher auf Kosten der großen Mehrheit geführt. Große Konzerne und Kartelle beherrschten das politische Geschehen in den USA. Der freie Markt bringe somit nicht im geringsten eine Wettbewerbsordnung hervor. Durch den politischen Einfluss großer Unternehmen auf die us-amerikanischen Parteien werde dauerhaft die Demokratie untergraben. Die US-Regierungen hätten dazu durch Subventionen und Importzölle beigetragen. Ein typisches Beispiel der Unterstützung von Großkonzernen durch die Regierung sei die Welthandelsorganisation. Als Alternative sieht er einen libertären Sozialismus.[29]

Michel Foucault

Der französische Philosoph Michel Foucault untersuchte in einem Vortrag am Collège de France am 24. Januar 1979 unter dem Titel Naissance de la biopolitique das Verhältnis des deutschen Neoliberalismus (und besonders Walter Euckens) zum klassischen Liberalismus sowie den Einfluss der Philosophie Edmund Husserls auf ihn.[30]

Literatur

Literatur zur Wirtschaftstheorie

Primärliteratur

Sekundärliteratur

  • Hans Besters: Neoliberalismus. In: Roland Vaubel und Hans D. Barbier (Hrsg.): Handbuch Marktwirtschaft. Neske, 1986, S. 107–122.
  • Willi Alfred Boelcke: Liberalismus: 3b) Neoliberalismus. In: Willi Albers (Hrsg.): Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft. Band 5. Vandenhoeck & Ruprecht, 1983, S. 44–45.
  • David J. Gerber: Constitutionalizing the Economy: German Neoliberalism, Competition Law and the ‚New Europe‘. In: The American Journal of Comparative Law. Band 42, 1994, S. 25–84.
  • Gerrit Meijer: The History of Neoliberalism: Affinity to Some Developments in Economics in Germany. In: International Journal of Social Economics. Vol. 14, Nr. 7/8/9, 1987, ISSN 142–155(?!).
  • Gerrit Meijer: The History of Neoliberalism: A General View and Developments in Several Countries. In: Rivista Internazionale di Scienze Economiche e Commerciali. Vol. 34, 1987, S. 577–591.
  • Christian Müller: Neoliberalismus und Freiheit – Zum sozialethischen Anliegen der Ordo-Schule. In: ORDO. Band 58, 2007, S. 97–106.
  • Egon Edgar Nawroth: Die Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus. Kerle, Heidelberg 1962.
  • Jürgen Nordmann: Der lange Marsch zum Neoliberalismus. Vom Roten Wien zum freien Markt – Popper und Hayek im Diskurs. VSA Verlag, Hamburg 2005, ISBN 978-3-89965-145-4 (Zugleich Diss. Marburg 2004).
  • H.M. Oliver Jr: German Neoliberalism. In: Quarterly Journal of Economics. Vol. 74, 1960, S. 117–149.
  • A. Peacock und H. Willgerodt: German Neoliberals and the Social Market Economy. MacMillan, London 1989.
  • Philip Plickert: Wandlungen des Neoliberalismus. Eine Studie zu Entwicklung und Ausstrahlung der „Mont Pèlerin Society. Lucius & Lucius Verlag, Stuttgart 2008, ISBN 978-3-8282-0441-6.
  • Andreas Renner: Neoliberalismus – Versuch einer Begriffsklärung. In: Walter Bührer (Hrsg.): Die Schweiz unter Globalisierungsdruck. Sauerländer, Aarau 1999, S. 35–50. Auch veröffentlicht als Die zwei „Neoliberalismen“. In: Fragen der Freiheit. Heft 26, Oktober/Dezember, 2000.
  • Manfred E. Streit: Der Neoliberalismus – Ein fragwürdiges Ideensystem? In: ORDO. Band 57, 2006, S. 91–98.
  • Milene Wegmann: Früher Neoliberalismus und europäische Integration, Nomos, Baden-Baden 2002 ISBN 3-7890-7829-8
  • Hans Willgerodt: Der Neoliberalismus – Entstehung, Kampfbegriff und Meinungsstreit. In: ORDO. Band 57, 2006, S. 47–89.
  • Gerhard Willke: Neoliberalismus, Campus, Frankfurt/M. 2003, ISBN 3-593-37208-8
  • Joachim Zweynert: Die Entstehung ordnungsökonomischer Paradigmen – theoriegeschichtliche Betrachtungen. In: Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik. Nr. 8, 2007, ISSN 1427-1510(?!).

Literatur zum Neoliberalismus als Schlagwort

  • Hans Willgerodt: Der Neoliberalismus – Entstehung, Kampfbegriff und Meinungsstreit, in: Ordo, Bd. 57 (2006), S. 47–89, ISSN 0048-2129

Rezeption und Kritik

Primärliteratur
Sekundärliteratur
  • Nils Goldschmidt und Hermann Rauchenschwandtner: The Philosophy of Social Market Economy: Michel Foucault’s Analysis of Ordoliberalism. In: Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik. April 2007, ISSN 1437-1510.
  • Robert W. McChesney: Noam Chomsky and the Struggle Against Neoliberalism. In: Monthly Review. Vol.50, Nr. 11, 1. April 1999, S. 40–47.
  • Ljubiša Mitrović: Bourdieu's Criticism of the Neoliberal Philosophy of Development, the Myth of Mondialization and the New Europe. In: Facta Universitatis. Philosophy, Sociology and Psychology. Vol. 4, Nr. 1, 2005, S. 37–49.
  • Michael A. Peters: Neoliberal Governmentality: Foucault on the Birth of Biopolitics. In: Susanne Weber und Susanne Maurer (Hrsg.): Gouvernementalität und Erziehungswissenschaft. Wissen — Macht — Transformation. VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2006, ISBN 978-3-531-14861-8, doi:10.1007/978-3-531-90194-7.
Wiktionary: Neoliberalismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Uwe Andersen und Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland – Grundlagen, Konzeption und Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft. 5. Auflage. Leske+Budrich, Opladen 2003 (Online – Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 2003).
  2. Jan Hegner, Alexander Rüstow-Ordnungspolitische Konzeption und Einfluß auf das wirtschaftspolitische Leitbild der Nachkriegszeit in der Bundesrepublik Deutschland, Lucius und Lucius Verlagsgesellschaft mbH, Stuttgart, 2000, ISBN 3-8282-0113-X, Seite 8
  3. According to Oscar Muñoz, one of the first opposition economists to use the term in academic writing, Chilean scholars’ use of neoliberism was not a specific reference to the German neoliberals or any other theoretical revision of liberalism. Rather, it described the new “market fundamentalism” being implemented in Chile—one which differed from classical liberalism because it dispensed with political liberty, which classical liberalism (as well as the philosophy of Hayek) had always seen as inseparable from economic freedom. Characterizing Pinochet’s project as neoliberal did not imply cognitive dissonance. Moreover, Muñoz notes that in the polarized political climate of the 1970s, opposition scholars intentionally imbued the term with pejorative connotations, and using it constituted a “fairly open and blunt criticism” of the government’s radical reforms. Quelle: Taylor C. Boss und Jordan Gans-Morse: Neoliberalism: From New Liberal Philosophy to Anti-Liberal Slogan. In: Studies in Comparative International Development. Band 44, Nr. 2, 2009, ISSN 0039-3606, S. 151, doi:10.1007/s12116-009-9040-5.
  4. a b c d e f g h i j k Gerrit Meijer: The History of Neoliberalism: A General View and Developments in Several Countries. In: Rivista Internazionale di Scienze Economiche e Commerciali. Vol. 34, 1987, S. 577–591.
  5. a b c d e f g h i j k l m Hans Besters: Neoliberalismus. In: Roland Vaubel und Hans D. Barbier (Hrsg.): Handbuch Marktwirtschaft. Neske, 1986, S. 107–122.
  6. Jörg Guido Hülsmann: Mises: The Last Knight of Liberalism. Ludwig von Mises Institute, Auburn (Alabama) 2007, ISBN 978-1-933550-18-3, S. 708 sqq.] ([http://www.mises.org/books/lastknight.pdf Online [PDF]).
  7. Dieter Plehwe und Bernhard Walpen: Wissenschaftliche und wissenschaftspolitische Produktionsweisen in Neoliberalismus. In: PROKLA. Band 115, 1999, S. 203–235.
  8. Zitiert nach Richard Cockett: Thinking the Unthinkable. Fontana 1995, S. 112.
  9. Mont Pelerin Society: Statement of Aims, April 10, 1947
  10. Horst Friedrich Wünsche: Soziale Marktwirtschaft als Politik zur Einführung von Marktwirtschaft. In Ludwig Erhard-Stiftung (Hrsg.): Grundtexte zur Sozialen Marktwirtschaft, Band 3: Marktwirtschaft als Aufgabe. Gustav Fischer 1994. ISBN 3437403311 S.25
  11. Lüder Gerken (Hrsg.): Walter Eucken und sein Werk : Rückblick auf den Vordenker der sozialen Marktwirtschaft. Tübingen : Mohr Siebeck, 2000. - ISBN 3-16-147503-8
  12. Ludwig Erhard, Karl Hohmann: Gedanken aus fünf Jahrzehnten: Reden und Schriften. ECON Verlag, 1988, ISBN 978-3-430-12539-0, S. 696.
  13. a b Joachim Zweynert: Die Entstehung ordnungsökonomischer Paradigmen – theoriegeschichtliche Betrachtungen. In: Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik. Nr. 8, 2007, ISSN 1427-1510(?!).
  14. Vortrag Freie Wirtschaft, starker Staat von Alexander Rüstow auf der Jahrestagung des Vereins für Socialpolitik im September 1932 in Dresden, veröffentlicht in Alexander Rüstow: Rede und Antwort. 21 Reden und viele Diskussionsbeiträge aus den Jahren 1932 bis 1963. Hrsg.: Walter Horch. S. 258.
  15. Andreas Renner: Die zwei Neoliberalismen. In: Fragen der Freiheit. Heft 256, Okt./Dez. 2000.
  16. Wilhelm Röpke in einem Brief an Alexander Rüstow am 8. April 1955, veröffentlicht in: Gottfried Eisermann, Wirtschaft und Kultursystem, Erlenbach-Zürich, Eugen Rentsch, S. 20
  17. Walter Eucken: Grundsätze der Wirtschaftspolitik, Tübingen, Mohr Siebeck, 1952, S. 374
  18. Carlo Mötteli: Licht und Schatten der Sozialen Marktwirtschaft, Erlenbach-Zürich, Eugen Rentsch, 1961, S. 40
  19. Karl Karl Georg Zinn: Soziale Marktwirtschaft: Idee, Entwicklung und Politik der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung. BI-Taschenbuchverlag, Mannheim 1992, ISBN 3-411-10181-4 (Online [PDF]).
  20. a b c Andreas Renner: Die zwei „Neoliberalismen“. In: Fragen der Freiheit. Heft 26, Oktober/Dezember, 2000.
  21. a b c d e f g h i j k l Taylor C. Boss und Jordan Gans-Morse: Neoliberalism: From New Liberal Philosophy to Anti-Liberal Slogan. In: Studies in Comparative International Development. Band 44, Nr. 2, 2009, ISSN 0039-3606, S. 137–161, doi:10.1007/s12116-009-9040-5.
  22. Unter Bezugnahme auf Miguel Sang Ben und Andrés Van der Horst (1992: 368), Boas/Gans-Morse (2009), S. 13
  23. Gerhard Willke: Neoliberalismus. Campus Verlag, 2003, ISBN 978-3-593-37208-2, S. 11.
  24. Geoffrey Ingham: Neoliberalism. In: B. Turner (Hrsg.): Cambridge Dictionary of Sociology. Cambridge University Press, Cambridge 2006. Stavros D. Mavroudeas & Demophanes Papadatos: Neoliberalism and the Washington Consensus. In: Neoliberalism and the Washington Consensus. Band 1, Nr. 1, 2005 (Online [PDF])..
  25. Markus Rühling: Ein Synonym für Neoliberalismus? Zu Geschichte und Inhalt des 'Washington Konsensus'. In: Zeitschrift für Entwicklungspolitik. Nr. 7, 2004 (Online).
  26. J. Nordmann: Der lange Marsch zum Neoliberalismus. VSA, Hamburg 2005, ISBN 3-89965-145-6, S. 17. J.G. Valdes: Pinochet's Economists. Cambridge University Press, 1995, S. 5.
  27. Adam Tickell und Jamie A. Peck: Social regulation after Fordism: regulation theory, neo-liberalism and the global-local nexus. In: Economy and Society. Band 24, Nr. 3, 1995, S. 357–386, doi:10.1080/03085149500000015.
  28. Sameer M. Ashar: Law Clinics and Collective Mobilization. In: Clinical Law Review. Nr. 14, 2008, S. 355, 360. unter Verweis auf Joseph E. Stiglitz: Globalization and Its Discontents. In: ??? Band 53, 2002.
  29. Robert W. McChesney: Noam Chomsky and the Struggle Against Neoliberalism. In: Monthly Review. Vol.50, Nr. 11, 1. April 1999, S. 40–47.
  30. Nils Goldschmidt und Hermann Rauchenschwandtner: The Philosophy of Social Market Economy: Michel Foucault’s Analysis of Ordoliberalism. In: Freiburger Diskussionspapiere zur Ordnungsökonomik. April 2007, ISSN 1437-1510.

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