„Soziale Gerechtigkeit“ – Versionsunterschied

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Seit den 1970er Jahren hat die Diskussion über soziale Gerechtigkeit, insbesondere unter Bezugnahme auf den von [[John Rawls]] in ''„[[A Theory of Justice]]“'' vertretenen [[Egalitärer Liberalismus|egalitären Liberalismus]] eine neue Bedeutung gewonnen. Als weiterer Vertreter dieser Richtung gilt [[Amartya Sen]]. An Rawls schloss unter anderem die Kritik durch [[Kommunitarismus|Kommunitaristen]] wie [[Michael Walzer]] an. In [[Deutschland]] wird soziale Gerechtigkeit seit den 1990er Jahren wieder zunehmend in der gesellschaftlichen Diskussion thematisiert.
Seit den 1970er Jahren hat die Diskussion über soziale Gerechtigkeit, insbesondere unter Bezugnahme auf den von [[John Rawls]] in ''„[[A Theory of Justice]]“'' vertretenen [[Egalitärer Liberalismus|egalitären Liberalismus]] eine neue Bedeutung gewonnen. Als weiterer Vertreter dieser Richtung gilt [[Amartya Sen]]. An Rawls schloss unter anderem die Kritik durch [[Kommunitarismus|Kommunitaristen]] wie [[Michael Walzer]] an. In [[Deutschland]] wird soziale Gerechtigkeit seit den 1990er Jahren wieder zunehmend in der gesellschaftlichen Diskussion thematisiert.

Radikal kritisch als ein inhaltsleeres [[Politisches Schlagwort|Schlagwort]] wertete [[Friedrich August von Hayek]] „soziale Gerechtigkeit“ in seinem Buch ''Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit'' von 1976.


== Ideengeschichte ==
== Ideengeschichte ==

Version vom 16. Juni 2012, 19:04 Uhr

Der Begriff der sozialen Gerechtigkeit bezieht sich auf den Zustand einer gegebenen Gesellschaft, die hinsichtlich ihrer relativen Verteilung von Rechten, Möglichkeiten und Ressourcen als fair oder gerecht bezeichnet werden kann.[1] Was genau Inhalt und Maßstab dieser Form von Gerechtigkeit sei, war aber seit jeher umstritten und vielschichtig.[2]

Als Ausdruck entstand „soziale Gerechtigkeit“ in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit der Sozialen Frage. Der Terminus geht auf das Werk Saggio teoretico di diritto naturale appoggiato sul fatto (1840-43) von d’Azeglio zurück.[3][4] In weiterer Folge übernahm Papst Pius XI. in seiner EnzyklikaQuadragesimo anno“ (1931) das von Vertretern der katholischen Soziallehre (u.a. d’Azeglio und Oswald von Nell-Breuning) entwickelte Konzept der sozialen Gerechtigkeit.[5]

Seit den 1970er Jahren hat die Diskussion über soziale Gerechtigkeit, insbesondere unter Bezugnahme auf den von John Rawls in A Theory of Justice vertretenen egalitären Liberalismus eine neue Bedeutung gewonnen. Als weiterer Vertreter dieser Richtung gilt Amartya Sen. An Rawls schloss unter anderem die Kritik durch Kommunitaristen wie Michael Walzer an. In Deutschland wird soziale Gerechtigkeit seit den 1990er Jahren wieder zunehmend in der gesellschaftlichen Diskussion thematisiert.

Ideengeschichte

Die Grundlegung der Differenzierung des Gerechtigkeitsbegriffs erfolgte durch Aristoteles, diese wurde von Thomas von Aquin maßgeblich weiterentwickelt.[6] Bezüge zur sozialen Gerechtigkeit ließen sich laut Rolf Kramer bereits bei Aristoteles finden. Auf Grund der legalen Gerechtigkeit ist der Bürger ein Mitglied des Staates, das dem ganzen verpflichtet ist. Auch die partikulare Gerechtigkeit in Form der ausgleichenden Gerechtigkeit und insbesondere der austeilenden Gerechtigkeit hätten einen Bezug zur sozialen Gerechtigkeit.[7] Dagegen vertritt Arno Anzenbacher die Auffassung, dass soziale Gerechtigkeit sich innerhalb der Differenzierung des Gerechtigkeitsbegriffs von Aristoteles nicht genau einordnen lasse.[6] Auch Christoph Giersch kommt zu dem Schluss, dass die Verhältnisbestimmung zu diesem klassischen Gerechtigkeitsverständnis uneinheitlich und unklar bleibe.[8]

Die Vorstellung einer „sozialen Gerechtigkeit“ wurde erst gemeinsam mit der sozialen Frage in der Industriegesellschaft thematisiert. Zum Unterschied vom auf Aristoteles zurückgehenden Denkmodell, welches nur die Beziehung von Einzelpersonen untereinander (Verkehrsgerechtigkeit) oder zum Staat (verteilende und legale Gerechtigkeit) betraf, bezeichnete der Begriff soziale Gerechtigkeit auch jene Verhältnisse, als deren Subjekte und Objekte soziale Schichtungen und Strukturen gelten.

Soziale Gerechtigkeit umfasst nach Peter Koller sowohl distributive als auch korrektive, politische als auch kommutative Elemente.[9] Sie ist auch in folgenden Dimensionen beschrieben worden:[10] (siehe auch Gerechtigkeitstheorien):

Konzeptualisierung und Kontroversen

Katholische Soziallehre

Den differenzierten Gerechtigkeitsbegriff von Thomas von Aquin, der wiederum auf dem von Aristoteles beruht, griffen Luigi Taparelli d’Azeglio, Gustav Ermecke, Heinrich Pesch, Eberhard Welty, Johannes Messner und Oswald von Nell-Breuning auf und fassten diesen neu im Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ für die katholischen Soziallehre.[11] Dabei wurde in dem Werk Saggio teoretico di diritto naturale appoggiato sul fatto (1840-43) von d’Azeglio der Ausdruck Soziale Gerechtigkeit erstmals ausdrücklich verwendet.[12][6] In weiterer Folge übernahm Papst Pius XI. den Ausdruck für seine Enzyklika Quadragesimo anno im Abschnitt Die neue Gesellschaftsordnung (1931), allerdings ohne ihn begrifflich näher zu bestimmen.[6] Darin wird die Vorstellung, der Staat habe die Wirtschaft frei und ungehindert sich selbst zu überlassen als „Grundirrtum der individualistischen Wirtschaftswissenschaft“ gebrandmarkt. Um die Einseitigkeit einer solchen Sichtweise zu überwinden sei die soziale Gerechtigkeit und die soziale Liebe als durchgreifendes regulatives Prinzip notwendig. Dadurch soll die Individualfunktion und die Sozialfunktion der Wirtschaft in einen harmonischen Ausgleich gebracht werden. Die soziale Gerechtigkeit müsse eine Rechts- und Gesellschaftsordnung herbeiführen, die der Wirtschaft „ganz und gar das Gepräge gibt“.[13] Diese Überlegungen erlangten mit Schaffung der Sozialen Marktwirtschaft praktische Bedeutung. Die Verankerung der Sozialen Marktwirtschaft in der katholischen Soziallehre wird bis in die jüngste Zeit immer wieder angeführt.[14] Wilhelm Röpke sah eine Nähe zur katholischen Soziallehre insbesondere mit Bezug zu Quadragesimo anno, die ein „vollkommen mit unserem Standpunkt deckendes Programm“ enthält.[15] Auch gut siebzig Jahre nach der Quadragesimo anno hat sich innerhalb der christlichen Sozialethik noch kein einheitliches und klares Begriffsverständnis von sozialer Gerechtigkeit herausgebildet.[8]

Soziale Gerechtigkeit aus marxistischer Sicht

Als eine materialistische Philosophie der Praxis nimmt der Marxismus gegenüber ethischen Postulaten ein kritisches Verhältnis ein. Es ist von einem „vielschichtigen Gerechtigkeitsverständnis von Marx und Engels“ auszugehen.[16] Sie lehnten „die Existenz einer ahistorischen und transzendentalen, also absoluten Gerechtigkeit radikal ab“.[17] Wenn Marx den Kapitalismus als ein System des Zwangs, der Knechtschaft und der Ausbeutung beschreibt, so ist doch nirgends von Ungerechtigkeit des Kapitalismus oder der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse die Rede; gerecht ist ihm zufolge, was der „gegebenen Produktionsweise entspricht“.[18] Gleichwohl hat Marx In der Kritik am Gothaer Programm der SPD „explizit Prinzipien kommunistischer Gerechtigkeit formuliert“:[19] In der „kommunistischen Gesellschaft […] kann der enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten werden und die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!“[20] In den Frühschriften von Marx findet sich als „kategorischer Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist“.[21]

John Rawls

Soziale Gerechtigkeit ist bei John Rawls das von den sozialen Institutionen einer Gemeinschaft angestrebte Resultat einer gerechten Sozialordnung. Sie hat die nach den ethischen Wertvorstellungen angemessen erscheinende Verteilung der Güter der Gemeinschaft, beziehungsweise deren Ausgleich unter den Teilhabern der sozialen Gemeinschaft zum Inhalt. Er geht davon aus, dass es der Veranlagung der Menschen entspreche, ihr persönliches Streben nach Glück maßgeblich mit einem Gerechtigkeitssinn zu überwölben. Nach Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit bedarf es zur Ermittlung adäquater Gerechtigkeitsgrundsätze der Berücksichtigung des Glücks der am schlechtesten gestellten Personen innerhalb der sozialen Gemeinschaft, so dass in einem hypothetischen Gesellschaftsvertrag dieser sozialen Ordnung eine Person zustimmen könnte, die, unter dem „Schleier der Ungewissheit“ stehend, nicht weiß, welche soziale Stellung sie innerhalb der Gemeinschaft einnehmen würde.

Rawls sieht zwei Gerechtigkeitsprinzipien:

  1. Jeder ist gleichermaßen im Besitz unveräußerlicher Grundfreiheiten (Freiheit, Leben, Eigentum usw.)
  2. Soziale und wirtschaftliche Ungleichheit ist nur zulässig, wenn sie sich zumindest auch für die am wenigsten Begüterten in der Gemeinschaft zum Vorteil auswirkt und ihre Chancengleichheit, angestrebte Positionen und Ämter innerhalb der Gemeinschaft zu bekleiden, nicht beeinträchtigt (Differenzprinzip).

Danach haben die Grundfreiheiten Vorrang vor der sozialen Gerechtigkeit und diese den Vorrang vor der Effektivität ökonomischen Gewinnstrebens.[22]

Amartya Sen

Der Ökonom Amartya Sen und die Sozialphilosophin Martha Nussbaum haben ein Befähigungsansatz (capability approach) entwickelt, der im Hinblick auf die Gerechtigkeit von Entwicklungs-, Geschlechter- und Sozialpolitik diskutiert wird.[23] Darin wird dem Thema der sozialen Gerechtigkeit die Frage zugrunde gelegt, was ein Mensch für Befähigungen benötigt, um sein Leben erfolgreich zu gestalten. Die Vertreter dieser Theorie verbinden die Idee der Sozialen Gerechtigkeit mit einem gehaltvollen Freiheitsbegriff. Zentrale Themen sind dabei etwa die Gesundheitsversorgung oder Bildungschancen unterprivilegierter Bevölkerungsschichten.[24]

Michael Walzer

Der US-amerikanische politische Philosoph Michael Walzer geht davon aus, dass in der menschlichen Gesellschaft Güter produziert und in unterschiedlichen sozialen Kontexten (sog. „Sphären“) nach unterschiedlichen Prinzipien, z.B. nach Verdienst, Bedürftigkeit oder freiem Austausch, verteilt werden.[25] Dabei würde eine universale und abstrakte Gerechtigkeit den unterschiedlichen sozialen Zusammenhängen zur Produktion verschiedene „Güter“ nicht gerecht. Als unterschiedliche soziale Kontexte identifiziert er unter anderem „Sphären“ zur Verwirklichung von Wohlfahrt und Sicherheit, Geld und Waren, Bildung, politischer Macht, Gemeinschaft, Verwandtschaft und Liebe und so weiter. In der Gesellschaft würden sich in diesen unterschiedlichen „Sphären der Gerechtigkeit“ (so der Titel seines Buches von 1983) verschiedene Ausprägungen der Gerechtigkeit und insgesamt eine „komplexe“ Gleichheitsvorstellung entwickeln. Demnach kann es gerecht sein, im Gesundheitssystem Leistungen nach Bedürftigkeit und im Wirtschaftssystem Leistungen nach Verdienst zu verteilen.

Neuerer sozialdemokratischer Ansatz

Eine Arbeitsgruppe im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung[26] entwickelte aus vier zeitgenössischen Gerechtigkeitstheorien (F. A. von Hayek, John Rawls, Michael Walzer und Amartya Sen) als „Prinzipien“ für „soziale Gerechtigkeit“

  • die Gleichverteilung der Zugangsmöglichkeiten zu den notwendigen Grundgütern für die individuell zu entscheidende Entfaltung von Lebenschancen und
  • die Stärkung der individuellen Fähigkeiten (capabilities), die persönliche Autonomie, Würde, Entscheidungsfreiheit, Lebenschancen und Optionsvielfalt schützen, sichern und erweitern.

Aus diesen beiden Prinzipien werden fünf Dimensionen "sozialer Gerechtigkeit" abgeleitet:

  1. Vermeidung von Armut
  2. Soziale Chancen durch Bildung
  3. Soziale Chancen durch einen integrativen Markt (Beschäftigungsquote, angemessene Einkommensverteilung)
  4. Berücksichtigung der besonderen Rolle der Frau
  5. Soziale Sicherung (Gesundheits- und Sozialausgaben im Verhältnis zum Sozialprodukt)

Dieses Verständnis sozialer Gerechtigkeit ist stark auf die gerechte (hier: gleiche) Verteilung von Zugangschancen gerichtet. Nachträgliche Umverteilungen durch passive sozialstaatliche Maßnahmen seien weniger geeignet, Klassenstrukturen zu brechen, Lebenschancen zu erweitern und Armutsfallen zu vermeiden. Trete trotzdem Armut auf, sei sie allerdings durch Ex-Post-Umverteilung mit hoher politischer Präferenz zu bekämpfen, da Armut die individuelle Autonomie und Würde des Menschen beschädigt und zu einer Falle für die nachfolgenden Generationen in armen Familien werden kann.

Kontroversen

Ein Streitpunkt ist die Frage der Universalität oder Gemeinschaftsgebundenheit von Gerechtigkeitsvorstellungen. Während Rawls von allgemeingültigen Bedingungen für gerechte Gesellschaften ausgeht, die sich vor allem in fairen Verfahren niederschlagen, sind eher kommunitaristisch orientierte Philosophen wie Walzer der Auffassung, dass Gerechtigkeitsvorstellungen oft implizit und an lokale Gemeinschaften gebunden sind.[27] Insbesondere im Kontext von Handelsliberalisierung und der Zunahme grenzüberschreitender Wirtschaftsbeziehungen haben diese Fragen eine besondere Brisanz erhalten.[28] Hier geht es darum auszuloten, inwiefern sich die philosophischen und sozialen Grundlagen globaler sozialer Gerechtigkeit als tragfähig erweisen, um nationale Vergemeinschaftung und Solidarität ergänzen oder gar ersetzen zu können.

Eine weitere Kontroverse besteht in dem Zusammenhang zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Der liberale politische Philosoph Isaiah Berlin, der Freiheit vor allem als negative Freiheit bestimmt, betont die schweren Entscheidungen (hard choices) zwischen Freiheit und sozialer Gerechtigkeit.[29] Andere Theoretiker, die eher in einer republikanischen Tradition stehen, wie Amartya Sen, heben hervor, dass soziale Gerechtigkeit im Sinne von Chancengleichheit und Befähigung als Voraussetzung für eine gehaltvolle individuelle Freiheitsausübung gelten muss.[30]

Soziale Gerechtigkeit in der sozioökonomischen Wirklichkeit

Unterschiedliche Prioritäten: Fürsorge – Versicherung – Versorgung

Nach Wolfgang Merkel[31] hat sich in der Gegenwart eine Aufteilung in „drei Welten des Wohlfahrtskapitalismus“ ergeben, die in der realen Welt zwar in Mischformen auftreten, sich aber doch durch charakteristische Strukturmerkmale deutlich voneinander unterscheiden lassen:

Das Sozialstaatsprinzip in Deutschland

In der Bundesrepublik Deutschland wird Soziale Gerechtigkeit als ideelles Ziel des aus dem Sozialstaatsgedanken des Artikel 20, Absatz 1 des Grundgesetzes abgeleiteten Bestreben der Sozialpolitik angesehen. Dem Bürger soll eine existenzsichernde Teilhabe an den materiellen und geistigen Gütern der Gemeinschaft garantiert werden. Insbesondere wird auch angestrebt, eine angemessene Mindestsicherheit zur Führung eines selbst bestimmten Lebens in Würde und Selbstachtung zu gewährleisten.

Für die aus dem Sozialstaatsprinzip hergeleitete Verpflichtung des Staates zu einer gerechten Sozialordnung steht dem Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum zu (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Januar 1982, BVerfGE 59,231[32]).

Nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef wächst die Kinderarmut in Deutschland schneller als in den meisten anderen Industriestaaten. Neben den PISA-Studien sehen auch andere international vergleichende Bildungsstudien (z. B. Euro-Student-Report, UNICEF-Studie: Educational Disadvantage in Rich Nations) Deutschland auf den hintersten Rängen bezüglich sozialer Gerechtigkeit. Zudem zeigten (West-)Deutsche nach einer Studie der EU die mit Abstand geringste „Diskriminierungs-Sensibilität“ in Europa.

In einer Studie, die die Bertelsmann Stiftung im Januar 2011 veröffentlichte, kommt Deutschland im Bereich der sozialen Gerechtigkeit bei dem durchgeführten OECD-Vergleich nur ins Mittelfeld. Besonders kritisiert wurden u.a. die hohe Kinderarmut, die starke soziale Benachteiligung im Bildungssystem, sowie eine unzureichende Förderung von Langzeitarbeitslosen.[33][34]

Gebrauch in Deutschland

Der Begriff der „sozialen Gerechtigkeit“ etablierte sich in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg.[35] Soziale Gerechtigkeit gehört laut der Konrad-Adenauer-Stiftung zu den Grundwerten im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft.[36] Soziale Gerechtigkeit ist laut Umfragen ein wichtiger Wert für die Bevölkerung und verschiedentliches Öffentlichkeitsthema in Debatten zum Gemeinwesen.[37]

In der politischen Diskussion in Deutschland wird der Begriff seit der Agenda 2010 und den Hartz-IV-Gesetzen wieder vermehrt verwendet und steht in der sozialstaatlichen Diskussion unter anderem für den Wunsch nach einem höheren Maß an sozialer Gleichheit und sozialer Sicherung. Aktuell taucht der Begriff auch z.B. in der Diskussion um die ungleicher werdende Einkommensverteilung und die Bankenrettungspakete auf. Während die Kritiker dieser Entwicklung als Folge eine zunehmende soziale Ungerechtigkeit sehen, wird von einigen Befürwortern diese Kritik als „Neiddebatte“ bezeichnet und zurückgewiesen. Die Begriffsverwendung führt dadurch auch zu einer politischen Auseinandersetzung zwischen den Parteien entsprechend der Rechts-links-Achse des Parteiensystems.[35] Seit den Ergebnissen der PISA-Studien, die gezeigt haben, dass in Deutschland die soziale Herkunft sich oft entscheidend auf die Bildungschancen auswirkt, wird insbesondere auch die Frage nach der sozialen Gerechtigkeit des Bildungssystems diskutiert.[38]

Internationale Aktivitäten

Der 20. Februar wurde von der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum Welttag der Sozialen Gerechtigkeit ernannt und 2009 zum ersten Mal begangen.[39]

Soziale Gerechtigkeit in der Diskussion

Soziale Gerechtigkeit in der politischen Diskussion

Der Begriff der Sozialen Gerechtigkeit wird innerhalb öffentlicher Debatten zwar sehr häufig verwendet, aber selten exakt definiert. [40] Politische Entscheidungsträger erzeugen und vertreten bestimmte Vorstellungen von sozialer Gerechtigkeit. [41] Der Begriff ist meist positiv besetzt, bei politischen Auseinandersetzungen beanspruchen daher die Vertreter unterschiedlicher und selbst widersprüchlicher Positionen das Etikett sozial gerecht für sich. Entsprechend dient die Etikettierung einer Position als sozial ungerecht der Disqualifizierung missliebiger Positionen. [42]

Hayeks Grundsatzkritik an Begriff und Bedeutung

Als ein inhaltsleeres Schlagwort wertete Friedrich August von Hayek „soziale Gerechtigkeit“ in seinem Buch Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit von 1976, das nach Einschätzung von Otfried Höffe das erste größere philosophische Werk zu diesem Thema ist.[43]

Die Aufmerksamkeit, die Hayeks Kritik in der sozialwissenschaftlichen Literatur gefunden hat, konzentriert sich zumeist auf seine Ablehnung der Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit im Sinne von Verteilungsgerechtigkeit.[44] In einer Marktwirtschaft, so Hayek, könne es nur Regelgerechtigkeit geben. Da in einer Marktwirtschaft niemand Einkommen verteile, sei es unsinnig, hier von gerechter oder ungerechter Verteilung zu sprechen. Genauso wie im Fußball, sofern die Spielregeln eingehalten wurden, ein 1:1 nicht gerechter sei als ein 6:0, gebe es für die Ergebnisse des Marktprozesses keine Kriterien, an denen sich eine gerechte Verteilung messen ließe. Ein solcher Gerechtigkeitsmaßstab sei nur in einer Zentralverwaltungswirtschaft sinnvoll anwendbar, in der eine zentrale Autorität die Verteilung von Gütern und Pflichten anordnet, was jedoch, so Hayek, auf eine auf eine totalitäre Gesamtkontrolle der Gesellschaft und eine Lähmung der wirtschaftlichen Prozesse hinausliefe.[45] Aber auch in einer solchen Wirtschaftsordnung könne nur irgendeine bestimmte Vorstellung von „sozialer Gerechtigkeit“ durchgesetzt und wohl kaum ein übergreifender Konsens zur „sozial gerechten“ Verteilung erzielt werden.[46] „Soziale Gerechtigkeit“ sei daher, so Hayek, „ein quasi- religiöser Aberglaube von der Art, daß wir ihn respektvoll in Frieden lassen sollten, solange er lediglich seine Anhänger glücklich macht, den wir aber bekämpfen müssen, wenn er zum Vorwand wird, gegen andere Menschen Zwang anzuwenden.“[47] Würden im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ Staatseingriffe gefordert, so geschehe dies meist, um Privilegien bestimmter Gruppen oder Personen durchzusetzen. Privilegienfreiheit sei jedoch Kernanforderung für eine gerechte Regelordnung.[46] Nothilfe hingegen sei mindestens dort politisch zu organisieren, wo die autonome Initiative versage; in prosperierenden Gesellschaften lägen derartige Hilfen legitimerweise oberhalb des physischen Existenzminimums. Hayek betont, dass es dabei nicht um die Korrektur von vermeintlichen Ungerechtigkeiten der Marktprozesse gehe.[48]

Literatur

Einzelnachweise

  1. Olaf Cramme und Patrick Diamond: Social Justice in the Global Age. Polity, 2009, ISBN 0745644198, S. 3.
  2. Olaf Cramme und Patrick Diamond: Social Justice in the Global Age. Polity, 2009, ISBN 0745644198, S. 3.
  3. Harald Jung, Soziale Marktwirtschaft und weltliche Ordnung, Lit Verlag, 2009, ISBN 978-3-643-10549-3, Seite 286
  4. Arno Anzenbacher, Christliche Sozialethik: Einführung und Prinzipien, UTB, 1998, ISBN 978-3825281557, Seite 221
  5. Papst Pius XI, Enzyklika Quadragesimo Anno, über die Gesellschaftliche Ordnung, 1931, §110, online verfügbar
  6. a b c d Arno Anzenbacher, Christliche Sozialethik: Einführung und Prinzipien, UTB, 1998, ISBN 978-3825281557, Seite 221
  7. Rolf Kramer, Soziale Gerechtigkeit - Inhalt und Grenzen, Duncker & Humblot GmbH, 1992, ISBN 3-428-07343-6, Seite 37
  8. a b Christoph Giersch, Zwischen sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz, LIT Verlag Münster, 2003, ISBN 382586684X, S.26
  9. Erik Oschek: Ist der deutsche Sozialstaat gerecht?: Eine sozialphilosophische Betrachtung für die Soziale Arbeit, Frank & Timme GmbH, 2007, ISBN 3865961401, S. 101 (unter Verweis auf Koller In: Kersting (Hrsg.): Politische Philosophie des Sozialstaats, 2000, 123 f.).
  10. Otfried Höffe: Gerechtigkeit; siehe Literatur
  11. Axel Bohmeyer und Johannes Frühbauer, Profile, Christliche Sozialethik zwischen Theologie und Philosophie, Lit Verlag, 2005, ISBN 978-3825876494, Seite 52
  12. Harald Jung, Soziale Marktwirtschaft und weltliche Ordnung, Lit Verlag, 2009, ISBN 978-3-643-10549-3, Seite 286
  13. Franz-Josef Bormann, Soziale Gerechtigkeit zwischen Fairness und Partizipation: John Rawls und die katholische Soziallehre, Verlag Herder, 2006, ISBN 978-3451291586, Seite 288
  14. Harald Jung, Soziale Marktwirtschaft und weltliche Ordnung, LIT Verlag, 2009, ISBN 978-3-643-10549-3, Seite 304
  15. Stephan Wirz, Philipp W. Hildmann, Soziale Marktwirtschaft: Zukunfts oder Auslaufmodell?, Theologischer Verlag Zürich, 2010, ISBN 978-3-290-20059-6, Seite 28
  16. Eintrag Gerechtigkeit. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus‘‘, Band 5, Sp. 383.
  17. Eintrag Gerechtigkeit. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 5, Sp. 384.
  18. Andreas Wildt: Gerechtigkeit in Marx‘ „Kapital“. In: Emil Angehrn / Georg Lohmann (Hrsg,): Ethik und Marx. Moralkritik und Grundlagen der Marxschen Theorie. Hain bei Athenäum, Königstein i.Ts. 1986, S. 150.
  19. Andreas Wildt: Gerechtigkeit in Marx‘ „Kapital“. In: Emil Angehrn / Georg Lohmann (Hrsg,): Ethik und Marx. Moralkritik und Grundlagen der Marxschen Theorie. Hain bei Athenäum, Königstein i.Ts. 1986, S. 150.
  20. Karl Marx / Friedrich Engels: Werke Band 19, Dietz, Berlin 1969, S. 31.
  21. Karl Marx / Friedrich Engels: Werke Band 1. Dietz, Berlin 1961, S. 385.
  22. John Rawls: Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971, 1979, Frankfurt am Main, S. 81
  23. Vgl. etwa John M. Alexander: Capabilities and Social Justice: The Political Philosophy of Amartya Sen and Martha Nussbaum, Ashgate Publishing, Ltd., 2008, ISBN 0754661873.
  24. Martha C. Nussbaum: Capabilities as fundamental entitlements: Sen and Social Justice. In: Feminist Economics 9(2 – 3), 2003, S. 33 – 59 [1].
  25. Richard Bellamy: Justice in the Community. Walzer on Pluralism, Equality and Democracy. In: David Boucher, Paul Joseph Kelly (Hrsg.): Social Justice: From Hume to Walzer, Band 1, Routledge, 1998, ISBN 0415149975, S. 157-180.
  26. Wolfgang Merkel , Mirko Krück, Soziale Gerechtigkeit und Demokratie : auf der Suche nach dem Zusammenhang
  27. Norman P. Barry: An Introduction to Modern Political Theory, 4. Aufl., Palgrave Macmillan, 2000, ISBN 031223516X, S. 155.
  28. Heather Widdows & Nicola J Smith: Global Social Justice. Taylor & Francis, 2011, ISBN 1136725911.
  29. George Crowder: Isaiah Berlin: Liberty and Pluralism. Polity, 2004, ISBN 0745624774, S. 179.
  30. John M. Alexander: Capabilities and Social Justice: The Political Philosophy of Amartya Sen and Martha Nussbaum. Ashgate Publishing, Ltd., 2008, ISBN 0754661873, S. 151.
  31. Wolfgang Merkel: Soziale Gerechtigkeit im OECD Vergleich, S. 233ff in Empter/Varenkamp: Soziale Gerechtigkeit – eine Bestandsaufnahme, 2007, ISBN 978-3-89204-925-8
  32. Deutschsprachiges Fallrecht (DFR): BVerfGE 59, 231 – Freie Mitarbeiter
  33. Bertelsmann Stiftung. Nachholbedarf in Sachen soziale Gerechtigkeit, Pressemitteilung, 3. Januar 2011. Abgerufen am 8. Januar 2011.
  34. Bertelsmann Stiftung. Soziale Gerechtigkeit in der OECD – Wo steht Deutschland? Sustainable Governance Indicators 2011. 2011. Abgerufen am 8. Januar 2011.
  35. a b Frank Nullmeier: Soziale Gerechtigkeit – ein politischer „Kampfbegriff“?, In Soziale Gerechtigkeit, Aus Politik und Zeitgeschichte 47/2009, 16. November 2009; S. 9-13
  36. Konrad-Adenauer-Stiftung: Lexikon der Sozialen Marktwirtschaft, Eintrag: Soziale Gerechtigkeit (sozialer Ausgleich) [2] sowie Eintrag: Soziale Marktwirtschaft: Soziale Irenik [3]
  37. Vgl. etwa Ingo Schulze: Das Monster in der Grube, , FAZ August 2009
  38. Heinz Sünker: Bildungspolitik, Bildung und soziale Gerechtigkeit PISA und die Folgen In: Hans-Uwe Otto, Thomas Rauschenbach (Hrsg.), Die andere Seite der Bildung, Verlag für Sozialwissenschaften, 2. Aufl., Wiesbaden 2008, 223-236.
  39. Launch of the World Day of Social Justice, New York, 10 February 2009. Auf der Website der UNO, abgerufen am 8. März 2010.
  40. Christoph Giersch: Zwischen sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz. Band 2 von Bochumer Studien zur Gerechtigkeit, LIT Verlag Münster 2003, ISBN 382586684X, S. 25
  41. Roswitha Pioch: Soziale Gerechtigkeit in der Politik: Orientierungen von Politikern in Deutschland und den Niederlanden.Campus Verlag, 2000, ISBN 3593364867, S.59
  42. Christoph Giersch: Zwischen sozialer Gerechtigkeit und ökonomischer Effizienz. Band 2 von Bochumer Studien zur Gerechtigkeit, LIT Verlag Münster 2003, ISBN 382586684X, S. 25
  43. Otfried Höffe, Gerechtigkeit: Eine philosophische Einführung, C. H. Beck Verlag, 2. Auflage, 2001, ISBN 978-3-406-44768-6, S. 84
  44. Viktor Vanberg, Marktwirtschaft und Gerechtigkeit - F.A. Hayeks Kritik am Konzept der „sozialen Gerechtigkeit“, Institut für Allgemeine Wirtschaftsforschung - Abteilung für Wirtschaftspolitik, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, 2011, S. 2
  45. Walter Reese-Schäfer, Politische Theorie der Gegenwart in fünfzehn Modellen, Lehr- und Handbücher der Politikwissenschaft, Oldenbourg Verlag, 2006, ISBN 3486579304, S. 19
  46. a b Viktor Vanberg, Marktwirtschaft und Gerechtigkeit. Zu F.A. Hayeks Kritik am Konzept der "sozialen Gerechtigkeit", Universität Freiburg, Walter Eucken Institut, Freiburg, 2011 (online)
  47. Friedrich August von Hayek, Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, 1976, S. 98
  48. Reinhard Zintl, Von Hayek – Freiheit und „soziale Gerechtigkeit“, in Politische Philosophie, Band 2816 von Uni-Taschenbücher M, Grundkurs Politikwissenschaft, 2. Auflage, 2006, ISBN 3825228169, S. 152