Rabbinerseminar Wilna

Tyszkiewicz-Palast Vilnius

Das Rabbinerseminar in Wilna (hebräisch בית המדרש לרבנים בווילנה) war ein staatlich gefördertes und verwaltetes Seminar zu Zeiten des Russischen Zarenreiches von Nikolaus I. und Alexander II. in Wilna (heute Vilnius Hauptstadt von Litauen) und wurde gleichzeitig mit dem Rabbinerseminar Schitomir im Jahre 1847 gegründet. Es befand sich in der Nähe der Altstadt, gegenüber dem Tyszkiewicz-Palast, in einem gemieteten Gebäude an der Zawalna Straße (heute Vilnius Straße (litauisch Vilniaus gatvė)) auf dem heutigen Stanislovas Moniuška Platz. In einer zweiten Publikation wird der Seminarstandort in die in der Nähe gelegenen Pylimo Straße (litauisch Pylimo gatvė) Hausnummer 22 D verortet.[1] Das Rabbinerseminar bestand von 1847 bis 1873, bildete Lehrer und Rabbiner für den Staatsdienst aus und gehörte zu den ersten höheren jüdischen staatlichen Schulen.

Geschichte des Seminars

Gouvernement Wilna (1897)

Unter Nikolaus I.

Um die jüdischen Bildungsreformvorgaben von Zar Nikolaus und seinem Minister für Volksbildung Sergei Semjonowitsch Uwarow im Jahre 1845 umzusetzen, entwickelten jüdische Gelehrte die Idee von Rabbiner- und Lehrerseminaren, mussten aber für die Leitung einen vom Staat vorgegebenen christlichen Inspektor und offizielle Lehrbücher hinnehmen.[2] Der Experte für jüdische Angelegenheiten im Bildungsministerium Russlands, der Gelehrte (Maskil) Leon Aryeh Loeb Mandelstam (1819–1889), vermittelte in den ersten 10 Jahren (1847–1857) des Bestehens des Seminars zwischen Regierung und den Lehrern und organisierte die Produktion von Seminarlehrbüchern.[3]

Zeitweise gab es auch aufgeschlossene traditionelle Rabbiner und Lehrer unter den Gründern der Seminare, die beabsichtigten, die vom Staat oder von radikalen jüdischen Reformern diktierten Veränderungen vorherzusehen und zu moderieren, stießen dabei aber auf Kritik und Misstrauen in den eigenen Reihen. Als Beispiel zählt Israel Salanter dem man die Leitung des Seminars anbot, er sich aber weigerte eine solche, nach seinen Worten, gotteslästerische Anstalt zu übernehmen.[4]

Das im Ansiedlungsrayon liegende Gouvernement Wilna hatte einen 12 bis 14-prozentigen jüdischen Bevölkerungsanteil. Im Gebiet von Wilna wurde Polnisch und Jiddisch gesprochen. Die Regierung deklarierte Russisch als die offizielle Unterrichtssprache für jüdische Schulen, aber die Unkenntnis dieser Sprache bedeutete, dass Deutsch bis zur erzwungenen Integrationspolitik nach dem polnischen Januaraufstand von 1863 verwendet wurde.

Zur Eröffnung der Schule 1847 gab es 63 Schüler, Ende der 1850er Jahre waren es 300 und in den 1860er Jahren 400 Einschreibungen.

Bekannte Lehrer (Auswahl)

Sekundarschullehrer unterrichteten Allgemeinbildung und renommierte jüdische Aufklärer (Maskilim) unterrichteten jüdische Fächer.

  • Abraham Dob Lebensohn
  • Kalman Schulmann
  • Josua Steinberg (Yehoshu'a Steinberg), Grammatiker, Sprachlehrer und Übersetzer, Nachfolger von Abraham Dob Lebensohn[5]
  • Salomon Ben Baruch Salkind (unbekannt–14. März 1868), einer der ersten Lehrer des Seminars, Hebräischer Dichter[6]
  • Shemu'el Yosef Fuenn (1818–1890), Geschichtslehrer des Seminars und Inspektor der staatlichen jüdischen Schulen in Wilna[7]
  • Tsevi Hirsh Katzenellenbogen (1796–1868)
  • Ḥayim Leib Katzenellenbogen, Sohn von Tsevi Hirsh Katzenellenbogen als sein Nachfolger
  • Yehudah Idel Shereshevskii (Yehudah Idel ben Binyamin Shersheṿsḳi) (1804–1866), Talmudist und Hebraist
  • Il'ia Shereshevskii, Sohn von Yehudah Idel Shereshevskii als sein Nachfolger
  • Tsevi Hirsh Klaczko (Kljaczko) (1790–1856) Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Wilna, gründete mit Nisan Rosenthal die erste jüdische Elementarschule in Wilna[8]
  • Wolf Tugenhold (1797–1864) Autor und jüdischer Zensor

Unter Alexander II.

Ha-Karmel

Im Jahre 1856 genossen die Absolventen des Seminars neue Privilegien wie Ortsfreiheit, Anerkennung ihrer Diplome an Universitäten und Zulassung zum öffentlichen Dienst für jüdische Akademiker ab dem Jahre 1861.

Unter der Schirmherrschaft des Kaufmannes der zweiten Gilde Aaron Lebenson (Ehrenamt als amtlicher Aufseher 1859–1873), Sohn von Abraham Dob Lebensohn, umfasste das Seminar in Wilna ein Kulturzentrum mit einer Bibliothek, eine Sabbatschule, ein Waisenhaus und einen Hilfsfonds.[9][10]

Ab dem Jahre 1861 verfassten die Schüler und Lehrer des Seminars wöchentlich eine russische Beilage zur hebräischen Zeitschrift Ha-Karmel (haKkarmel).[11]

Zu Beginn der 1870er Jahre begann die revolutionäre Bewegung, Anhänger aus dem Rabbinerseminar anzuziehen, darunter, Aaron Isaakowitsch Sundelewitsch, Aharon Saamuel Lieberman, Waldemar Jochelson und Lev Kantor.

Das Rabbinerseminar hatte seine Funktion der Akkulturation der jüdischen Bevölkerung erfüllt. Die russische Regierung empfand solche Institutionen in dieser frühen revolutionären Periode als zunehmend politisch riskant.[12]

Im Jahre 1873, nach der Änderung der Staatspolitik gegenüber Polen und mit dem Stopp der Bildungsreform unter dem Bildungsminister Graf Dmitri Andrejewitsch Tolstoi, wurden die Seminare in Wilna und Schitomir in jüdische Lehrerausbildungsinstitute umgewandelt.[13]

Das Hauptaugenmerk der Einrichtung lag auf der Philologie und brachte eine neue jüdisch-russische Elite hervor.[14]

Die Regeln

Das Seminar nahm Jungen ab dem Alter von 10 Jahren auf, sowohl zahlende Schüler als auch Stipendiaten, wobei Lehrerkinder, Waisen und Arme bevorzugt wurden. Die Unterbringung erfolgte im Internat unter christlicher Leitung. Die Kapazität des schuleigenen Wohnheims umfasste 65 Plätze. Von den Schülern wurde eine doppelte Loyalität, gegenüber dem Staat, den jüdischen Traditionen und der jüdischen Religion, gefordert. Es wurde eine Schuluniform mit Schirmmütze getragen.

Die Schüler erhielten eine siebenjährige jüdische und allgemeine Sekundarschulausbildung, gemäß den Grundsätzen der Haskala, einschließlich traditioneller jüdischer Bildungselemente, wie Bibelstudien, Talmud, Ethik, jüdisches Recht, jüdische Geschichte sowie aramäische und hebräische Sprache und Literatur. Zur allgemeinen Ausbildung zählten russische Geschichte, russische Sprache, Geometrie, Astronomie, Algebra, Trigonometrie, Weltgeschichte, Handschrift, Zeichnen und Geographie.

Zum Abschluss der Ausbildung folgte entweder eine einjährige Lehrerausbildung oder eine zweijährige Ausbildung für das Rabbinat. Die Stipendiaten waren verpflichtet, für einen obligatorischen Zeitraum von 6–10 Jahren zu unterrichten.[15]

Initiatoren des Rabbinerseminars Wilna

Bekannte Absolventen (Auswahl)

  • Abraham Drabkin (1844–1917), Rabbiner in Sankt Petersburg
  • Salomon Mandelkern (1846–1902), jüdischer neuhebräischer Dichter, Philologe, Jurist, Übersetzer, Hebraist, Kabbalist, Talmudist, Sprachlehrer, Bibelwissenschaftler, Philosoph, Dolmetscher, Lexikograf, Rabbiner und Schriftsteller
  • Abraham Harkavy (1835–1919), jüdischer Historiker, Bibliothekar und Orientalist
  • Aaron Isaakowitsch Sundelewitsch (1853 oder 1854–1923), Rechtsanwalt, Sozialrevolutionär (Narodniki), Gründer eines geheimen Studentenbundes innerhalb des Seminars
  • Waldemar Jochelson (1855–1937), Anthropologe, Ethnograph und Linguist
  • Jehuda Leib Gordon (1830–1892), Pädagoge, Dichter, Schriftsteller und Autor der Haskala[4]
  • Abraham Jacob Paperna (1840–1919), Pädagoge und Autor
  • Lev Osipovich Levanda (1835–1885), von 1850 bis 1854 Ausbildung in Seminar (Abschluss als Pädagoge), Schriftsteller und Journalist[16]
  • Aharon Shemu'el Lieberman (Aaron Samuel Liebermann) (1843–1880), Übersetzer, Lehrer, politischer Essayist und Begründer des jüdischen Sozialismus in Russland[17]
  • Lev Kantor (1849–1915), Rabbiner und Publizist
  • Aron Pumpjanskij (1835–1893), Kronrabbiner in Riga
  • Zelik Kushelevich (Solomon Alexeevich) Minor (1829–1900), Rabbiner in Moskau
  • Solomon (Shelomoh) Pucher (1829–1899), Kronrabbiner in Mitau von 1859 bis 1890 und Kronrabbiner in Riga Nachfolger von Aron Pumpjanskij (von 1893 bis 1898)[18]
  • Adolph Landau (1842–1902), Erzieher und Journalist
  • Chaim Lev Katzenellenbogen (1814–1876)
  • Nicolai Ignattyevich Bakst (1842–1904), Professor für Medizin
  • Osip Ignattyevich Bakst (1834–1895), Übersetzer, Verleger und Revolutionär
  • Vladimir Harkavi (1846–1912), Jurist
  • Michail Morgulis (1837–1912), Anwalt in Odessa
  • Mikhail (Michail Ignatyevitch) Kulisher (1847–1919), Anwalt, Ethnograph und Journalist

Rabbinerseminar Wilna 1847-1873 Orginaldokumente (Russisch) auf The Edward Blank YIVO Vilna Online Collections (vilnacollections.yivo.org (en))

Einzelnachweise

  1. Jüdischer Kulturerbe-Straßenverein, Fakultät für Geschichte der Universität Vilnius: Vilniaus rabinų seminarija – pasaulietinis švietimas ir bendruomenės pasipriešinimas (ltS). lrt.lt, abgerufen am 17. September 2022.
  2. Svetlana Bogojavļenska: Die jüdische Gesellschaft in Kurland und Riga 1795-1915. Ferdinand Schöningh, 2012, ISBN 978-3-506-77128-5, S. 39 bis S. 40 (google.de).
  3. Eva-Maria Auch, Trude Maurer: Leben in zwei Kulturen Akkulturation und Selbstbehauptung von Nichtrussen im Zarenreich. Harrassowitz, 2000, ISBN 978-3-447-04338-0, S. 79 (google.de).
  4. a b Verena Dohrn: Baltische Reise: Vielvölkerlandschaft des alten Europa. FISCHER Digital, 2015, ISBN 978-3-10-560119-8, S. 246 (google.de).
  5. DR. Ludwig Philippson: Allgemeine Zeitung des Judenthums ein unpartheiisches Organ für alles jüdische Interesse in Betreff von Politik, Religion, Literatur, Geschichte, Sprachkunde und Belletristik · Band 36. Baumgartner`s Buchhandlung, 1872, ISBN 978-3-8258-1506-6, S. 815 (google.de).
  6. Isidore Singer,M. Seligsohn: Salomon Ben Baruch Salkind. In: Bibliographie (en). jewishencyclopedia.com, 2021, abgerufen am 17. September 2022.
  7. Jan-Hendrik Wulf: Spinoza in der jüdischen Aufklärung Baruch Spinoza als diskursive Grenzfigur des Jüdischen und Nichtjüdischen in den Texten der Haskala von Moses Mendelssohn bis Salomon Rubin und in frühen zionistischen Zeugnissen. Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, ISBN 978-3-05-006042-2, S. 492 (google.de).
  8. Tobias Grill: Der Westen im Osten Deutsches Judentum und jüdische Bildungsreform in Osteuropa (1783-1939). Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, ISBN 978-3-525-57029-6, S. 85 (google.de).
  9. Hans Uebersberger, Osteuropa-Institut München: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas, Band 45. Priebatsch's Buchhandlung, 1997, S. 394 (google.de).
  10. Tobias Grill: Der Westen im Osten Deutsches Judentum und jüdische Bildungsreform in Osteuropa (1783-1939). Vandenhoeck & Ruprecht, 2013, ISBN 978-3-525-57029-6, S. 194 (google.de).
  11. Eva-Maria Auch, Trude Maurer: Leben in zwei Kulturen Akkulturation und Selbstbehauptung von Nichtrussen im Zarenreich. Harrassowitz, 2000, ISBN 978-3-447-04338-0, S. 75 (google.de).
  12. Eva-Maria Auch, Trude Maurer: Leben in zwei Kulturen Akkulturation und Selbstbehauptung von Nichtrussen im Zarenreich. Harrassowitz, 2000, ISBN 978-3-447-04338-0, S. 74 (google.de).
  13. DR. Ludwig Philippson: Allgemeine Zeitung des Judenthums ein unpartheiisches Organ für alles jüdische Interesse in Betreff von Politik, Religion, Literatur, Geschichte, Sprachkunde und Belletristik · Band 37. Baumgartner`s Buchhandlung, 1873, S. 377 (google.de).
  14.  Jacobus Cornelis de Vos: Interesse am Judentum die Franz-Delitzsch-Vorlesungen 1989-2008. Lit, 2008, ISBN 978-3-8258-1506-6, S. 309 (google.de).
  15. Verena Dohrn: Seminary (en). yivoencyclopedia.org, 1997, abgerufen am 10. September 2022.
  16. Gabriella Safran: Lev Osipovich Levanda. In: Jews in Eastern Europe (en). yivoencyclopedia.org, 2010, abgerufen am 16. September 2022.
  17. Hans Keilson: Werke in zwei Bänden Bd. 1: Romane und Erzählungen Bd. 2: Gedichte und Essays. FISCHER E-Books, 2016, ISBN 978-3-10-490365-1, S. 645 (google.de).
  18. Svetlana Bogojavļenska: Die jüdische Gesellschaft in Kurland und Riga 1795-1915. Ferdinand Schöningh, 2012, ISBN 978-3-506-77128-5, S. 91 (google.de).