Aprotinin

Pankreatischer Trypsin-Inhibitor (Bos taurus)
Pankreatischer Trypsin-Inhibitor (Bos taurus)

Vorhandene Strukturdaten: s. UniProt

Masse/Länge Primärstruktur 58 Aminosäuren
Bezeichner
Externe IDs
Arzneistoffangaben
ATC-Code B02AB01
Wirkstoffklasse Protease-Inhibitor
Inhibitorklassifikation
MEROPS I02.001

Aprotinin (pankreatischer Trypsin-Inhibitor) ist ein natürliches Polypeptid und ein Proteaseinhibitor.

Das Aprotinin des Hausrinds wird in der Humanmedizin zur Reduktion der Blutungsneigung eingesetzt. Aprotinin wird z. B. bei Operationen am offenen Herzen oder in der Leberchirurgie verabreicht, um den Blutverlust zu reduzieren und den Bedarf an Bluttransfusionen zu minimieren. Im November 2007 wurde es aufgrund von Hinweisen auf erhöhte Nebenwirkungen vorübergehend weltweit vom Markt genommen.

Es wird aus Lungengewebe von Kühen extrahiert. Der Trypsin-Inhibitor wurde 1930 durch den Münchner Arbeitskreis um Ernst Kurt Frey, H. Kraut und E. Werle entdeckt[1] und 1959 von Bayer patentiert.[2] Aprotinin besteht aus 58 Aminosäuren.[3] Aprotinin ist ein Proteaseinhibitor, dessen Hauptwirkung in einer Hemmung der Serinprotease Plasmin besteht, wodurch der Abbau geronnenen Blutes (Fibrinolyse) verlangsamt wird.

Nebenwirkungen

Im Januar 2006 wurden im New England Journal of Medicine die Ergebnisse einer Beobachtungsstudie veröffentlicht[4], nach denen Aprotinin mit einer erhöhten Rate postoperativen Nierenversagens einhergeht.

Ein beratender Ausschuss der amerikanischen Gesundheitsbehörde FDA hat den o. g. Bericht im September 2006 geprüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Aprotinin ein sicheres und effektives Medikament zur Verhinderung von Blutverlusten bei Operationen am offenen Herzen ist. Eine Woche nach der Beratung im September 2006 wurde in der New York Times über Aprotinin berichtet, dass Bayer vorhandene Informationen nicht vollständig vorgelegt habe.

Nach weiterer Prüfung wurde eine neue Risiko-Bewertung vorgenommen, die weiterhin den Einsatz unter bestimmten Bedingungen erlaubte.[5][6] Am 5. November 2007 stoppte Bayer weltweit vorübergehend die Vermarktung. Mit dem Vermarktungsstopp folgte Bayer einer Anordnung[7] des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte und Empfehlungen[8] der US-Zulassungsbehörde FDA.

Im Februar 2008 erschien im The Lancet eine Studie, die die Anwendung von Aprotinin bei bestimmten Operationsmethoden (on-pump) als sicher einschätzte, bei anderen Methoden (off-pump) nicht.[9]

Ebenfalls im Februar 2008 erschienen im New England Journal of Medicine zwei weitere Studien, die bei Verwendung von Aprotinin eine erhöhte Mortalität nach Koronararterien-Bypass-Operation zeigten.[10][11]

Nach der Veröffentlichung der Ergebnisse der kanadischen BART Studie (Blood conservation using antifibrinolytics: A randomized trial in a cardiac surgery population - The BART Study) am 14. Mai 2008[12] hat Bayer alle verbliebenen Restbestände an Trasylol vollständig vom Markt zurückgezogen. Bis zu einer abschließenden Entscheidung des Unternehmens wird Trasylol vorerst nur noch Patienten unter strengen, mit den Behörden abgestimmten Voraussetzungen zur Verfügung stehen.[13]

2012 verkaufte Bayer die weltweiten Vertriebsrechte außerhalb der USA an die Nordic Pharma.[14] Bereits im Februar 2012 war durch die europäische Arzneimittelbehörde EMA empfohlen worden, den Verkaufsstopp aufzuheben, da die Studienergebnisse, auf deren Grundlage das Mittel vor einigen Jahren vom Markt genommen wurde, fehlerhaft gewesen seien. Der Vertrieb des Produkts in Kanada war bereits im September 2011 wieder freigegeben worden. Eine abschließende Entscheidung der Europäischen Kommission wird Ende dieses Jahres erwartet, in der Regel folgt sie jedoch den Empfehlungen der Arzneimittelbehörde. Am 11. November 2013 erfolgte eine teilweise Wiederzulassung zur Verwendung in der Herzchirurgie unter Auflagen.[15]

In vitro Verwendung

Aprotinin ist ein in der Molekularbiologie und Biochemie gängiger Proteaseinhibitor, der insbesondere beim Zellaufschluss und bei der Proteinaufreinigung Verwendung findet. Aprotinin inhibiert Kallikrein, Plasmin, Trypsin, Chymotrypsin und verschiedene intrazelluläre Serinproteasen.[16] Aprotinin ist ein kompetitiver Inhibitor, der durch Bildung stabiler Komplexe die aktive Stelle der Enzyme blockiert. Die reversible Bindung ist im sauren und basischen Milieu instabil.[17] Aprotinin wurde 1930 von Kraut et al. beschrieben und zuerst 1936 von Kunitz und Northrup isoliert.[18][19]

Damit das SARS-CoV2-Virus in Wirtszellen eindringen kann, muss sein Spike-Protein von zelleigenen Proteasen gespalten werden. Aprotinin kann möglicherweise die Zell-Infektion verhindern, weil SARS-CoV2 nicht mehr in die Wirtszellen eindringen kann.[20] Es könnte am ehesten lokal (als Aerosol Spray) bei der frühen Infektion helfen.

Handelsnamen

Monopräparate

Trasylol (A, CH)

Kombinationspräparate

Artiss (A), Beriplast (D, A, CH), Tachocomp (A), Tisseel (A), Tissucol (D, CH)[21][22][23]

Literatur

Einzelnachweise

  1. K. Zimmermann: Bauchspeicheldrüse. In: Franz Xaver Sailer, Friedrich Wilhelm Gierhake (Hrsg.): Chirurgie historisch gesehen. Anfang – Entwicklung – Differenzierung. Dustri-Verlag, Deisenhofen bei München 1973, ISBN 3-87185-021-7, S. 89–106, hier: S. 92.
  2. The Merck Index. An Encyclopaedia of Chemicals, Drugs and Biologicals. 11. Auflage. 1989.
  3. UniProt P00974
  4. Mangano DT, Tudor IC, Dietzel C; Multicenter Study of Perioperative Ischemia Research Group; Ischemia Research and Education Foundation. The risk associated with aprotinin in cardiac surgery. N Engl J Med. 2006;354(4):353–65 Link zum Journal PMID 16436767.
  5. FDA Statement vom 29. September 2006
  6. FDA-News vom 15. Dezember 2006.
  7. A. Thiele: Abwehr von Gefahren durch Arzneimittel / Aprotinin-haltige Arzneimittel für die intravenöse Anwendung. Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte. 5. November 2007, abgerufen am 13. Februar 2017 (PDF; 56 kB).
  8. FDA Pressemitteilung vom 5. November 2007.
  9. Abstract aus The Lancet.
  10. Schneeweiss, Sebastian et al.: Aprotinin during Coronary-Artery Bypass Grafting and Risk of Death. In: N Engl J Med. Nr. 358, 2008, S. 771–783, doi:10.1056/NEJMoa0707571.
  11. Shaw, Andrew D: The Effect of Aprotinin on Outcome after Coronary-Artery Bypass Grafting. In: N Engl J Med. Nr. 358, 2008, S. 784–793, doi:10.1056/NEJMoa0707768.
  12. Dean A. Fergusson et al.: A Comparison of Aprotinin and Lysine Analogues in High-Risk Cardiac Surgery. In: N Engl J Med. Nr. 358, 2008, S. 2319–2331, doi:10.1056/NEJMoa0802395.
  13. FDA news vom 14. Mai 2008.
  14. Nordic Pharma and Clinigen sign global Trasylol supply deal. Fierce Biotech, 24. Mai 2018, abgerufen am 10. Februar 2024.
  15. Singbartl G., Singbartl K., Todt H., Schindler E., Martin K., Tassani-Prell P. (2016) Antifibrinolytika–Tranexamsäure und Aprotinin. In: Singbartl G., Singbartl K. (eds) Transfusionsassoziierte Pharmakotherapie. Springer, Berlin, Heidelberg. ISBN 978-3-662-47258-3. S. 71–170.
  16. Aprotinin bei Sigma-Aldrich (PDF-Datei).
  17. E. S. Zyznar: A rationale for the application of trasylol as a protease inhibitor in radioimmunoassay. In: Life sciences. Band 28, Nummer 17, April 1981, S. 1861–1866, PMID 6166824 (Review).
  18. H. Kraut, E. K. Frey, E. Werle: Über die Inaktivierung des Kallikreins. (VI. Mitteilung über dieses Kreislaufhormon.). In: Hoppe-Seyler´s Zeitschrift für physiologische Chemie. 192, 1930, S. 1, doi:10.1515/bchm2.1930.192.1-3.1.
  19. M. Kunitz, J. H. Northrop: ISOLATION FROM BEEF PANCREAS OF CRYSTALLINE TRYPSINOGEN, TRYPSIN, A TRYPSIN INHIBITOR, AND AN INHIBITOR-TRYPSIN COMPOUND. In: The Journal of general physiology. Band 19, Nummer 6, Juli 1936, S. 991–1007, PMID 19872978, PMC 2141477 (freier Volltext).
  20. Denisa Bojkova, Marco Bechtel, Katie-May McLaughlin, Jake E. McGreig, Kevin Klann: Aprotinin Inhibits SARS-CoV-2 Replication. In: Cells. Band 9, Nr. 11, 2020, S. 2377, doi:10.3390/cells9112377 (mdpi.com [abgerufen am 31. Oktober 2020]).
  21. Rote Liste online, Stand: September 2009
  22. AM-Komp. d. Schweiz, Stand: September 2009
  23. AGES-PharmMed, Stand: September 2009