Soziale Frage

Der Begriff Soziale Frage bezeichnet die sozialen Missstände, die mit der Entwicklung der Industriellen Revolution einhergingen, das heißt mit dem Übergang von der Agrar- zur sich verstädternden Industriegesellschaft auftraten. In England war der Beginn dieses Übergangs etwa ab 1750 zu verzeichnen, in Deutschland ab dem 19. Jahrhundert. Schon geraume Zeit zuvor kristallisierte sich seinerzeit dramatisches Elend großer Bevölkerungsgruppen heraus. Eine erste Phase umfasste in Deutschland in etwa die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie war geprägt vor allem von einer wachsenden Bevölkerung, den Niedergang des alten Gewerbes und den erste langsamen Aufstieg der Fabrikindustrie. Kernprobleme der Sozialen Frage waren der Pauperismus und Existenzunsicherheit von Bauern, ländlichem Gesinde, Arbeitern und kleinen Kontorangestellten. Im Laufe der Zeit verschoben sich die Problemlagen. Etwa zwischen den 1850er Jahren und den 1870er Jahren erfuhr die Industrie einen starken Aufschwung, während sich der Niedergang etwa des Heimgewerbes und die Krise des Handwerks fortsetzte. Eine dritte Phase war in Deutschland etwa seit 1870 geprägt von der Hochindustrialisierung und dem Durchbruch der Industriegesellschaft. Die soziale Frage wandelte dabei ihr Gesicht. In den Vordergrund trat nunmehr die Arbeiterfrage. Fragen wie die Massenwanderung, Großstadtbildung und insgesamt die Frage der Integration der Arbeiter in die Gesellschaft bestimmten zunehmend die Wahrnehmung des Staates und der bürgerlichen Öffentlichkeit. Entsprechend unterschiedlich entwickelten sich auch die gesellschaftlichen Lösungsansätze.

Begriff

Der Begriff soziale Frage entstand ab etwa 1830 und umschreibt zunächst die mit dem Bevölkerungs- und Städtewachstum entstehende Verelendung, dann die mit dem Gesellenüberschuss (daher auch der „Handwerksburschenkommunismus“ von Wilhelm Weitling) und den Arbeitsbedingungen der Frühindustrialisierung (12-Stunden-Tag, Kinder- und Frauenarbeit) verbundenen Konflikte. Die soziale Krise wurde vielfach fühlbar (Unterernährung und frühes Siechtum, Untergang kleiner Wirtschaftsbetriebe – Höfe, Einzelhandel, Handwerk –, Wohnungsnot in den anwachsenden Großstädten, starke Binnenmigration, neue Kriminalitätsformen).

Zunächst wird der Terminus in der deutschsprachigen Literatur als Übersetzung des französischen „question sociale“ verwendet, um die gesellschaftliche Situation in anderen Staaten Westeuropas darzustellen. Ein erster Nachweis findet sich in der am 30. April 1840 in Augsburg erschienenen Korrespondenz Heinrich Heines aus Paris.[1] In gesellschaftspolitischen Schriften und Untersuchungen zur Situation in Deutschland erlangte der Begriff erst um 1848 eine herausgehobene, programmatische Bedeutung.[2]

Schematische Übersicht (Zeit-Tafel)

SCHAUBILD - 1. bis 3. industrielle Revolution
Zeit Terminus technicus Charakteristika / Details    
ab ca. 1750 Erste industrielle Revolution .
. maßgebliche Erfindungen Dampfmaschine; mechan. Webstuhl; Spinnmaschine; Eisenbahn .
. Technischer Wandel Industrialisierung .
. . Mechanisierung (menschliche Muskel- wird durch Maschinenkraft ersetzt) .
. . . .
. Gesellschaftswandel Übergang von der Agrargesellschaft zur Industriegesellschaft
Entstehung eines Lohnarbeiter-Proletariats mit Tendenz zu absoluter Armut
.
. Exemplarische Krisen Pauperismus, Gründerkrach 1873 .
. Soziale Frage Verelendung und totale Existenzunsicherheit der Landbevölkerung, Handwerker und der neu entstehenden Industriearbeiterschaft .
. . Massenarbeitslosigkeit, Hungerlöhne etc. pp. .
. . . .
um 1900 Zweite industrielle Revolution .
. maßgebliche Erfindungen Dieselmotor; Ottomotor; Automobil .
. Technischer Wandel Elektrifizierung; (großindustrielle) Chemieindustrie; Rüstungsindustrie .
. . Rationalisierung (Fließbandarbeit); Ausbau der Massenproduktion .
. . . .
. Gesellschaftswandel Imperialismus und Realer Sozialismus führen zur Dreiteilung der Welt.
Industrialisierte Kriegsführung; Umweltverschmutzung durch die Industrie
.
. Exemplarische Krisen Erster Weltkrieg; Galoppierende Inflation 1921-1923; Weltwirtschaftskrise; Zweiter Weltkrieg .
nach 1945 politische Entwicklung
nach Blöcken getrennt
1.) westlich-kapitalsitische "Wohlfahrtsstaaten"
2.) sozialistische "Staatengemeinschaft"
3.) "Entwicklungsländer" der "Dritten Welt"
.
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ab ca. 1975 Dritte industrielle Revolution bzw. "Digitale Revolution" .
. maßgebliche Erfindungen Computer; Mikrochip; Mikroprozessoren .
. Technischer Wandel "Computerisierung", Digitalisierung .
. . Automatisierung (Automaten, Roboter) .
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. Gesellschaftswandel Globalisierung .
. . Übergang von der Industriegesellschaft zur postindustriellen Wissensökonomie, Globalisierung der Bürgerkriege und des Terrorismus .
. Soziale Frage Verelendung + massive weltweite Existenzunsicherheit der Arbeitnehmer und der anwachsenden großstädtischen Prekariate .
. . Massenarbeitslosigkeit, Hungerlöhne etc. pp. .
.   Schwinden einzelstaatlichen wirtschaftspolitischen Einflusses gegenüber Weltmarkt und Weltfinanzströmen: Erosion der bisherigen sozialen Sicherungssysteme in den Industriestaaten; Zunahme der individuellen Arbeitsplatz- und Niedriglohn-Risiken durch weltweite Konkurrenz um die kostengünstigsten Produktionsstandorte; rückläufige Bedeutung der beruflichen Erstqualifikation zugunsten des sog. "lebenslangen Lernens". .
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Merkmale

Die Soziale Frage ist meistens mit dem raschen sozialen Abstieg von vielen ohnehin wirtschaftlich schwachen sozialen Gruppierungen verbunden. Die zwei Schlüsselmerkmale waren dabei ein sich beschleunigendes Bevölkerungswachstum sowie die Reformfolgen zumal der Bauernbefreiung und der Gewerbefreiheit.

Die überwiegend noch auf dem Lande lebende Bevölkerung wuchs in Europa nach 1815 aus noch nicht vollständig geklärten Ursachen ungewöhnlich stark an. Gründe dafür können in der gesamteuropäischen Klimaerwärmung liegen, die sicherere Ernten ab dem Ende der vielhundertjährigen „Kleinen Eiszeit“ in den 1780er Jahren ermöglichte. Außerdem waren sie Folge einzelner, vor allem medizinischer und hygienischer Fortschritte, z.B. nach der Einführung der Pockenimpfung durch Edward Jenner 1796 und soliderer chirurgischer Ausbildung, zunächst für die Militärchirurgie unter Napoleon I.

Die Bauernbefreiung durch Aufhebung der Leibeigenschaft erzwang von den Landwirten eine Abgeltung alter Fronlasten, die die nunmehr „freien“ Bauern auf zu kleinen Höfen beließ und in die Verschuldung trieb, so dass sie durch das so genannte Bauernlegen aus ihrem Besitz gekauft wurden. Die Aufhebung des Zunftzwangs führte zum Anstieg der Gesellenzahl, sinkenden Löhnen im Handwerk und steigender Arbeitslosigkeit, zum „Handwerksburschenelend“.

Die Soziale Frage schließt die Suche nach Ursachen und Lösungen ein. Politische und wissenschaftliche Versuche, das Phänomen auf eine einzige Ursache zurückzuführen, haben sie stets begleitet und können regelmäßig ihren ideologischen Ursprung nicht verleugnen.

Entstehung und Problemdruck

Bereits vor Aufkommen der „sozialen Frage“ gab es signifikante Armut wie auch - vor allem kirchliche und kommunale - Versuche ihrer Milderung. Wichtig wurden aber jetzt ihre neuartigen Formen und die Tendenz, dass „Armut“ nach der die Monarchien und Kirchen beunruhigenden Französischen Revolution 1789 in der öffentlichen Meinung und in alten und neuen Wissenschaften (Jurisprudenz, Nationalökonomie, Soziologie) entsprechend thematisiert wurde.

Die Brisanz der Sozialen Frage kann man wie folgt erklären: Es war ein als völlig neuartig empfundener und radikaler sozialer Wandel von ganzen damit unerfahrenen Gesellschaften. Die europäische spätfeudale Agrargesellschaft mit handels- und gewerbekapitalistischen Städten als deren überregionalen Märkten (Max Weber) wandelte sich zu einer kapitalistischen - erst merkantilistischen, dann industriellen - Gesellschaft (siehe: Industrielle Revolution).

Die allmähliche Auflösung der traditionellen sozialen Gemeinschaften wie etwa der Großfamilie oder der Bindung an den Grundherrn zerriss auch die traditionell engverflochtenen sozialen Netze. Die Bevölkerungsexplosion führte zu verstärkter Landflucht in die Städte und einem Überangebot an Arbeitskräften. Dieses Überangebot drückte das Lohnniveau, so dass mehrere Mitglieder einer Familie eine Lohnarbeit suchen mussten; die dadurch auf den Arbeitsmarkt drängenden Frauen und Kinder senkten das Lohnniveau weiter, Arbeitszeiten von 12 und mehr Stunden pro Tag, sowie Nacht- und Sonntagsarbeit wurden erzwingbar, auf Gesundheit (chronische Vergiftungen, Silikose) und betrieblichen Unfallschutz wurde kaum geachtet. Folge dieser Lebensbedingungen und Arbeitsverhältnisse war eine umfassende Verelendung: Erbärmliche Wohnverhältnisse (Slums, verwanzte Mietskasernen, oft nur ein Zimmer pro Familie, tagsüber Schlafburschen in den gleichen Betten), infolgedessen ein Rückgang der Familienbindung und -bildung mit ganz neuartigen persönlichen Vereinzelungen, Verrohung der Sitten, Schulmangel, auch Kinderprostitution, dazu zunehmende Prostitution überhaupt mit ausgebauter Zuhälterei als eigene Subkultur, Kreditwucher, Lebensmittelverfälschungen, städtische Bandenbildung, insgesamt also körperliche und psychische Schäden (Tuberkulose, Geschlechtskrankheiten, „Englische Krankheit“ durch Vitaminmangel, Krätze, Verlausung, Trunksucht) und sinkende Lebenserwartung.

Lösungsversuche

Zur Lösung dieser Probleme engagierten sich bäuerliche, bürgerliche, kirchliche Initiativen und nach ihrem Aufkommen dann sozialistische (marxistische) Bewegungen; dann auch der Staat und die Wissenschaften.

Gesellschaft

Neben zunächst den neuzeitlichen Genossenschaften und z.B. dem katholischen Kolping-Bund wurden bald die Gewerkschaften aktiv, schließlich dann auch Parteien (im Deutschen Reich u.a. die SPD). Aus der Sicht der Arbeiterbewegung war die Soziale Frage ein Resultat des Klassenkampfes zwischen Kapital und Arbeit (siehe Marxismus).

Die Unternehmen, in deren Betrieben die Arbeiter angestellt waren, versuchten, deren Lage zu verbessern, indem sie ihnen günstige Wohnungen stellten (Werkwohnungsbau), zuweilen auch werkärztliche Dienste einrichteten und die Löhne etwas anhoben.

Auch die parallel anwachsende Frauenbewegung (Lohnangleichung, Kampf gegen die Prostitution), nach 1900 auch die Jugendbewegung (Hinwendung aus grauer Städte Mauern zur Natur) waren Antworten auf die Soziale Frage, alle mit durchaus voneinander abweichender Strategien der Problembekämpfung.

Staat

Die staatliche Sozialpolitik des Deutschen Reiches versuchte eine Entschärfung dieser Konflikte durch Sozialreformen. Erste konkrete Lösungsansätze sind in den Sozialgesetzgebungen Otto von Bismarcks zu finden, die 1883 mit dem Krankenversicherungsgesetz ihren Anfang nahmen. Dieser sozialpolitische Ansatz wurde alsbald von anderen Staaten übernommen (kopiert).

Aus historischer Sicht ist festzuhalten: „Eine positive Lösung der sozialen Frage stellt Bismarcks Sozialgesetzgebung dar. Bismarck erkennt das Kernproblem: Die Unsicherheit der Existenz des Arbeiters“.[3] [4]

Auch die Sozialreformen unter Wilhelm II. trugen zur Linderung bei.

Wissenschaften

In den Wissenschaften wandten sich zumal die Nationalökonomie (vgl. den Kathedersozialismus) und die Sozialmedizin dem Problemfeld zu. Vgl. auch „Die soziale Frage bis zum Weltkriege“ (zuletzt Berlin/New York 1982) des ersten deutschen Soziologen Ferdinand Tönnies.

Kirchen

Im Jahr 1891 thematisierte Papst Leo XIII. in seiner Enzyclica "Rerum novarum" (Über die Arbeiterfrage) die sozialen Verwerfungen und Missstände und benannte dabei zugleich Lösungswege. [5]

In seiner Pfingsbotschaft im Jahr 1941 (über die soziale Frage) erinnerte Papst Pius XII. an die Kernforderungen der Enzyclica "Rerum novarum"[5] und ermahnte eindringlich alle Menschen und Nationen, schnellstmöglich nach Lösungen zu suchen.[6]

Ende des Schlagworts von der „Sozialen Frage“

Die großen Krisen ab 1914 (Erster Weltkrieg 1914-18, die Hyper-Inflation bis 1923, die „Weltwirtschaftskrise“ ab 1929, die populistische Verbrechensherrschaft ab 1933 und der Zweite Weltkrieg (1939-45) wurden nicht mehr als „Soziale Frage“ diskutiert.

Der Ausbau des Sozialstaats und die Anhebung des allgemeinen Wohlstandniveaus nach 1950 trugen maßgeblich dazu bei, dass die „Soziale Frage“ als Arbeiterfrage in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zumindest in den Industrieländern als Begriff in Vergessenheit geriet.

Weitere Verwendung des Begriffs

Im Deutschland der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurde ein Versuch der Neubestimmung der Sozialpolitik vorgenommen.[7] Dabei wurde der Begriff der neuen sozialen Frage[8] geprägt, der sich aber nicht dauerhaft im politischen Sprachgebrauch durchsetzen konnte.[9]
Auch das Schlagwort der „sozialen Frage“ wird in der heutigen gesellschaftspolitischen Diskussion nur noch sehr vereinzelt verwendet.[10]

Literatur

Monographien

  • Ferdinand Tönnies: Die soziale Frage, [1909, zuletzt 1982: Die soziale Frage bis zum Weltkriege], Berlin/New York: de Gruyter

Aufsätze

  • Regina Görner: Die deutschen Katholiken und die soziale Frage im 19. Jahrhundert. In: Günther Rüther (Hrsg.): Geschichte der Christlich-Demokratischen und Christlich-Sozialen Bewegung in Deutschland. Teil I. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung, 1984. ISBN 3-923423-20-9 S.145-198.

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Vgl. Pankoke, Eckart: Sociale Bewegung, sociale Frage, sociale Politik, Stuttgart 1970, S. 49, dort Fußnote 1.
  2. Vgl. bspw. K. Biedermann: Vorlesungen über Socialismus und sociale Fragen, Leipzig 1847 (zitiert nach Pankoke, S. 49, Fußnote 2).
  3. Bruno Huhnt, Industrielle Revolution und Industriezeitalter, Seite 73, unter Hinweis auf die Ausführungen Otto von Bismarcks zur Begründung seiner sozialpolitischen Gesetzgebung, Reden im Deutschen Reichstag am 15. und 20. März 1884; Hg.: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung, 1966
  4. Bayerische Staatsbibliothek, Digitale Bibliothek - Münchener Digitalisierungszentrum (MDZ), Reichstagsprotokolle, Bd. 082, 05.Legislaturperiode 04.Session 1884, 9. Sitzung am Donnerstag, 20.03.1884 (Sitzungsbeginn: Seite 133), Rede Otto von Bismarck: Seite 161 ff., Seite 165
  5. a b Papst Leo XIII: Enzyklika RERUM NOVARUM (1891) oder Online-Texte zur katholischen Soziallehre
  6. Pfingstbotschaft 1941, Papst Pius XII. zur Fünfzigjahrfeier des Rundschreibens "Rerum novarum" Papst Leos XIII. über die soziale Frage. (Pfingstsonntag, 1. Juni 1941) oder Online-Texte zur katholischen Soziallehre
  7. Vgl. Stichwort Neue soziale Frage im Lexikon der Bundeszentrale für politische Bildung; aus: Schubert, Klaus/Martina Klein: Das Politiklexikon. 4., aktual. Aufl. Bonn: Dietz 2006.
  8. Vgl. Heiner Geißler: Die Neue Soziale Frage. Analysen und Dokumente. Herder Verlag, 1976, ISBN 978-3451075667.
  9. Vgl. Die Brockhaus Infothek: Die soziale Frage Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG.
  10. Vgl. Neonazis: Trittbrettfahrer der sozialen Frage, Pressemitteilung des Deutschen Gewerkschaftsbundes. 2007.