Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben

Titel der Erstausgabe 1874

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (vollständiger Originaltitel: Unzeitgemässe Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben) ist ein 1874 erschienenes Werk Friedrich Nietzsches und die zweite seiner vier Unzeitgemäßen Betrachtungen. Die Abhandlung gilt als wichtiges Werk aus Nietzsches früher Schaffensperiode (siehe Übersicht zum Werk Nietzsches). Er kritisiert darin seine akademischen Zeitgenossen, die seiner Meinung nach die Bedeutung der Geschichtswissenschaft überschätzen oder doch zumindest verkennen. Das Werk nimmt auch spätere Themen Nietzsches vorweg und hat in der Nietzsche-Rezeption vergleichsweise große Beachtung gefunden.

Die heute in der Nietzsche-Forschung übliche Sigle des Buchs ist HL oder UB II.

Übersicht

Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen sind vor allem kulturkritische Schriften und thematisch nicht so weit gefächert wie die späteren, echt philosophischen Werke Nietzsches. Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben ist hierin keine Ausnahme. Nietzsche nähert sich dem Thema aber von unterschiedlichen Seiten. So berührt er, wenn er sich mit den Möglichkeiten der Geschichtswissenschaft auseinandersetzt, die Themen Geschichtsphilosophie und Wissenschaftstheorie. Indem er andererseits die Geschichte mit dem (menschlichen) Leben in Verbindung setzt, betreibt er auch eine Art Anthropologie. Im Rahmen dieser vier Gebiete bewegt sich die Schrift.

Von mehreren Interpreten ist darauf hingewiesen worden, dass besonders Nietzsches Begriff der „Historie“ in der Schrift nicht eindeutig besetzt sei, sondern zwischen den Bedeutungen „Geschichte“ (res gestae, das eigentlich Geschehene), „Geschichtsschreibung“ (historia rerum gestarum, die Erzählung des Geschehenen) und „Geschichtswissenschaft“ schwanke. Dies ist zu beachten, wenn im folgenden Nietzsches Terminologie verwendet wird.

Nach einer Einleitung, in der Nietzsche seine persönliche Motivation für das Verfassen der Schrift mitteilt, untersucht das erste Kapitel den Ursprung der „Historie“. Das Tier lebe nur in der Gegenwart – mit bescheidenem Glück – und damit unhistorisch. Der Mensch besitze nun im Gegensatz dazu die Fähigkeit sich zu erinnern. Dies befähige ihn Kultur zu schaffen. Andererseits stellten die individuellen Erinnerungen und kollektiven Aufzeichnungen immer auch eine Last dar. Werde diese einmal zu groß, dann sei die Lebensfähigkeit eines Menschen oder Volkes gehemmt. Die Historie ist damit in Nietzsches Augen sowohl eine Notwendigkeit als auch eine Gefahr.

Das zweite und dritte Kapitel behandeln drei Funktionen, welche die Historie innehabe. Die monumentalische Historie treibe den Menschen zu großen Taten an, die antiquarische bewahre seine kollektive Identität, und die kritische beseitige schädliche Erinnerungen. Alle drei Funktionen könnten aber ins Krankhafte umschlagen, weshalb sie in einem Gleichgewicht zueinander stehen müssten. – Diese Kategorisierung Nietzsches ist wahrscheinlich die bekannteste These der Schrift, sie ist vielfältig aufgegriffen und interpretiert worden. Siehe dazu Die drei Arten der Historie und Deutung und Rezeption.

In den Kapiteln 4–8 beschreibt Nietzsche, wie eine Übersättigung mit Historie lebens- und kulturfeindlich wirken könne. Nietzsches Angriffe zielen dabei immer auf seine Zeitgenossen vor allem in Deutschland, beanspruchen aber auch einen allgemein-philosophischen Hintergrund. Siehe dazu Kritik an der Gegenwart. Das neunte Kapitel gehört thematisch ebenfalls zur Kritik an Nietzsches Gegenwart. Es enthält eine Abrechnung mit dem seinerzeit erfolgreichen Werk Philosophie des Unbewussten von Eduard von Hartmann.

Im zehnten Kapitel nennt Nietzsche schließlich das Mittel zur Heilung der seiner Auffassung nach kranken Gegenwart: die Mächte des Unhistorischen und „Überhistorischen“ – er nennt Kunst und Religion – müssten gefördert werden, um schließlich zu einer „wahren Bildung“ statt einseitiger, wissenschaftlicher „Gebildetheit“ zu kommen.

Zentrale Themen

Der Geschichte nähert sich Nietzsche zunächst über das Erinnern. Dieses sieht er als zentralen Unterschied des Menschen zum Tier an. Die Erinnerung befähige den Menschen einerseits zur Bewertung der Vergangenheit, andererseits zur Deutung der Zukunft. Sein Gedächtnis könne ihm aber zur Last werden, was seine Vitalität in Frage stelle (etwas, wovor Tiere gefeit seien). Somit baut Nietzsche einen Gegensatz Leben / Historie auf, zwischen dessen Polen der Mensch seinen Platz finden muss. Die Geschichte müsse nun einen Weg finden, der zwar eine kollektive Erinnerung schafft, gleichzeitig aber nicht die Vitalität eines Volkes untergräbt. Nietzsche unterscheidet zunächst drei Arten der Historie. Jede von ihnen könne sowohl nützlich als auch schädlich wirken.

Die drei Arten der Historie

Die monumentalische Historie gehört laut Nietzsche zum Menschen als dem „Tätigen und Strebenden“. Sie ermutige den einzelnen Menschen der Gegenwart zu schöpferischen Taten: Individuen, die Großes schaffen wollen, sich aber nicht sicher sind, ob dieses überhaupt machbar sei, könnten ihren Blick in die Vergangenheit richten. Wenn sie dabei feststellten, dass Großes schon einmal möglich gewesen ist, so sei dies ein Indiz dafür, dass es auch in Zukunft wieder möglich sei. Diese Erkenntnis spende Kraft und nehme den Selbstzweifel, welcher schöpferischen Taten im Wege stehe. In Bezug auf die Kausalität stelle die monumentalische Historie die Wirkungen („Effekte“) in den Vordergrund und vernachlässige die Ursachen. Diese Art der Historie verzichte auf volle Wahrhaftigkeit. Durch eine Reduzierung der geschichtlichen Vorgänge werde es möglich, Analogien zwischen speziellen – zeitlich auseinander liegenden – Ereignissen und Vorgängen zu ziehen. Auf diese Weise würden die großen Individuen der Menschheit miteinander verbunden.

Eine Gefahr der monumentalischen Historie sei es, in die Nähe der Fiktion und der Mythologie zu geraten. Herrsche die monumentalische Art der Historie vor, so würden große Teile der Vergangenheit verkannt; und sie reize „den Mutigen zur Verwegenheit, den Begeisterten zum Fanatismus“, nur um die Zahl der „Effekte“ zu erhöhen. Zudem würden sich die starken Menschen nur mit mit anderen Individuen (aus der Vergangenheit) identifizieren, ihre Kultur und damit ihr Volk aber im schlimmsten Fall zu dessen Nachteil geringschätzen. Nietzsche glaubt aber auch, dass ebenso schwache Menschen die monumentalische Historie missbrauchen: So würden diese sie benutzen, um die heutigen großen Menschen am Schaffen zu hindern, indem sie sagen: „seht, das Große ist schon da“ ließen.

Die antiquarische Historie gehört nach Nietzsche dem Menschen als dem „Bewahrenden und Verehrenden“. Sie diene dazu, das menschliche Kollektiv der Gegenwart in eine Kontinuität zu seiner Vergangenheit zu setzen. Sie verbreite ein „einfaches rührendes Lust- und Zufriedenheitsgefühl“, indem sie „auch die minder begünstigten Geschlechter und Bevölkerungen an ihre Heimat und Heimatsitte anknüpft.“ So gebe sie einem Menschen oder einem Volk „das Glück sich nicht ganz willkürlich und zufällig zu wissen und [...] in seiner Existenz entschuldigt, ja gerechtfertigt zu werden.

Aber auch die antiquarische Historie habe eine Kehrseite: Da alles miteinander verwoben zu sein scheine, werde bei einem Übermaß an antiquarischer Betrachtung die gesamte Vergangenheit als wertvoll betrachtet. Alles Vergangene gelte bereits als großartig, nur weil es einst existiert hat. Es finde eine Nivellierung statt, da alles wahrhaft Besondere zwischen der nur scheinbar wichtigen Masse von Historie nicht mehr sichtbar sei. Die antiquarische Historie drohe daher einerseits zu einer „blinde[n] Sammelwut“ zu entarten, andererseits alles Neue zu untergraben, nur noch zu „bewahren“ anstatt zu „zeugen“. Große Geister könnten demnach immer mit dem Hinweis gehemmt werden, dass alles Wichtige schon in der Vergangenheit zu finden sei.

Die kritische Historie gehöre schließlich dem Menschen als dem „Leidenden und der Befreiung Bedürftigen“. Laut Nietzsche überprüft sie die Erinnerungen eines Volkes auf zu stark belastende Inhalte, welche seine Entwicklung hemmen könnten, und beseitigt diese gegebenenfalls. Sie diene gewissermaßen als Korrektiv für die beiden anderen historischen Funktionen. Ihr einziges Kriterium sei, ob eine Vergangenheit der Vitalität eines Volkes dienlich ist oder nicht. Nietzsche denkt dabei an die beiden Pathologien der monumentalischen und antiquarischen Historie, also einerseits blindes Begehren von Effekten und andererseits übermäßige Vergangenheitsfixiertheit. Die Lebensfähigkeit eines Kollektivs soll durch die kritische Historie erhalten werden, indem schädliche Erinnerungen vergessen werden.

Wiederum sei aber auch die kritische Historie nicht ungefährlich für den Menschen. Denn letztlich sei nichts wert zu existieren: und „mit dem Messer an seine Wurzeln“ zu gehen sei immer ein gefährlicher Prozess, da „wir nun einmal die Resultate früherer Geschlechter“ und damit auch „ihrer Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen“ seien. Es müsse immer „eine Grenze im Verneinen“ geben, damit das Leben nicht in Gefahr gerate.

Laut Nietzsche hat jede dieser drei Arten unter bestimmten Bedingungen ihre Berechtigung, aber nur, sofern sie tatsächlich dem Leben in einer der genannten Funktionen dienen. „[D]er Kritiker ohne Not, der Antiquar ohne Pietät, der Kenner des Großen ohne das Können des Großen“ seien Menschen, die diese Arten der Historie nicht in ihrer nützlichen Funktion betreiben, und würden damit sich selbst und anderen schaden.

An anderer Stelle deutet Nietzsche an, dass die drei Arten der Historie in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen und eine stets auf Kosten der anderen herrsche. Da aber ein Übermaß jeder der drei Arten, wie gezeigt, schädlich wirke, müssten sie in einem ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen.

Kritik an der Gegenwart

Getrennt von diesen drei Arten der Geschichtsbetrachtung steht die moderne Historie, der Versuch, Geschichte als Wissenschaft zu betreiben. Werden die zuvor beschriebenen drei Arten der Historie von Nietzsche durchaus als nützlich angesehen, sofern sie in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen und dem Leben dienen, so wendet er sich energisch gegen die „Forderung, dass die Historie Wissenschaft sein soll.

Die „moderne[...] Gebildetheit“ mit ihrem historischen Wissen habe nichts mit einer „wahren Bildung“ zu tun. An dieser aber mangele es. Nietzsche unterstellt seiner Zeit – gemeint natürlich das Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts – und dabei den Deutschen im Speziellen, dass sie ein gestörtes Verhältnis zur Vergangenheit aufweisen. Dies versucht er an fünf „Krankheiten“ festzumachen, die er in der Kultur der Moderne (wobei dieser Begriff erst nach Nietzsche geprägt wurde) entdeckt zu haben glaubt.

Erstens weisen die Menschen der Gegenwart laut Nietzsche eine gestörte Identität auf, was durch den Gegensatz von Form und Inhalt hervorgerufen werde. Sie hätten ein Übermaß an unverarbeitetem Wissen aufgetürmt, welches aber nicht in Bezug zueinander gesetzt werde und deshalb oberflächlich bleibe. Damit bezieht sich Nietzsche auf die wissenschaftlichen Spezialisten, welche in seinen Augen fachblind geworden sind. Sie seien nur noch „wandelnde Enzyklopädien“, die immer weniger die äußere Welt erfassen könnten und sich deshalb auf das Innere zurückzögen. Da sie ihr Wissen nun nicht mehr auf die Realität anwendeten, würden die Wissenschaftler schließlich zu reinem Inhalt, der über keine äußere Form mehr verfügt. Umgekehrt könnten sie ihr Inneres aber nicht mehr überprüfen, so dass dieses mit der Zeit chaotisch werde und sich auflöse. Damit seien die modernen Menschen unvital geworden.

Als Gegensatz stellt ihnen Nietzsche die antiken Griechen entgegen, welche die Balance zwischen Historie und Leben, zwischen Wissen und ummantelnder Kunst gehalten hätten. Dabei verlangt er nicht, dass die Kultur eines Volkes ästhetisch zu sein habe, solange sie nur originär ist. Beispielweise wäre ein reines Kopieren der griechischen Lebensart nutzlos und sogar schädlich, da eigene kulturelle Merkmale unterdrückt würden. Die Deutschen besäßen nun in Nietzsches Augen keine eigenständige äußere Form, sondern übernähmen nur wahllos fremde Konventionen. Dies wiederum habe dazu geführt, dass auch ihr Inneres, ihr gedanklicher Inhalt substanzlos sei. Moderne Bildung und Philosophie seien nur noch ein „innerlich zurückgehaltenes Wissen ohne Wirken“. Deshalb könnten die Menschen der Gegenwart auch nur noch Kritik üben, aber nichts Eigenes schaffen.

Als Kern dieser Fehlentwicklung macht Nietzsche das Übermaß der Historie aus: Diese häufe Unmengen an neuem Wissen auf, welches aber nicht wirklich verarbeitet, sondern schnell angenommen und wieder abgestoßen werde, da der Mensch nur in der Lage sei, eine bestimmte Menge an Fremdem und Zusammenhanglosem aufzunehmen. Damit sei das Gleichgewicht zwischen den drei Arten der Historie zerstört. Nun könnten wirklich große Ereignisse oder Erkenntnisse inmitten der Masse von totem Wissen gar nicht mehr wahrgenommen werden. Schließlich stumpfe der moderne Mensch ab und verliere schrittweise seine Identität.

In der „Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes“ sieht Nietzsche das eigentliche Kennzeichen einer Kultur. Somit bedeutet ihm die politische Reichseinigung von 1871 nichts, da diese nur oberflächlichen Charakter habe. Er erhofft sich darüber hinaus eine kulturelle Einigung der Deutschen mit der Schaffung einer originären Kunst und Bildung, welche den Gegensatz von Innerem und Äußerem, von Inhalt und Form zu überwinden vermag.

Zweitens diagnostiziert Nietzsche eine nur eingebildete Objektivität. In seinen Augen messen die modernen Menschen nur noch die Vergangenheit an den „Allerwelts-Meinungen des Augenblicks“. Der Wunsch nach einer subjektlosen Objektivität sei Illusion, da diese eine Stimmung des Losgebundenseins voraussetzen würde, die sich nicht auf das empirische Wesen der Dinge erstrecken könnte, sondern immer nur das subjektive Bild des Betrachters wiedergäbe. Schon in dem Glauben, die Geschichte sei ein sinnvolles Ganzes und folge Gesetzen, die der Historiker zu erkennen habe, erkennt Nietzsche aber eine subjektive und egozentrische Annahme.

Als Haupttugend des Historikers sieht er die Gerechtigkeit an. Diese könne aber nur eine Person verwirklichen, welche die Vergangenheit zu verstehen sucht, um eine eigene Zukunft darauf zu bauen. Aufgabe der Historie könne es nicht sein, allgemeine Gesetze zu finden. Ein solches zitiert er von Ranke, den er nur einen „berühmten historischen Virtuosen“ nennt – übrigens die einzige Stelle, an der Nietzsche sich tatsächlich auf einen Vertreter des Historismus bezieht. Nietzsche hält derartige „Gesetze“ für „zwischen Tautologie und Widersinn künstlich schwebend“. Aufgabe des Historikers müsse es vielmehr sein, ein „gewöhnliches Thema, eine Alltags-Melodie geistreich zu umschreiben, zu erheben, zum umfassenden Symbol zu steigern und so in dem Original-Thema eine ganze Welt von Tiefsinn, Macht und Schönheit ahnen zu lassen“. Dazu gehöre künstlerische Fähigkeit.

Drittens unterstellt Nietzsche der modernen Wissenschaft, dass sie die Reife der Menschen verhindere. Die Historie zerstöre demnach die „pietätvolle Illusions-Stimmung“, die allem Erhabenen (Liebe, Religion, Kunst) zu Grunde liege. Als Beispiel nennt er das Christentum, welches durch übermäßige historische „Sezierübungen“ in ein substanzloses „Wissen um das Christentum“ aufgelöst worden sei. Die Gegenwart verlange aber die scheinbare totale Erkenntnis, welcher die jungen Menschen vor ihrer Zeit ausgesetzt würden. Dadurch stumpften diese ab und könnten sich weder für Altes begeistern noch Neues schaffen.

Schuld an dieser Entwicklung sei das moderne Wissenschaftsverständnis und das zugehörige Gelehrtenwesen, welches sich keine harmonischen und gereiften Persönlichkeiten, sondern Subjekte des akademischen Arbeitsmarktes wünsche. Durch „Teilung der Arbeit“ innerhalb der Wissenschaften würden die Sichtweisen der zukünftigen Gelehrten so sehr eingeschränkt, dass Hyperspezialisten entstünden, die nur noch einen schmalen Teil der Realität erfassen könnten. Die „Nutzbarmachung“ und schließlich die „Popularisierung“ der Wissenschaft werde aber aber nur zu „gediegene[r] Mittelmäßigkeit“ führen, dem Leben und damit indirekt sogar der Wissenschaft selbst schaden.

Viertens wirft Nietzsche der historischen Bildung vor, dass diese den Menschen eintrichtere, sie seien Epigonen einer größeren Vergangenheit. Hegel habe durch seine Lehre vom zwingenden „Weltprozess“ eine fatalistische Sicht in der Moderne entstehen lassen, da sich diese am Ende einer Entwicklung zu befinden glaubt. Einzig in großen Individuen wie Goethe oder Raffael sieht Nietzsche den Willen, dieser Entwicklung entgegenzusteuern und etwas neues Großes zu erschaffen.

Fünftens und letztens befindet er die Gegenwart des unbewussten Zynismus für schuldig, der Folge des vorherigen Punktes sei. Dabei spielt er auf Hartmanns Philosophie des Unbewussten an. Als zentrale Aussage dieses Werkes, dem er unterstellt, eine Parodie zu sein, erscheint ihm die Aufforderung des modernen Menschen an sich selbst, unkritisch weiterzuleben und sich somit scheinbar automatisch am unaufhaltsamen, zur Erlösung strebenden Weltprozess zu beteiligen. Dies führt laut Nietzsche aber zu dem Glauben ein Spätgeborener zu sein, der nichts mehr zu vollbringen habe, weil er bereits ausgelernt habe und überreif sei.

Dem entgegen setzt er nun die „Notwahrheit“, dass die Deutschen keine eigene Kultur hätten, und dass „unsere erste Generation“ in diesem Sinne erzogen werden müsse, damit sie von den Zwängen der Historie entfesselt werde. Er fordert, „dass der Mensch vor allem zu leben lerne, und nur im Dienste des erlernten Lebens die Historie gebrauche“ und seine eigenen Erfahrungen von der Welt machen soll.

Entstehung und Einreihung in Nietzsches Schriften

Entstehung, Erscheinen und spätere Umarbeitungen

Nach dem Erscheinen der ersten Unzeitgemäßen im Sommer 1873 war Nietzsche zunächst noch an der Universität beschäftigt. Daneben hielt ihn sein Engagement für Wagner in Atem. Nietzsche hatte ohnehin eine ganze Reihe von Unzeitgemäßen Betrachtungen geplant, auch der Verleger E.W. Fritzsch war an einer Fortsetzung interessiert. Als Thema der nächsten Unzeitgemäßen waren eigentlich Gedanken unter dem Titel Die Philosophie in Bedrängnis geplant. Im Herbst trat dann aber, nach einigen Aufzeichnungen über das Gelehrtenwesen, die Geschichtswissenschaft als neues Thema in den Vordergrund.

Entwurf zum ersten Kapitel

Vorarbeiten zur Schrift finden sich in den Nachlassheften U II 1, U II 2 und U II 3 sowie Mp XIII 2 (in der KGW und KSA Vorlage:Lit als Aufzeichnungen Sommer-Herbst 1873 (29) bzw. Herbst 1873-Winter 1873/74 (30)). Einige Stellen übernahm Nietzsche fast wörtlich aus der ersten der für Cosima Wagner geschriebenen Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern (vom Dezember 1872) sowie aus seinen Aufzeichnungen zur Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen (Frühjahr 1873). Zur Zeit der Abfassung las er Goethe, der in der Schrift auch oft zitiert wird, daneben Schiller (Briefwechsel mit Goethe und Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?), Franz Grillparzer und Teile von Hegels Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte. Der Anfang des ersten Kapitels ist von Giacomo Leopardi inspiriert. Eduard von Hartmanns Philosophie des Unbewussten, die Nietzsche hier scharf kritisierte, hatte er bereits 1869 erworben und teilweise durchaus zustimmend gelesen. Auch Gedanken aus den Vorlesungen Jacob Burckhardts und aus Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie seines Freundes und Kollegen Franz Overbeck flossen in die Zweite Unzeitgemäße ein. Siehe ausführlicher: Einflüsse.

Interessant für das Verständnis der Schrift könnte sein, dass Nietzsche zunächst von zwei Gegensätzen ausging: Historisch – Unhistorisch und Klassisch – Antiquarisch. Erst im Rahmen der Abfassung löste er aus dem Unhistorischen das Überhistorische heraus. Aus dem Gegensatz Klassisch – Antiquarisch wurde, mit kleineren Akzentverschiebungen, der Gegensatz Monumentalisch – Antiquarisch. Erst kurz vor der Drucklegung fügte Nietzsche noch die kritische Historie hinzu. War ursprünglich außerdem die „Krankheit“ vor allem auf ein Übermaß der „antiquarischen Historie“ bezogen, so wurde jetzt die kritisierte historische Wissenschaft von den drei Arten der Historie (monumentalisch, antiquarisch, kritisch) getrennt. Reste des ursprünglichen Ansatzes sind im Buch aber noch vorhanden.

Ab Dezember 1873 diktierte der augenkranke Nietzsche den größten Teil des Manuskripts seinem Freund Carl von Gersdorff. Zusammen mit Erwin Rohde las Nietzsche im Januar die Korrekturbögen, das gedruckte Buch erschien wahrscheinlich um den 20. Februar 1874.

Eine Seite der fragmentarischen Reinschrift

Die Schrift verkaufte sich schlechter als die erste Unzeitgemäße, die mit ihrem Angriff auf David Friedrich Strauß einerseits als Skandalbuch etwas Interesse gefunden, andererseits aber Nietzsche isoliert hatte. Die einzige bedeutende Rezension der zweiten Unzeitgemäßen, von Karl Hillebrand, wurde von der Neuen Freien Presse nur mit einer redaktionellen Anmerkung gedruckt, nach der sie dies aus Achtung vor Hillebrand täte: Nietzsche habe sich durch sein Buch gegen Strauß unmöglich gemacht.

Bis Oktober 1874 wurden etwa 220 Exemplare verkauft, bis 1886 waren es etwa 650 Stück. Wie auch von den anderen Unzeitgemäßen gibt es von Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben nur eine Version, da Nietzsche sie 1886/87 nicht erneut herausgeben wollte. Es ist jedoch ein Handexemplar mit Umarbeitungen Nietzsches erhalten, die von Montinari auf das Jahr 1886 datiert wurden. Die Umarbeitungen sind fast ausschließlich stilistischer Natur.

Stellung der Schrift in Nietzsches Werk

Spätere Äußerungen Nietzsches zu dieser Schrift sind selbst im Vergleich zu den anderen Unzeitgemäßen spärlich. Eine Bemerkung dazu findet sich in der 1886 entstandenen Vorrede zum zweiten Band von Menschliches, Allzumenschliches. Hier heißt es:

[...] und was ich gegen die „historische Krankheit“ gesagt habe, das sagte ich als einer, der von ihr langsam, mühsam genesen lernte und ganz und gar nicht willens war, fürderhin auf „Historie“ zu verzichten, weil er einmal an ihr gelitten hatte.

Auch in seiner stilisierten Autobiographie Ecce Homo behandelt Nietzsche die Schrift nur kurz, während er die anderen drei Unzeitgemäßen ausführlich diskutiert. Hier heißt es:

Die zweite Unzeitgemässe (1874) bringt das Gefährliche, das Leben-Annagende und -Vergiftende in unsrer Art des Wissenschafts-Betriebs an's Licht –: das Leben krank an diesem entmenschten Räderwerk und Mechanismus, an der „Unpersönlichkeit“ des Arbeiters, an der falschen Ökonomie der „Teilung der Arbeit“. Der Zweck geht verloren, die Kultur: – das Mittel, der moderne Wissenschafts-Betrieb, barbarisiert ... In dieser Abhandlung wurde der „historische Sinn“, auf den dies Jahrhundert stolz ist, zum ersten Mal als Krankheit erkannt, als typisches Zeichen des Verfalls.

Jörg Salaquarda Vorlage:Lit sah Nietzsches spätere Missachtung und Verkürzung des Werks auf die genannten Punkte darin begründet, dass dieser mit Stil und Aufbau der in Eile abgefassten Schrift unzufrieden war. Auch sei Nietzsches Erinnerung daran sehr negativ eingefärbt gewesen, da zur Zeit der Abfassung die Entfremdung von Wagner stärker, Nietzsches Krankheiten schlimmer und die Unzufriedenheit mit der Basler Professur größer geworden waren. Schließlich ließen sich bei Nietzsche mehrere Beispiele dafür finden, dass er Teile seiner Schriften „vergessen“ habe. Die Forschung habe dieser Schrift, so Salaquarda, schließlich mehr Gerechtigkeit zukommen lassen als Nietzsche selbst.

Die Missachtung der Schrift seitens des Verfassers wirkt dennoch umso verwunderlicher, als einige zentrale Gedanken aus Nietzsches Gesamtwerk in dieser frühen Schrift zumindest angedacht werden.

  • Kunst und Wissenschaft: Er übt eine beißende Kritik an der sich für „objektiv“ und daher „gerecht“ haltenden Wissenschaft, der er Ignoranz und Schwäche vorwirft, was im fünften Buch der fröhlichen Wissenschaft und den Spätschriften wieder aufgenommen wird. Gleichzeitig fordert er eine künstlerische Umgestaltung der Wissenschaften, wie er selber es später literarisch praktizieren wollte.
  • Moral und Stärke: Den Gebrauch von verschiedenen Arten der Historie verknüpft Nietzsche mit der Stärke oder Schwäche der einzelnen Individuen. Schon hier setzt er Stärke und moralisch-ästhetische Ansichten in Beziehung. Vollends führte er dies allerdings erst in Zur Genealogie der Moral aus. Überhaupt halten einige Interpreten die Genealogie der Moral, besonders die zweite darin enthaltene Abhandlung, für wichtig zum Verständnis der Geschichtsphilosophie Nietzsches und deren Entwicklung.
  • Übermensch: Relativ vage fordert Nietzsche eine neue Generation, welche eine Synthese aus dem unhistorischen, aber vitalen Tier oder Barbaren und dem kulturschaffenden, historischen aber schwächlichen Menschen darstellen solle. Diese müsse sich ein überhistorisches Bewusstsein erarbeiten, welches das „Chaos in sich organisieren“ kann. Hierin wie in dem Geniebegriff des jungen Nietzsche überhaupt haben einige den höheren Menschen, den Übermenschen oder die „Herren der Erde“ aus Also sprach Zarathustra vorbereitet gesehen.

Andererseits gibt es Stellen in späteren Werken, in denen Nietzsche den hier vorgestellten Thesen grundsätzlich zu widersprechen scheint. So heißt es schon im zweiten Aphorismus von Menschliches, Allzumenschliches (1878):

Mangel an historischem Sinn ist der Erbfehler aller Philosophen [...] Demnach ist das historische Philosophieren von jetzt ab nötig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.

Die ganze „genealogische“ Methode, die Nietzsche ab seiner freigeistigen Phase verfolgte, ist durchaus auf Historie gegründet.

Schließlich lässt sich die Ansicht vertreten, dass Nietzsches Forderung nach einer künstlerischen Umformung der Historie eine nachträgliche Rechtfertigung der Methodik von Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik ist. Diese hatte auf philologische Nachweise und Quellen verzichtet und stattdessen Nietzsches intuitiv gewonnene Erkenntnisse über die Entstehung der Tragödie gesetzt. Nietzsche selbst scheint dies in der schon genannten Vorrede des zweiten Bandes von Menschliches, Allzumenschliches anzudeuten:

Insofern sind alle meine Schriften [...] zurückzudatieren [...]: einige sogar, wie die drei ersten Unzeitgemässen Betrachtungen, noch zurück hinter die Entstehungs- und Erlebniszeit eines vorher herausgegebenen Buches (der „Geburt der Tragödie“ im gegebenen Falle: wie es einem feineren Beobachter und Vergleicher nicht verborgen bleiben darf).

Die Frage, wie Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben in Nietzsches ganzes Schaffen eingeordnet werden kann, hat auch Deutungen und Rezeption der Schrift beschäftigt und dort unterschiedliche Antworten gefunden.

Einflüsse und Ähnlichkeiten zu anderen Philosophien

Zum Hintergrund, insbesondere dem Aufkommen der modernen Geschichtswissenschaft im Europa des 19. Jahrhunderts, siehe zunächst Geschichte der Geschichtswissenschaft.

Nietzsche stützte sich bei seiner Betrachtung der Historie unter anderem auf die Philosophie Arthur Schopenhauers und die Kulturgeschichte Jacob Burckhardts. Von einer reinen Adaptation dieser Denker lässt sich aber keinesfalls reden.

Schopenhauer

Schopenhauer war für den jungen Nietzsche ein Leitstern möglicher deutscher Kultur. „Über Geschichte“ hatte sich Schopenhauer ausführlich in Kapitel 38 des zweiten Bands von Die Welt als Wille und Vorstellung ausgesprochen. Er hatte argumentiert, dass Geschichte zwar ein Wissen, niemals aber eine Wissenschaft sein könne, weil sie nur „Koordination“ von Gewusstem sei, Wissenschaft aber „Subordination“. Geschichte hätte zwar eine sichere Kenntnis vom Oberflächlichen, Allgemeinen (etwa „die Zeitperioden, die Sukzession der Könige, die Revolutionen, Kriege und Friedenszeiten“) , wesentlich und interessant in ihr sei aber das Individuelle und die Individuen, die sich eben nicht allgemein fassen ließen. Geschichte als der Lauf der Erscheinungen sei von Zufällen bestimmt, es gebe kein „System der Geschichte“. Insbesondere wies Schopenhauer die Lehren Hegels und seiner Nachfolger scharf zurück. Eine echte Philosophie erkenne dagegen, dass Geschichte stets dasselbe unter wechselnden Schleiern zeige, nämlich den unvernünftigen, blinden „Willen“.

Dem Pessimismus von Schopenhauers Philosophie folgte Nietzsche zumindest nicht uneingeschränkt. Er übernahm aber die Wendung gegen eine teleologische Sicht der Geschichte. Das bedeutet zugleich auch das Verneinen eines vorbestimmten Sinns der Geschichte. Die Passagen über die Geschichte bestimmenden „Verirrungen, Leidenschaften und Irrtümer, ja Verbrechen“ bei Nietzsche entsprechen hierin am ehesten Schopenhauers Vorstellungen. In Nietzsches „Leben“, dem die Historie schadet oder nützt, kann man Schopenhauers „Willen“ wiedererkennen, allerdings „mitunter merkwürdig positiv konnotiertVorlage:Lit. Anstatt wie Schopenhauer auf eine Befreiung vom „Weltwillen“ zu hoffen, strebte Nietzsche womöglich eine Synthese von vitalem, aber blindem Willen und kalter Erkenntnis an. Das Mittel, das Schopenhauer und Nietzsche zur Erreichung ihres jeweiligen Zieles ansehen, ist allerdings identisch: die Flucht in Kunst und Musik.

Burckhardt

Reaktion Jacob Burckhardts auf die Zusendung der Schrift (für mehr Informationen vergrößern)

Jacob Burckhardt, sein Kollege an der Universität Basel, wirkte ebenfalls auf Nietzsches Geschichtsbild. So nahm Nietzsche im Wintersemester 1870 als Zuhörer an dessen Kolleg „Über das Studium der Geschichte“ teil, welches später als Teil der Weltgeschichtlichen Betrachtungen veröffentlicht wurde. Burckhardts erste Vorlesung über „Griechische Kulturgeschichte“ im Sommersemester 1872 verfolgte Nietzsche ebenfalls. Er besaß auch eine Ausgabe der Kultur der Renaissance in Italien, aus der das kurze Burckhardt-Zitat in Vom Nutzen und Nachteil ... stammt.

Von Burckhardt ließ sich Nietzsche in seiner negativen Deutung der politischen Gegenwart inspirieren: Der Basler Kulturhistoriker glaubte, einen autoritären Staat vorauszusehen, dessen ungebildete Massen das kulturelle Leben ersticken würden. Nietzsche ging aber wiederum über die Position seines „Lehrmeisters“ hinaus. Er ließ es nicht allein bei der Unterteilung in gebildete, akademische Elite und ungebildetes Volk bestehen, sondern teilte die (scheinbare) Elite noch einmal auf. Hier standen sich nun die wenigen tatsächlich Gebildeten, also die großen Genies (Goethe, Schopenhauer), und die „verbildeten“ Massen des akademischen Apparates gegenüber. Damit verengte Nietzsche den Begriff der Elite noch einmal stark.

Overbeck und Hartmann

In den Kapiteln 7 und 8 von Nietzsches Schrift gibt es Passagen über das Christentum, die offenbar durch Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie oder Gespräche mit deren Verfasser, Nietzsches Freund Franz Overbeck, beeinflusst sind. Einige dieser Passagen weisen bereits auf Nietzsches spätere, radikale Kritik des Christentums hin, während andere eher indifferent sind oder das Christentum als Beispiel für Religion überhaupt vor übermäßigem „Historisieren“ in Schutz nehmen wollen. Zu diesem Thema siehe Vorlage:Lit.

Eduard von Hartmann hat die Schrift insofern beeinflusst, als Nietzsche ihn in Kapitel 9 zum Ziel eines heftigen Angriffs macht. Freilich rezipierte Nietzsche hier nur einen kleinen Ausschnitt aus Hartmanns Buch Philosophie des Unbewussten, das er, wie bereits erwähnt, schon einige Jahre vor Abfassung der Unzeitgemäßen gelesen hatte. Seine Ablehnung war damals durchaus nicht so radikal gewesen wie hier. Es diente ihm offenbar eher als Beispiel für eine Zeitstimmung, die er bekämpfte. Siehe hierzu Vorlage:Lit.

Parallele zum Hinduismus

Nietzsches anti-teleologische Sichtweise weist gewisse Parallelen zur Sicht der alten Inder auf, auch wenn sich ein direkter Einfluss ausschließen lässt.

Nietzsches drei Arten der Historie entsprechen bis zu einem gewissen Grade der hinduistischen Götterwelt. An deren Spitze steht eine Dreiheit aus dem Schöpfer Brahma, dem Bewahrer Vishnu und dem Zerstörer Shiva. Dem gegenüber stehen eine monumentalische Historie, die zu Neuem aufruft und antreibt, eine antiquarische Historie, die schon Erreichtes hegt und pflegt sowie eine kritische Historie, die gnadenlos Überkommenes verwirft und vernichtet. Bei den alten Indern ist also eine aus europäischer Sicht ungewöhnliche Betrachtung der Geschichte festzustellen. Hegel sagte, dass „die indische Kultur kein Geschichtsbewusstsein und keine Geschichtsschreibung entwickelt hat, die sich mit der europäischen vergleichen ließen“. Tatsächlich steht die hinduistische Denkweise diametral zur hegelschen: Das Einmalige und Zeitgebundene verblasst gegenüber dem Wiederkehrenden und Beständigen, was schließlich auch Einzug in die Philosophie Schopenhauers hielt. Auch Nietzsches späteren Gedanken von der „ewigen Wiederkunft“ mag man in diesen Zusammenhang stellen.

Deutungen und Rezeption

Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben ist schon in der ersten Phase der Nietzsche-Rezeption gegen Ende des 19. Jahrhunderts, erst recht aber im 20. Jahrhundert deutlich mehr und intensiver rezipiert worden als die anderen Unzeitgemäßen Betrachtungen. Dies liegt sicherlich auch daran, dass sie als einzige ein allgemein-philosophisches Thema ohne die Betrachtung einer bestimmten Person zum Inhalt hat.

Wiederkehrende und umstrittene Themen der Rezeption sind:

  • Deutung und Neuinterpretation der Begriffe monumentalisch - antiquarisch - kritisch
  • Berechtigung und bleibende Aktualität von Nietzsches Gegenwartskritik
  • Zusammenhang mit früheren oder späteren Gedanken Nietzsches.

Hier sollen einige Positionen zu diesen Fragen vorgestellt werden.

Salomé

Schon Lou Andreas-Salomé maß der zweiten Unzeitgemäßen große Bedeutung zu. Laut Salomé steht die Historie in dieser Schrift auch für das Gedankenleben allgemein, und dieses müsse nach Nietzsche dem Instinktleben dienen. In dieser Forderung und den Ausführungen zur „plastischen Kraft“ (HL Kapitel 1) erkennt sie eine frühe Form von dem, was Nietzsche später das „Dionysische“ nannte. Wenn Nietzsche den gegenteiligen Zustand beschreibe, in dem eine Vielzahl fremder Einflüsse und Gedanken den Menschen, der sie nicht zu assimilieren und zu ordnen im Stande ist, zu einem „passiven Schauplatz durcheinanderwogender Kämpfe“ machten, nehme er seinen späteren Dekadenzbegriff vorweg. Salomé stellte die psychologische Behauptung auf, Nietzsche sei die Gefahr der Historie bekannt gewesen, weil er sie an sich selbst beobachtet hätte: erst dann sei sie ihm zur Gefahr des ganzen Zeitalters geworden. Daher trage die Schrift einen widersprüchlichen Doppelcharakter, denn Nietzsche wende sich einerseits gegen die lähmende Wirkung der Verstandestätigkeit, wie er sie an Zeitgenossen beobachtete, andererseits aber auch gegen ein Übermaß an widerstreitenden Einflüssen und Empfindungen, wie er sie in sich selbst vorgefunden habe.

Die drei Arten der Historie könnten, so Salomé, rückblickend Nietzsches Schaffensperioden zugeordnet werden: die antiquarische dem Philologen, die monumentalische dem Jünger Schopenhauers und Wagners, und die kritische der positivistisch-freigeistigen Zeit. In seiner letzten Schaffensperiode habe Nietzsche dann versucht, zu einer Vereinigung und Überwindung dieser Betrachtungsweisen zu kommen. Dabei habe er, wenn auch modifiziert, auf die schon hier von ihm geforderten starken Naturen zurückgegriffen, deren unhistorische Stärke sich darin zeige, wie viel Historie sie vertragen. Was in Nietzsches frühem Geniekult der historisch-unhistorische, „unzeitgemäße“ Mensch sei, welcher „durch die Vergangenheit, der Gegenwart überlegen, die Zukunft bau[t]“, das sei später unter anderen Vorzeichen der erlösende Übermensch geworden. Salomé bemerkt auch, dass Nietzsche in dieser Schrift schon den Gedanken der „Ewigen Wiederkunft“ (als Idee der Pythagoreer) vorstellt, der ihm später so wichtig wurde. Mit einer Reihe von Zitaten aus Werken zwischen den Unzeitgemäßen und Also sprach Zarathustra deutet sie an, dass auch dieser Gedanke durchaus mit Nietzsches Thesen in Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben zusammenhängt.

Heidegger

Martin Heidegger schätzte die zweite Unzeitgemäße als eines der wichtigsten veröffentlichten Werke Nietzsches ein. Sie ist die einzige Schrift Nietzsches, die in Sein und Zeit explizit genannt und behandelt wird. Heidegger will hier (§ 76) zeigen, dass „Historie“ existenzial nur möglich sei aufgrund der „Geschichtlichkeit“ des Daseins. Eine Historie, die in einer „eigentlichen“ Geschichtlichkeit wurzelt, hat nach Heidegger das Mögliche zum Thema: sie „enthüll[e]“ dagewesenes Dasein in seiner Möglichkeit. Diese Erschließung von Möglichkeiten gründe sich weder aus der Vergangenheit noch aus der Gegenwart, sondern aus der Zukunft. Aber die Historie entfremde das Dasein auch von dieser eigentlichen Geschichtlichkeit; im Aufkommen des Problems des Historismus sieht Heidegger nur ein Symptom dieses tieferliegenden Verhängnisses. Nutzen und Nachteil könne die Historie für das Leben überhaupt nur deswegen haben, weil sich das Dasein schon für eigentliche oder uneigentliche Geschichtlichkeit entschieden habe. Nietzsche habe zu diesem Nutzen und Nachteil „das Wesentliche [...] erkannt und eindeutig-eindringlich gesagt“. Auch Nietzsches Einteilung der drei Arten der Historie stimmt Heidegger zu, sieht diese Dreiheit aber noch viel tiefer in der existenzialen Struktur des Daseins begründet. „Eigentliche Historie“ müsse die Einheit dieser drei Arten von Historie sein. Dabei scheint Heidegger der monumentalischen Historie das Zukünftige, die Möglichkeit zuzuordnen, der antiquarischen das Gewesene, und schließlich sei monumentalisch-antiquarische Historie notwendig immer Kritik der Gegenwart.

Auch nach der „Kehre“ schenkte Heidegger der Schrift Nietzsches Beachtung: Im Rahmen seiner Nietzsche-Vorlesungen hielt er 1938/39 ein Seminar über das Werk Vorlage:Lit. Darin problematisierte er besonders Nietzsches Begriff vom „Leben“ aus dem Titel der Schrift. Nietzsches Angriffe gegen die Geschichtswissenschaft bettete er in seine eigenen wissenschaftskritischen Gedanken ein.

White

Der Historiker und Literaturwissenschaftler Hayden White untersucht in seinem Hauptwerk Metahistory den Zusammenhang zwischen historischen Abhandlungen und der ihnen innewohnenden Semantik. Dazu hat er einerseits Nietzsches drei historische Funktionen (monumentalisch, antiquarisch, kritisch), andererseits dessen skeptische Haltung in Bezug auf eine wissenschaftliche Objektivität übernommen und teilweise neu gedeutet. White geht davon aus, dass sich der Geschichtsschreiber hauptsächlich einer der vier basalen Tropen (Metonymie, Synekdoche, Metapher, Ironie) bediene und damit bereits eine immanente Bewertung der Historie vorgenommen habe. Jede dieser rhetorischen Figuren zöge demnach automatisch eine tendenziöse Lesart des Textes nach sich. Ein tatsächlich neutraler Standpunkt könne nie erreicht werden.

Nach White wird das Individuum in der monumentalischen Historie als Subjekt dargestellt, da es seine Taten waren, welche scheinbar besondere Auswirkungen innerhalb der Geschichte zur Folge hätten. Auf der sprachlichen Ebene bediene sich diese Art der Geschichtsschreibung der Metonymie, also einer semantischen Figur, welche die Realität zu teilen und zu begrenzen versuche. Erst durch diese künstliche Aufspaltung der Geschichte sei es möglich, in speziellen Individuen (z. B. Genie, Eroberer) oder Prozessen (z. B. Klassenkampf) die eigentlichen Träger der Historie zu erkennen. Damit wirke die monumentalische Historie reduktionistisch. Ihr Wert liege in ihrem Bemühen, durch Deutungen der Gegenwart auch Prognosen für die Zukunft und damit Handlungsanweisungen für die Gegenwart zu erstellen. Ihre Gefahr hingegen sei ihre einseitige Hervorhebung einzelner historischer Elemente.

In der antiquarischen Historie werde das Individuum zum Objekt in einer wohlgeordneten Welt, wodurch seine Identität bewahrt werden könnte. Diese Historie basiere auf der Synekdoche, welche die Elemente der Realität als Teile eines größeren Ganzen darstelle. Dies führe dazu, dass sämtliche geschichtliche Erinnerung als zusammengehörend aufgefasst werde. Auf diese Weise könne dann der Einzelne einen Zusammenhang in lokalen und globalen Ereignissen erkennen. Somit wirke die antiquarische Historie integrativ. Im günstigsten Fall würde das Individuum seine eigene Geschichte in der seiner Kultur wiederfinden, da durch die Beschreibung von ihm nahestehenden Ereignissen (beispielsweise seiner Stadtgeschichte) leichter eine Beziehung zur „großen“ Historie hergestellt werden könne. Ansonsten bestehe aber die Gefahr, dass ein Rückzug auf ein reines Repetieren von Vergangenem stattfände – gleich ob dieses nun bedeutsam gewesen sei oder nicht.

Die kritische Historie bediene sich einer weiteren semantischen Figur, nämlich der Ironie, die durch Spott die kranke Vergangenheit eines Volkes auflöse. Damit könne einerseits das Pathos der monumentalischen und andererseits die Blasiertheit der antiquarischen Historie aufgedeckt werden. Diese „gnadenlose“ Ironie entkleide zwar die Realität von allen Mythen, hinterlasse dabei aber möglicherweise eine unerträgliche Leere. Dies führe entweder zu krankem Nihilismus oder zu einer animalischen Regression. Als vierte sprachliche Figur müsse deshalb die Metapher die Ironie in einer Balance halten: Die grausame und kalte Wirklichkeit werde dabei durch metaphorische Begriffe romantisierend umgedeutet.

Vattimo

Laut Gianni Vattimo wirft die Schrift mehr Probleme und Fragen auf als sie löst. Vattimo hat die These aufgestellt, Nietzsche habe in der weiteren Entwicklung seiner Philosophie seinen hier vertretenen Standpunkt Stück für Stück geräumt. Zwischen die Entstehung von Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben und Menschliches, Allzumenschliches (1878) hat Vattimo den Beginn der philosophischen Postmoderne datiert: habe Nietzsche in der früheren Schrift noch eine Überwindung der Moderne versucht, so habe er danach eingesehen, dass die „Überwindung“ – ein von Vattimo weitläufig diskutierter Begriff – selbst ein typisch „moderner“ Akt und damit nicht auf die Moderne selbst anwendbar sei. Daher habe sich Nietzsche in seiner folgenden Periode zu einer Auflösung der Moderne durch ihre Radikalisierung entschlossen. (Ein ähnlicher Gedanke findet sich schon bei Karl Schlechta: Nietzsche habe ab seiner mittleren Periode den Nihilismus als Folge des Historismus nicht mehr bekämpft, sondern ihn bejaht, um durch ihn hindurchzukommen.)

Vattimo hält an der Schrift selbst insbesondere die Kritik am „Historismus“ als einer der vorherrschenden Geistesströmungen des 19. Jahrhunderts für wichtig. Diese Kritik richte sich weniger gegen die hegelsche Metaphysik selbst als gegen ihre gesellschaftlichen Folgen. Insbesondere Nietzsches Kritik am Gefühl des Epigonentums hebt Vattimo hervor. Die Menschen des späten 19. Jahrhundert hätten sich tatsächlich mittels der Lehren Hegels, Darwins und des Positivismus – gegebenenfalls in popularisierter Form – als End- und Höhepunkt der „Weltgeschichte“ gefühlt.

Weitere

Von mehreren Interpreten hat es Kritik an Nietzsches auch hier benutztem Kulturbegriff („Einheit des künstlerischen Stiles in allen Lebensäußerungen eines Volkes“, so bereits in der ersten Unzeitgemäßen) gegeben. Die Forderung nach einer solchen Einheit verkenne die wertvollen Möglichkeiten eines Pluralismus auch in Kunst und Kultur. Auch sei es verwunderlich, dass Nietzsche die Frage danach, inwieweit auch seine Kritik selbst historisch bedingt sei, nicht stelle. Überhaupt nenne er keine formalen Gründe für seine Thesen, die ganze Schrift argumentiere nicht, sondern beharre auf ihrer eigenen, unbedingten Gültigkeit. (Eine ähnliche Kritik äußerte übrigens schon Erwin Rohde, nachdem er von Nietzsche dazu aufgefordert worden war: „Du deducirst allzu wenig, sondern überlässest dem Leser mehr als billig und gut ist, die Brücken zwischen Deinen Gedanken und Sätzen zu finden“.) Tatsächlich sei es aber beispielsweise keineswegs selbstverständlich, dass ein Gegensatz zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit und Vitalität bestehe. Der Gegensatz Historie / Leben bzw. allgemeiner: wissenschaftliche Erkenntnis / Leben werde von Nietzsche nur behauptet, nicht bewiesen.

Die Frage, ob die Schrift noch Aktualität besitzt oder nicht – letzteres schon deswegen, weil ihr Publikum und das Objekt der Kritik nicht mehr vorhanden seien – bekommt mit wachsendem zeitlichem Abstand zu ihrem Erscheinen natürlich größeres Gewicht. Eine eindeutige Antwort darauf gibt es bisher aber nicht, vielmehr wird kontrovers diskutiert Vorlage:Lit.

Auch von denjenigen, die Nietzsches Angriffe gegen den Historismus teilen, werden seine Lösungsvorschläge kritisch betrachtet. Der Rückgriff auf „überhistorische“ Kräfte, namentlich Kunst und Religion, sei nicht überzeugend. Entsprechend habe auch Nietzsche selbst in seiner nächsten Schaffensphase gerade diese beiden einer scharfen Kritik unterzogen.

Literatur

Ausgaben

Siehe Nietzsche-Ausgabe für allgemeine Informationen.

Sekundärliteratur

Alle großen Monographien zu Nietzsche behandeln auch die zweite Unzeitgemäße, siehe deswegen grundsätzlich die Literaturliste im Artikel „Friedrich Nietzsche“, wo sich auch Werke Salomés und Vattimos finden. Ausführliche Bibliographien finden sich in den hier aufgeführten Werken Salaquardas und Sommers sowie unten bei Weblinks.

  • Dieter Borchmeyer (Hrsg.): „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1996, ISBN 3-518-28861-X. (Sammlung von Aufsätzen mit Bezug zum Werk, unter den Autoren: Hans-Georg Gadamer, Hermann Lübbe, Kurt Hübner, Klaus Berger, Harald Weinrich u.a.)
  • Gerhard Haeuptner: Die Geschichtsansicht des jungen Nietzsche: Versuch einer immanenten Kritik der zweiten unzeitgemäßen Betrachtung. Kohlhammer, Stuttgart 1936.
  • Martin Heidegger: Zur Auslegung von Nietzsches II. Unzeitgemässer Betrachtung: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“. (Band 46 der Heidegger-Gesamtausgabe) Klostermann, Frankfurt am Main 2003, ISBN 3-465-03286-1.
  • Jörg Salaquarda: Studien zur Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung. In: Nietzsche-Studien Bd. 13, 1984, de Gruyter, S. 1-45, ISSN 0342-1422. (Salaquarda untersucht in drei kurzen Studien: 1. warum Nietzsche die Schrift später missachtete, 2. die Entstehung der Schrift, 3. Funktion, Berechtigung und Tragweite der Auseinandersetzung mit Hartmann.)
  • Hartmut Schröter: Historische Theorie und geschichtliches Handeln: zur Wissenschaftskritik Nietzsches. Mäander, Mittenwald 1982 (zugleich Dissertation an der Universität Tübingen), ISBN 3-88219-108-2.
  • Andreas Urs Sommer: Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur Waffengenossenschaft von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Akademie-Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-05-003112-3. (Geht Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Geschichtsverständnis Overbecks und Nietzsches nach und widmet dabei Vom Nutzen und Nachteil ... besondere Aufmerksamkeit.)
  • Hayden White: Metahistory: die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Fischer, Frankfurt am Main 1994, ISBN 3-596-11701-1.

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