„Kosmopolitismus“ – Versionsunterschied

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Ich sehe gar nicht, dass Kosmopolitismus ein Gegensatz zum Patriotismus ist. Meiner Einschätzung nach kann man sowohl als auch haben. Eine lokale Heimatliebe kann man sicherlich mit dem einer globalen Weltanschauung verbinden.
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=== Neuere Ansätze in Sozial- und Kulturwissenschaften ===
=== Neuere Ansätze in Sozial- und Kulturwissenschaften ===
Im postkolonialen Kontext hat sich ab den 1980er Jahren, geprägt vor allem durch Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaftler wie [[Bruce Robbins]], [[Timothy Brennan]], [[Kwame Anthony Appiah]], [[Arjun Appadurai]], [[James Clifford]] und [[Ulrich Beck]], ein „neuer“ Diskurs des Kosmopolitismus entfaltet, der den Kosmopolitismus-Begriff vor dem Hintergrund der Globalisierung und daraus folgender Konfrontation mit lingualer und ethisch-weltanschaulicher Vielfalt in der vernetzten Welt, zu aktualisieren versucht. Kosmopolitismus wird vielfach als Konkurrenzkonzept zum als kulturessentialistisch empfundenen [[Multikulturalismus]] im Rahmenkontext des Nationalstaats gesehen. Der erweiterte und aktualisierte Begriff folgt nicht mehr allein der Vorstellung einer subjektiven Selbstzuschreibung als „Weltbürger“, sondern versucht u.a., eine Synthese aus partikularistischen und universellen Motivationen zu erreichen. Losgelöst von elitärem Standesbewusstsein und werden beispielsweise bei Appadurais ''Cosmopolitan from Below'' kosmopolitische Verhaltensweisen bei marginalisierten Randgruppen ausgemacht, denen Mittel und Bildung fehlen, um dem klassischen Bild des westlichen Kosmopoliten als weitgereisten Weltversteher zu entsprechen.<ref>s. [[Arjun Appadurai]]: ''Cosmopolitan from Below. Some Ethical Lessons from the Slums of Mumbai.'' In: Ders.: ''The Future as Cultural Fact. Essays on the Global Condition.'' Verso, New York 2013, ISBN 978-1844679829, S. 197 ff.</ref> Bezeichnend für eine neue Sichtweise des Begriffs sind auch scheinbar paradoxe Begriffsbildungen wie „patriotischer Kosmopolitismus“, „verwurzelter Kosmopolitismus“ oder „nationaler Kosmopolitismus“. Angestrebt wurde auch eine Versöhnung des Kosmopolitismus mit dem [[Patriotismus]] bzw. dem [[Nationalismus]] neuer Prägung. Vor allem die Stadt als Schaustätte des Kosmopolitismus rückt in den Mittelpunkt der Forschung.
Im postkolonialen Kontext hat sich ab den 1980er Jahren, geprägt vor allem durch Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaftler wie [[Bruce Robbins]], [[Timothy Brennan]], [[Kwame Anthony Appiah]], [[Arjun Appadurai]], [[James Clifford]] und [[Ulrich Beck]], ein „neuer“ Diskurs des Kosmopolitismus entfaltet, der den Kosmopolitismus-Begriff vor dem Hintergrund der Globalisierung und daraus folgender Konfrontation mit lingualer und ethisch-weltanschaulicher Vielfalt in der vernetzten Welt, zu aktualisieren versucht. Kosmopolitismus wird vielfach als Konkurrenzkonzept zum als kulturessentialistisch empfundenen [[Multikulturalismus]] im Rahmenkontext des Nationalstaats gesehen. Der erweiterte und aktualisierte Begriff folgt nicht mehr allein der Vorstellung einer subjektiven Selbstzuschreibung als „Weltbürger“, sondern versucht u.a., eine Synthese aus partikularistischen und universellen Motivationen zu erreichen. Losgelöst von elitärem Standesbewusstsein werden beispielsweise bei Appadurais ''Cosmopolitan from Below'' kosmopolitische Verhaltensweisen bei marginalisierten Randgruppen ausgemacht, denen Mittel und Bildung fehlen, um dem klassischen Bild des westlichen Kosmopoliten als weitgereisten Weltversteher zu entsprechen.<ref>s. [[Arjun Appadurai]]: ''Cosmopolitan from Below. Some Ethical Lessons from the Slums of Mumbai.'' In: Ders.: ''The Future as Cultural Fact. Essays on the Global Condition.'' Verso, New York 2013, ISBN 978-1844679829, S. 197 ff.</ref> Bezeichnend für eine neue Sichtweise des Begriffs sind auch scheinbar paradoxe Begriffsbildungen wie „patriotischer Kosmopolitismus“, „verwurzelter Kosmopolitismus“ oder „nationaler Kosmopolitismus“. Angestrebt wurde auch eine Versöhnung des Kosmopolitismus mit dem [[Patriotismus]] bzw. dem [[Nationalismus]] neuer Prägung. Vor allem die Stadt als Schaustätte des Kosmopolitismus rückt in den Mittelpunkt der Forschung.


In den Sozial- und Kulturwissenschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten verschiedene parallel existierende Kosmopolitismus-Konzepte und Definitionen herausgebildet. Steven Vertovec und Robin Cohen ordnen die verschiedenen Ansätze folgenden Gruppen zu.<ref>Steven Vertovec, Robin Cohen: ''Introduction. Conceiving Cosmopolitanism.'' In: Dies. (Hrsg.): ''Conceiving Cosmopolitanism. Theory, Context, and Practice.'' Oxford University Press, New York 2002, ISBN 978-0199252282, S. 1 ff.</ref> Kosmopolitismus kann demnach gesehen werden
In den Sozial- und Kulturwissenschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten verschiedene parallel existierende Kosmopolitismus-Konzepte und Definitionen herausgebildet. Steven Vertovec und Robin Cohen ordnen die verschiedenen Ansätze folgenden Gruppen zu.<ref>Steven Vertovec, Robin Cohen: ''Introduction. Conceiving Cosmopolitanism.'' In: Dies. (Hrsg.): ''Conceiving Cosmopolitanism. Theory, Context, and Practice.'' Oxford University Press, New York 2002, ISBN 978-0199252282, S. 1 ff.</ref> Kosmopolitismus kann demnach gesehen werden

Version vom 7. Juni 2017, 15:56 Uhr

Kosmopolitismus (von Vorlage:ELSneu kósmos ‚Weltordnung, Ordnung, Welt‘ und πολίτης polítis ‚Bürger‘), auch Weltbürgertum, ist eine philosophisch-politische Weltanschauung, die den ganzen Erdkreis als Heimat betrachtet. Das Konzept geht auf die Antike zurück. Es steht im Gegensatz zum Nationalismus und Provinzialismus. Daneben wurden ab den 1980er Jahren Ansätze formuliert, die partikularistische und universelle Vorstellungen miteinander verknüpfen wollen.

Antike

Diogenes von Sinope bezeichnete sich erstmals als Weltbürger. So wie er in seinen Anfängen in der griechisch-hellenischen Ideengeschichte zu finden ist, ist der Kosmopolitismus zunächst eine mehr individualistische Lebensphilosophie. In der Philosophenschule der Stoiker (Zenon, Seneca und andere) wird er auch zu einer Ethik weiterentwickelt.

Renaissance und Aufklärung

Neueste Weltbegebenheiten: Der Aufklärung dienende Zeitschrift, geschrieben von einem Weltbürger

Einen mächtigen Schub bekommt diese Philosophie im Zeitalter des Renaissance-Humanismus und der Aufklärung. Viele der damals zeitgenössisch großen Denker und Schriftsteller schreiben über dieses Ideal, so zum Beispiel der Weimarer Prinzenerzieher Christoph Martin Wieland in seinem Werk Das Geheimnis des Kosmopolitenordens. Auch Lessing schreibt über Die Erziehung des Menschengeschlechts. Dem schließt sich Johann Gottfried Herder mit seinem Werk Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit an. Heute wird meist nur noch aus Immanuel Kants Essay Zum ewigen Frieden zitiert, da dieser die kosmopolitische Idee in eine Rechtsphilosophie verwandelt.

Weltliche und der Aufklärung dienende Publikationen wie die Neuesten Weltbegebenheiten kamen im 18. Jahrhundert auf. So bezeichnete sich Dominikus von Brentano als Weltbürger auf dem Titelblatt der Neuesten Weltbegebenheiten. Nachrichtenberichterstattung sollte unabhängig von der Kirche erfolgen, es sollten nur wichtige und wahre Meldungen erfolgen, die der Aufklärung der Menschheit dienen sollten.

20. und 21. Jahrhundert

Im 20. Jahrhundert, am 15. November 1956, wurde der damalige UNO-Generalsekretär Dag Hammarskjöld in einem Artikel der Zeit als „Kosmopolitiker Hammarskjöld“ bezeichnet.[1] Der Artikel beschreibt, wie Hammarskjöld die Ideen des Kosmopolitismus in Kosmopolitik (Weltordnungspolitik) umsetzt. Dieser neue Bezug auf Kosmopolitismus wurde ermöglicht unter anderem durch die Aktionen des ehemaligen US-Bomberpiloten und nun staatenlosen „Weltbürgers Nummer 1“ Garry Davis 1948 bis 1951, der die Weltbürgerbewegung ins Leben gerufen hatte. Bedeutsam war beispielsweise die Besetzung der UNO durch Weltbürgeraktivisten, darunter Albert Camus und André Breton.

In der DDR und bereits zuvor in der UdSSR wurde dem Kosmopolitismus, der als imperialistisches, rechtsgerichtetes und nationalistisches Mittel der westlichen Großmächte galt, um kleine Staaten niederzuhalten und den eigenen Nationalismus zu verschleiern, das positive Gegenbild des proletarischen Internationalismus entgegengesetzt, wonach Sozialisten weltweit Brüder waren und alle Arbeiter der Welt gleiche Interessen hatten. Weltbürger bezeichnete man als wurzellose Kosmopoliten, die der sozialistischen Gesellschaft Schaden zufügen wollten.

Neuere Ansätze in Sozial- und Kulturwissenschaften

Im postkolonialen Kontext hat sich ab den 1980er Jahren, geprägt vor allem durch Literatur-, Kultur- und Sozialwissenschaftler wie Bruce Robbins, Timothy Brennan, Kwame Anthony Appiah, Arjun Appadurai, James Clifford und Ulrich Beck, ein „neuer“ Diskurs des Kosmopolitismus entfaltet, der den Kosmopolitismus-Begriff vor dem Hintergrund der Globalisierung und daraus folgender Konfrontation mit lingualer und ethisch-weltanschaulicher Vielfalt in der vernetzten Welt, zu aktualisieren versucht. Kosmopolitismus wird vielfach als Konkurrenzkonzept zum als kulturessentialistisch empfundenen Multikulturalismus im Rahmenkontext des Nationalstaats gesehen. Der erweiterte und aktualisierte Begriff folgt nicht mehr allein der Vorstellung einer subjektiven Selbstzuschreibung als „Weltbürger“, sondern versucht u.a., eine Synthese aus partikularistischen und universellen Motivationen zu erreichen. Losgelöst von elitärem Standesbewusstsein werden beispielsweise bei Appadurais Cosmopolitan from Below kosmopolitische Verhaltensweisen bei marginalisierten Randgruppen ausgemacht, denen Mittel und Bildung fehlen, um dem klassischen Bild des westlichen Kosmopoliten als weitgereisten Weltversteher zu entsprechen.[2] Bezeichnend für eine neue Sichtweise des Begriffs sind auch scheinbar paradoxe Begriffsbildungen wie „patriotischer Kosmopolitismus“, „verwurzelter Kosmopolitismus“ oder „nationaler Kosmopolitismus“. Angestrebt wurde auch eine Versöhnung des Kosmopolitismus mit dem Patriotismus bzw. dem Nationalismus neuer Prägung. Vor allem die Stadt als Schaustätte des Kosmopolitismus rückt in den Mittelpunkt der Forschung.

In den Sozial- und Kulturwissenschaften haben sich in den letzten Jahrzehnten verschiedene parallel existierende Kosmopolitismus-Konzepte und Definitionen herausgebildet. Steven Vertovec und Robin Cohen ordnen die verschiedenen Ansätze folgenden Gruppen zu.[3] Kosmopolitismus kann demnach gesehen werden

  1. als sozio-kulturelle Kondition
  2. als Philosophie oder Weltanschauung, als Gegenentwurf zum Kommunitarismus
  3. als politisches Projekt, entweder verkörpert in transnationalen Institutionen (z.B. UN, EU) oder durch die politische Sichtweise, dass Menschen mehrere Identitäten haben
  4. als Einstellung oder Disposition („Heterophilie“, Verlangen nach dem Fremden)
  5. als Praktik oder Kompetenz

Literatur

  • Andrea Albrecht: Kosmopolitismus. de Gruyter, 2005, ISBN 3-11-018198-3.
  • Christoph Antweiler: Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus Transcript, 2011, ISBN 978-3-8376-1634-7.
  • Christoph Antweiler: Inclusive Humanism. Anthropological Basics for a Realistic Cosmopolitanism. Göttingen: V+R Unipress & Taipeh: National Taiwan University Press (Reflections on (In)Humanity, 4), 2012, ISBN 978-3-8471-0022-5.
  • Kwame Anthony Appiah: Der Kosmopolit - Philosophie des Weltbürgertums, Übers. aus dem Engl. v. Michael Bischoff, Beck'sche Reihe 1881, Beck Verlag, München 2009, ISBN 978-3-406-58488-6. (engl. Originalausg.: Cosmopolitanism: Ethics in a world of strangers. W. W. Norton and Co, New York/ London 2006, ISBN 0-393-06155-8).
  • Ulrich Beck: Der kosmopolitische Blick. Suhrkamp, 2004, ISBN 3-518-41608-1.
  • Ulrich Beck, Edgar Grande: Kosmopolitisches Europa. Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-518-41647-2.
  • Norbert Bolz (Hrsg.) u. a.: Weltbürgertum und Globalisierung. München 2000, ISBN 3-7705-3510-3.
  • Timothy Brennan: At Home in the World: Cosmopolitanism Now. Harvard University Press, Cambridge 1997, ISBN 0-674-05030-4.
  • Pheng Cheah, Bruce Robbins (Hrsg.): Cosmopolitics. Thinking and Feeling Beyond the Nation. University of Minnesota Press, Minneapolis 1998, ISBN 0-8166-3068-2.
  • Francis Cheneval: Philosophie in weltbürgerlicher Bedeutung. Über die Entstehung und die philosophischen Grundlagen des supranationalen und kosmopolitischen Denkens der Moderne. Schwabe, Basel 2002, ISBN 3-7965-1946-6.
  • Peter Coulmas: Weltbürger – Geschichte einer Menschheitssehnsucht. Rowohlt Verlag, 1990, ISBN 3-498-00885-4.
  • Josef Girshovich, Weltbürgertum, Kosmopolitismus und der Leviathan. Berliner Wissenschaftsverlag, 2015, ISBN 978-3-8305-3429-7.
  • Martina Kamm, Bettina Spoerri, Daniel Rothenbühler, Gianni D'Amato: Diskurse in die Weite. Kosmopolitische Räume in den Literaturen der Schweiz. Seismo Verlag, Sozialwissenschaften und Gesellschaftsfragen, Zürich 2010, ISBN 978-3-03777-081-8.
  • Immanuel Kant: Entwurf zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht. 1784.
  • Benedikt Köhler: Soziologie des Neuen Kosmopolitismus. Wiesbaden 2006, ISBN 3-531-15125-8.
  • Stephan Mögle-Stadel: Die Unteilbarkeit der Erde – Globale Krise, Weltbürgertum und Weltföderation. Bouvier Verlag, 1996, ISBN 3-416-02565-2.
Sowjetunion
  • Harriet Murav: Kosmopolitismus, in: Dan Diner (Hrsg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK). Band 3, Metzler, Stuttgart/Weimar 2012, S. 424–427
Wiktionary: Kosmopolit – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Kosmopolitiker Hammarskjöld. In: Die Zeit. Nr. 46/1956.
  2. s. Arjun Appadurai: Cosmopolitan from Below. Some Ethical Lessons from the Slums of Mumbai. In: Ders.: The Future as Cultural Fact. Essays on the Global Condition. Verso, New York 2013, ISBN 978-1844679829, S. 197 ff.
  3. Steven Vertovec, Robin Cohen: Introduction. Conceiving Cosmopolitanism. In: Dies. (Hrsg.): Conceiving Cosmopolitanism. Theory, Context, and Practice. Oxford University Press, New York 2002, ISBN 978-0199252282, S. 1 ff.