Der Blindensturz

Das querformatige Gemälde „Blindensturz“ aus dem Jahre 1568 hat die Abmessungen 154 cm mal 86 cm, ist also etwa doppelt so breit wie hoch. Es zeigt eine Gruppe blinder Männer, die im Gänsemarsch von links nach rechts das Bild durchqueren und einer nach dem anderen ins Straucheln geraten. Die Szene spielt auf einer in blassen Brauntönen gehaltenen Dorfwiese. Links sieht man zwischen einigen dürren Bäumen die braunen Dächer zweier mit Reet gedeckter Häuser, rechts einen von Bäumen umstandenen Weiher oder Bach. Den Hintergrund bilden ein sanft geschwungener Hügel und, neben einigen weiteren Bäumen, eine in zarten Blautönen dargestellte Dorfkirche. Es könnte Spätsommer oder beginnender Herbst sein. Die Wiese endet vorn links im Bild an einem jähen Abbruch, der weißen Lehmboden zu Tage treten lässt; entlang dieser Abbruchkante bildet die Wiese eine Schräge. Die sechs Männer – unschwer als Blinde zu erkennen – bewegen sich auf dieser Schräge in einer flachen Diagonale von links oben nach rechts unten durch das Bild. Sie tragen typisch mittelalterliche Kleidung in vorwiegend Grau- und blassen Blautönen: Bundhosen mit weißen Strümpfen und schwarzen Schuhen, darüber ein Wams oder einen Rock, von einem Gürtel zusammengehalten, an dem mancher eine Ledertasche befestigt hat. Alle haben weite, am Hals gebundene und vorn offene Umhänge um die Schultern geworfen; jeder trägt eine Kopfbedeckung – einen Hut, eine Kappe oder eine Haube. Jeder zweite hat einen langen, hölzernen Stab in der Hand. Die Blinden sind wie an einer Kette aufgereiht unterwegs, jeder hat die Schulter des Vorangehenden oder dessen nach hinten gereichten Blindenstab erfasst, den Kopf mit den blinden Augen emporgehoben – während wohl jeder Sehende den Blick auf den unebenen Boden gerichtet hätte. Der vorderste der Männer ist gestürzt. Er liegt nun mit dem Rücken in dem Gewässer am rechten Bildrand, die angewinkelten Beine dem Betrachter entgegen gestreckt und die Arme hilflos emporgehoben. Der zweite in der Reihe wurde von dem Gestürzten mitgerissen und ist im Moment des Fallens dargestellt. Sein Körper ist bereits um 45 Grad nach vorn (im Bild nach rechts) gekippt, er hat den Kopf dem Betrachter zugewandt – der Schrecken ist ihm ins Gesicht geschrieben. Der Dritte folgt auf den Zweiten nach einer kleinen Lücke und befindet sich in der vorderen Bildmitte. Er hält den Stock des Zweiten mit der nach vorn gestreckten Linken fest, kommt dadurch ins Stolpern und ist bereits ein wenig nach vorn (im Bild nach rechts) geneigt. Sein Gesicht zeigt die Verwunderung über das Geschehen vor ihm, das er wohl nur erahnen kann. Die drei anderen, in der linken Bildhälfte, ahnen noch nicht, was ihnen blüht, sie tappen, einander an den Schultern haltend, von links im Gänsemarsch hinterher. Die Bilder der sechs Gestalten erinnern an die Einzelbilder eines Films, sie könnten auch die Bewegung eines einzelnen Strauchelnden in sechs Phasen zeigen, der von links nach rechts, entlang der fallenden Diagonalen, mit zunehmender Neigung durch das Bild kippt und schließlich zum Liegen kommt.
Der Blindensturz
Pieter Bruegel der Ältere, 1568
Tempera auf Leinwand
86 × 154 cm
Museo Nazionale di Capodimonte

Der Blindensturz ist ein Gemälde des niederländischen Malers Pieter Bruegel des Älteren. Das 154 cm × 86 cm große Tempera-Gemälde auf Leinwand entstand 1568. Es ist heute im Museo di Capodimonte in Neapel zu besichtigen. Mehrere Kopien dieses Bildes sind bekannt, ein 118 cm × 168 cm großes Ölgemälde auf Holz befindet sich im Louvre in Paris.

Das Gemälde

Aufbau und Gestaltung

Der Bildausschnitt zeigt Kopf und Schultern des zweiten Blinden. Er trägt einen hellgrauen Umhang und eine weiße Haube, deren Haltebänder er nicht geschlossen hat. Er ist unrasiert, und sein strähniges, braunes Haar tritt unter der Haube hervor. Er hat das Gesicht dem Betrachter zugewandt, seine großen, kreisrunden Augenhöhlen sind leer – ihm wurden die Augen ausgestochen.
Ausgestochene Augen (Detail)

Die Gruppe bildet eine Diagonale von links oben bis rechts unten, vom Betrachter durch einen plötzlichen Abbruch (linke untere Ecke) getrennt. Direkt hinter dem ersten Blinden liegt eine Wasserfläche, welche die Gruppe von den Dorfhäusern am jenseitigen Ufer abschneidet – in der rechten oberen Bildhälfte steht eine Kirche. Bruegel stellt auf dem abschüssigen Gelände Sturzbewegungen in verschiedenen Phasen dar. Die fünfte Figur von links, die eben im Begriff ist, wie ein Gefährte in den Tümpel zu stürzen, wendet sich als Einzige dem Betrachter zu. Die Darstellung ist so exakt, dass sich bei dreien von ihnen die Ursache der Blindheit feststellen lässt: Der Dritte von links leidet an einem Leukom, der Vierte an Schwarzem Star und dem Fünften wurden die Augen ausgestochen.[1]

Im Gegensatz zu seinen Tanz- und Hochzeitsbildern nutzt Bruegel kaum Farbkontraste und eine sehr reduzierte Palette aus Braun- und Blaugrautönen.[2]

Das Motiv

Das Gemälde beruht auf der Parabel des Blindensturzes aus der Bibel. Im Matthäus-Evangelium sagt Jesus im 15. Kapitel über die Pharisäer: „Lasst sie, sie sind blinde Blindenführer. Wenn aber ein Blinder den anderen führt, so fallen sie beide in die Grube.“ (Mt 15,14 EU)

Dieses Motiv wurde in der Renaissancezeit von verschiedenen Malern aufgegriffen und unterschiedlich umgesetzt. Bruegel bezieht es ganz auf die Zeit, in der er lebte, und deutet den religiösen Kontext lediglich an.

Hintergrund und Deutung

Der Bildausschnitt zeigt jeweils Oberkörper und Kopf des dritten (rechts) und des vierten Blinden, im Hintergrund den Hügel und davor ein Bauernhaus. Der linke hat die Hand auf die Schulter des vor ihm Gehenden gelegt. Er trägt einen hellen Umhang über einem ledernen Wams und einen Hut über einer weißen Stoffhaube. Er hat das bartlose Gesicht mit halb geöffnetem Mund nach oben gerichtet. Der rechte hat einen Umhang mit schwarzer Passe über die dunkle Weste geworfen. Er hat einen schwarzen Dreitagebart, unter der dunklen Haube tritt schwarzes, kurzes Haar hervor. Die Darstellung der Augen der beiden ist so präzise, dass Experten beim Linken ein Glaukom und beim Rechten schwarzen Star diagnostizieren konnten.
Leukom und Schwarzer Star (Ausschnitt)

In der Renaissance wurden Blinde üblicherweise mit geschlossenen Augen dargestellt. Bruegel verfuhr anders, er hat seine Zeitgenossen genau betrachtet. In seiner Welt gab es viele Blinde, nicht alle waren es von Geburt an, vielmehr taten vor allen Dingen mangelhafte Hygiene und Krankheiten das ihre dazu. In einem medizinischen Werk von 1585 werden allein 113 Augenkrankheiten erwähnt; Heilung gab es für die Betroffenen oft nicht. Und weil Blinde auf Almosen angewiesen waren, sie also auf der Tasche anderer liegend empfunden wurden, gehörten viele von ihnen zu den Bettlern, die kränklich, zerlumpt und verwahrlost auf der Straße lebten. Dementsprechend stellt Bruegel seine Blinden dar. Nach der calvinistischen Lehre galt Blindheit als Strafe: Wen Gott im Elend beließ, der hatte es verdient. Der diagonal abwärts gewandte Weg der Personengruppe weist auf den bevorstehenden Sturz auch der übrigen Gruppe hin. Über dem Wasser des Tümpels, an dessen Rand der erste Blinde zu Fall kam, hängt eine weiße Madonnen-Lilie. Lilien galten als Zeichen der Reinheit und Erlösung; ob diese den Stürzenden gewährt wird, sagt Bruegel nicht.

Das Bild zeigt die schlanke Front einer kleineren gotischen Dorfkirche. Sie steht zwischen entlaubten Bäumen vor winterlichem, blaugrauem Himmel auf einer ummauerten Anhöhe. Der Turm trägt ein hohes, spitzes Dach mit Kreuz, unmittelbar unter dem Dach zwei Fenster mit gotischen Spitzbögen und ein weiteres über dem geschlossenen Eingangsportal.
Die gotische Dorfkirche St. Anna (Sint Anna Pede) im belgischen Dilbeek

Die Bedeutung der Kirche im Hintergrund ist bei Kunsthistorikern umstritten. Drei verschiedene Ansätze gibt es, von denen sich keiner behaupten konnte. Einige meinen, die Kirche habe keine Bedeutung, da Bruegel solche oft in seine Bilder integriert habe. Andere erklären sie im Hinblick auf den religiösen Hintergrund, der verdorrte kleine Baum vor ihr (fast nur ein trockener Ast) signalisiere, dass sie, die von Pharisäern geführt werde, nutzlos geworden sei. Eine dritte Gruppe wiederum sieht in der besonderen Position, die die Kirche im Bild einnehme, einen moralischen Hinweis: Sie sei nicht von ungefähr zwischen den zwei schon gestürzten Blinden und der Gruppe der vier letzten platziert: Hieraus ergebe sich der Hinweis, dass die beiden ersten verloren, die anderen vier aber noch zu retten seien.

Identifizierbar ist das Bauwerk als Dorfkirche St. Anna bei Brüssel.[3]

Rezeption

  • Elias Canetti gibt im Kapitel „Simsons Blendung“ des zweiten Bandes seiner Autobiografie, Die Fackel im Ohr (Seite 111), eine Bildbeschreibung dieses Gemäldes, das – wie die Blendung Simsons – motivische Schlüsselfunktion für seinen Roman Die Blendung hat.
  • Gert Hofmann hat mit der Erzählung Der Blindensturz (Darmstadt 1985) dem Meisterbild eine Meistererzählung über das Gemälde gegenübergestellt.

Literatur

  • Jürgen Müller: Von Kirchen, Ketzern und anderen Blindenführern – Pieter Bruegels d. Ä. Blindensturz und die Ästhetik der Subversion; In: Piltz, Eric (Hrsg.): Gottlosigkeit und Eigensinn: Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter, Duncker und Humblot, Berlin 2015, ISBN 978-3-428-14481-5, S. 493–530.[1]
  • Rose-Marie Hagen, Rainer Hagen: Meisterwerke im Detail. Band 2. Taschen Verlag, Köln u. a. 2003, ISBN 3-8228-1371-0.
  • Heinke Sudhoff: Ikonographische Untersuchungen zur „Blindenheilung“ und zum „Blindensturz“. Ein Beitrag zu Pieter Bruegels Neapler Gemälde von 1568. Bonn 1981, (Bonn, Univ., Diss., 1980).

Siehe auch

Belege

  1. Rose-Marie und Rainer Hagen –- Pieter Bruegel d. Ä. –- Bauern, Narren und Dämonen, Köln: Benedikt Taschen Verlag GmbH 1999 S. 80
  2. Pieter Bruegel d. Ä. –- Bauern, Narren und Dämonen, S. 75
  3. Gerhard Larchner/Karl M. Woschitz – Religion, Utopie, Kunst: die Stadt als Fokus, Wien: Lit-Verlag 2005 S. 57 ISBN 3-8258-7724-8

Weblinks

Commons: Der Blindensturz – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien