Benutzer:Ulrich.fuchs

Hiermit trete ich von meinem Amt als Administrator mit sofortiger Wirkung zurück. Für eine Wiederwahl stehe ich nicht zur Verfügung. Ich sehe ein, dass ich ein übertriebener Pedant und manchmal ein alle Grenzen überschreitender Spinner war.

Die Ereignisse der letzten Tage haben mir deutlich vor Augen geführt, dass das Projekt Wikipedia mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit scheitern wird. Den Hauptgrund sehe ich darin, dass die Mannschaft der Administratoren ihrer Aufgabe nicht gerecht werden will, das Projekt in Richtung des gewünschten Ziels (Enzyklopädie) zu steuern. Ward Cunningham hat wohl doch Recht, aber es liegt daran, dass diejenigen, die das Schicksal abwenden könnten, sich viel zu fein sind, mal irgendwo in Dreck zu packen und sich auch mal für das Projekt und gegen die aufzustellen, die es vor die Wand fahren werden. Der - böses Wort - Mob hat das Projekt mittlerweile übernommen und steuert es unwidersprochen auf das Restniveau des Internets herab. Die Admins schlafen den Schlaf der Gerechten: Trolls werden nicht länger ratzfatz vor die Tür gesetzt, sondern Administratoren verbrüdern sich je nach aktueller Situation mit ihnen. Oder man füttert sie wahlweise im Vermittlungsausschuss bzw. auf Adminitratoren/Probleme auch noch an. Ihre belegbar falschen Behauptungen bleiben nicht nur unwidersprochen (bzw. werden kurzerhand gelöscht), sondern sogar noch weiter kolportiert, weils gerade so schön in den Kram passt. Der neutrale Standpunkt wird nicht etwa mit Zähnen und Klauen von allen Admins verteidigt, sondern über Bord geworfen, wenn ein paar Trolle nur lang genug laut genug schreien. Spinnern, die ihren esoterischen Quark oder ihre privaten politischen Meinungen hier als Wissenschaft bzw. als allgemein akzeptierte Aussagen hinstellen, werden nicht etwa solange Steine in den Weg geworfen, bis sie abziehen (was durchaus unter dem neutralen Standpunkt machbar ist). Admins schauen tatenlos zu, während die Wikipedia mit unsinnigsten Platzhalterartikeln zugemüllt wird, ohne die entsprechenden User mal wenigstens darauf anzusprechen. Verfahren, die sich die Community gegeben hat, werden nach Belieben im IRC mal einfach ausser Kraft gesetzt.

Das ganze gilt nicht für alle, aber offenbar für den größeren Teil der Admins. Diejenigen, die hier die Qualität hochhalten wollten, haben vor dieser Kamarilla der Webdesigner und Wikifetischisten unter den Admins leider zum großen Teil resigniert. Diese sabotieren mittlerweile systematisch die Ziele, die die Wikipedia erreichen will, weil sie das Wiki als Selbstzweck und zur Befriedigung ihres persönlichen Spieltriebs, nicht als Mittel zum Zweck verstehen. Dieser Teil der Admins konterkariert mit undeletes, Entsperrungen, Solidarisierungen etc. jedes Bemühen, eine Arbeitsatmosphäre zu schaffen, in der Leute sich wohlfühlen, die hochwertige Inhalte schaffen wollen, und diejenigen sich unwohl fühlen, die hier nur ihren Spieltrieb und ihre persönlichen Fixationen ausleben wollen. Es geschieht genau anderesrum - diejenigen, die hier noch Texte schreiben, die wenigstens ein bisschen in die Tiefe gehen, kann man mittlerweile an zwei oder drei Händen abzählen.

Das ganze ist nicht etwa aus der Luft gegriffen. Die durchschnittliche Artikellänge wächst seit Monaten kaum noch - ein Alarmzeichen bei weiterhin steigenden Benutzer- und Artikelzahlen: Wir wachsen seit einem halben Jahr definitiv in die Breite (wie ein aufschlagender Kuhfladen, und zwar ähnlich unansehlich), und das bei nach drei Jahren noch nicht ansatzweise erkennbarer Tiefe. Schaut Euch doch mal Artikel wie Kunst oder Kultur oder Gewalt oder Schönheit oder Liebe oder Hass an. Sowas müssten Aushängeschilder sein, sie sind ne einzige braune Masse. Noch nichtmal im Bereich Computer oder Internet, wo eigentlich unsere Hauptqualifikation sein müsste, kriegt es die Wikipedia fertig, mal drei oder vier Seiten Text zu produzieren (dafür jede Menge nichtssagende Listen). Von den inhaltlichen Fehlern, die in den Texten sind, mal ganz zu schweigen; beim Lesen des Wikireaders Internet (für den die Artikel angeblich extra nochmal überarbeitet worden waren) zuckte meine Hand mindestes drei Mal pro Seite nach dem nicht vorhandenen Rotstift, weil so grottenfalscher Unfug drinstand.

Immer und immer wieder höre ich von gestandenen Akademikern meines Bekanntenkreises Äußerungen wie: "Auf das Niveau dieser Amateurartikel begebe ich mich nicht runter". Die wenigen erfahrenen Akademiker, die wir mal hatten, sind mittlerweile so gut wie alle abgesprungen. Warum wohl? Sicher nicht, weil sie nicht schreiben durften, was sie wollten, sondern weil zu viele andere schreiben durften, was sie wollten. Weil hier an den Stellen, wo's drauf ankäme, viel zu viel Pro-Sieben-Niveau herrscht und viel zu wenig Wissenschaft.

Kein Wunder. Die wenigsten kucken sich noch die recent-Changes von anonymen Usern an, Scheiß wie dieser passiert unbemerkt die Liste der neuen Artikel. Wikipedia ist dank immer mehr Listen und Kategorien und Navigationsleisten längst eine Sammlung interner Referenzen und von hingekotzen Stichwortbrocken. Bestenfalls zwei Prozent aller Änderungen fügen einem Artikel einen(!) neuen Satz hinzu, aber bei den "Siehe auchs" und den Weblinks da sind wir ganz toll.

Das hat im übrigen nichts mit Elite-Denken zu tun. Aber wer eine Enzyklopädie machen will, der sollte mit solchen Leuten arbeiten, die schon mal eine Enzyklopädie aufgeschlagen haben, wissen, wie sowas ungefähr aussieht und sie als Arbeitsmittel zu schätzen wissen. Man sollte sich nicht einen Mitarbeiterstamm heranziehen, von dem 90% nicht zu wissen scheinen, was eine Enzyklopädie ist, und das dann auch noch als tollen Vorteil ("wir definieren Enzyklopädie neu") hinstellen. Man sollte primär mit Leuten arbeiten, die Spass daran haben, Texte zu erstellen, nicht mit Leuten, die Spass daran haben, schöne bunte Webseiten zu basteln. Man sollte mit Leuten arbeiten, die was von ihrem Fach verstehen und diese Wissen weitergeben wollen, nicht mit Leuten, die nichts von dem verstehen, worüber sie schreiben, aber das Nichtwissen unbedingt unters Volk bringen möchten.

Der Inhalt eines Wikis und diejenigen, die am Wiki mitarbeiten, verstärken sich gegenseitig. Guter Inhalt zieht gute Autoren, mittelmäßiger Inhalt zieht eben nur noch mittelmäßige Autoren, und Nullinhalt zieht Leute, die ohne Ahnung von tuten und blasen haben völlig zu recht sagen: "Das kann ich auch".

Daher ist die Steuerung des Inhaltes, in erster Linie das Aussortieren von qualitativ nicht passendem, eine der wichtigsten Aufgaben in einem offenen, anonymen Wiki. Wenn die Gemeinschaft hier versagt, wie es bei der Wikipedia etwa ab März aufgrund des Medienechos der Fall war, weil zu viele in die Community reinkamen, die die Grundsätze noch nicht verinnerlicht hatten, dann ist es primär Aufgabe der Admins, diese Steuerung zu übernehmen und über faires, aber robustes Feedback zu den Inhalten, die neue Leute einstellen, die Leute entweder anzulernen oder ihnen eben klar zu machen, dass eine Enzyklopädie vielleicht nicht das richtige Feld für sie ist. In dieser Situation, in der wir seit März stehen, hat ein Großteil der Admins, vermutlich in Unkenntnis darüber, wie Wikis funktionieren, und vor allem, wie sie nicht funktionieren, diese Aufgabe als schlicht nicht existent betrachtet, und Bemühungen der wenigen, die Gegensteueren wollten, weil sie von Wissensorganisation und EDV und Web ein bisschen was verstehen, immer wieder ad absurdum geführt.

Resultat: Der überwiegende Teil unsere Inhalte ist mittlerweile bei einer solchen Inhaltsleere angekommen, dass wir genau die Leute anziehen, die an dieser Inhaltsleere Gefallen finden und noch das letzte bisschen Wissen in der Wikipedia unter ihrem platten Bilderbuchgefirlefanze ersticken werden. Und diejenigen, die eigentlich gegensteuern müssten, finden das alles ganz prima toll.

Sorry, aber ohne mich. Ich habe keine Lust, mich länger für ein Projekt, hinter dem ich mal mit vollem Herzen stehen konnte, einzusetzen, wenn es sich dermaßen an die Beliebigkeit verkauft hat wie mittlerweile auch die deutschsprachige Wikipedia. Ich denke, meine Zeit ist sinnvoller investiert, wenn ich mich darum kümmere, einen Fork vorzubereiten, der vielleicht wieder zu dem zurückkehrt, was die Wikipedia ursprünglich mal sein wollte: Ein Hort des Wissens im weißen Rauschen des Internets. Wie der genau aussehen kann - keine Ahnung. Vermutlich kommerziell, ähnlich wie Linux-Distributoren die diversen Skriptfrickeleien zu einem in der Praxis verwendbaren Paket zusammenführen. Vermutlich trotzdem als Wiki, aber sicher nicht mit dem nicht skalierenden Spaghetticode der Mediawiki-Software, vermutlich nicht als offenes, sondern als geschlossenes Wiki, in dem nur solche Leute schreiben dürfen, die mehr als zwei Sätze am Stück formulieren und mehr als nur das ZDF zitieren können, wenn sie nach Quellen gefragt werden. Vielleicht lass ich's auch sein. Mal schauen.

Doch wie gesagt, administrieren dürft ihr diesen Kindergarten hier ab sofort ohne mich.

Uli 19:35, 25. Jul 2004 (CEST)


Ceterum censeo parvomollis esse delendam.