Das Unbewusste

Das Unbewusste ist ein Begriff der Tiefenpsychologie, der sich auf psychische Vorgänge bezieht, die dem menschlichen Bewusstsein nicht ohne hierfür geeignete Maßnahmen (s. u.) zugänglich sind. In der Alltagssprache wird im selben Sinn wie „das Unbewusste“ der Begriff das Unterbewusstsein verwendet. In der Fachliteratur wird man letztgenannten Ausdruck nicht finden; er dürfte einer fehlerhaften Rückübersetzung des englischen „subconscious“ entstammen.

Werdegang und Anliegen der Theorie

Sigmund Freud, Begründer der Psychoanalyse, erachtete die Traumdeutung als den „Königsweg in das Unbewußte“. Zur Erörterung der während dieser Arbeit gewonnenen Befunde und Annahmen unterschied er drei psychische Bereiche oder Zustände seelischer Inhalte:

  1. Das Bewusste. Seine verschiedenen Inhalte können nach Belieben in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt und beiseite gelegt werden; es obliegt der Entscheidungsfreiheit, die im Abendland seit alters her dem Bewusstsein ('Geist') zugeschrieben wird. Freud sieht die Bestimmung des Bewussteins oder "Ich" darin, mit seinen Fähigkeiten den eigenen und einer Reihe weiterer angeborener Bedürfnissen zu dienen. (Nähere s. unter Lustprinzip.)
  2. Das Vorbewusste. Dies sind seelische Inhalte, auf die das Bewußtsein nicht sofort zugreifen kann, die jedoch durch Suchen nach Zusammenhängen auftauchen oder einem "einfallen" (wie der Name eines länger nicht gesehenen Bekannten, den man auf der Straße trifft). Auch die spontanen Reaktionen des Körpers, etwa der "Reflex", im Falle eines Sturztes die Arme schützend vorzustrecken, gehören dem leicht bewußt werdenden Bereich des Vorbewusten an.
  3. Das Unbewusste. Trotz willentlicher Anstrengung kann ein seelischer Inhalt nicht direkt bewusst gemacht werden; es bedarf hierzu des Handwerkszeugs der Psychoanalyse: die Methode der Freien Assoziation, etwa im Zusammenhang mit der Traumdeutung.
Andere Vorgänge, die sich ebenfalls dem Unbewussten zurechnen lassen, sind u.a. die des intrazellularen Stoffwechsels; auch zu deren Bewusstmachung bedarf es spezieller Methoden und Werkzeuge wie z.B. das Mikroskop, welches die Sehkraft der Augen verstärkend gewissermaßen dem Ich wie ein künstliches Organ ('Brille') aufgesetzt wird. Diese Arbeit gehört jedoch speziell dem Fachgebiet der Physiologie an; es eignet sich nicht zur Aufdeckung und Erklärung psychischer Phänomene wie etwa die "Verdrängung".

Nach Freud ist das Unbewusste des erwachsenen Menschen ein System, das vor allem aus Verdrängtem, d.h. dem Bewusstsein nicht unmittelbar zugänglichen weil vorbewußt "abgewehrten" Inhalten besteht, und das einer eigenen Gesetzmäßigkeit unterliegt. Das Unbewusste beinhaltet insbesondere die kindlichen Triebwünsche, welche ausschließlich nach dem Lustprinzip agieren. Als Biologe und Befürworter der Evolutionstheorie Darwins, entdeckte Freud in diesem Prinzip die sonst kaum noch erkennbare Herkunft oder eigentliche Heimat des Menschen im Reich der Tiere. Im Gegensatz zu diesen und den ganz kleinen Kindern, handelt der Erwachsene in der Regel, seiner abgeschlossenen Erziehung wegen, nach dem Prinzip der Unlustvermeidung.

Freud kombinierte später die drei o.g. Bezeichnungen seines ursprünglichen Seelenmodells mit einem erweiteren Konzept, dessen Theorie drei psychische Instanzen namentlich und funktionsmäßig unterscheidet: Es, Ich und Über-Ich. In diesem naturalistischem Modell der Psyche ist das Unbewusste weitgehend identisch mit dem Es (Keim der natürlichen Triebe; Instinkte), das Über-Ich hingegen der Sitz der ab Geburt gewonnenen oder anerzogenen Erfahrungen (Prägung) und überwiegend identisch mit dem Vorbewussten. In diesem vollzieht sich u.a. die Bildung der Symbole. Das Ich ist vor allem die Instanz des Bewusstseins und kann sich reflektierend sowohl mit seinen eigenen Inhalten als auch denen der beiden anderen psychischen Instanzen befassen. Darüber hinaus ist das Ich die Instanz, in der die Entscheidung über die anschließend ins Vorbewusste verlagerten Abwehrmechanismen gefällt werden; die psychoanalytische Behandlung soll dies wieder bewußt machen und somit ermöglichen, die einmal gefällte Entscheidung zu revidieren.

"Das Hauptanliegen der Psychoanalyse nach Freud ist die Aufhebung der zwischenmenschlichen Illusionen (s.a. Narzisstische Kränkung) und die Wiederbewusstmachung jener psychischen Inhalte, die aufgrund von moralischer Erziehung und Traumata in das Unbewußte verdrängt wurden, die Behebung des damit verbundenen neurotischen Leidens und jeder sinnlosen Destruktivität. Dieses Ziel fasste er in einem kurzen Satz zusammen: Wo Es war, soll Ich werden!"

Die wissenschaftliche Entdeckung des Unbewussten

Hypnose von Richard Bergh 1887
  • Vorläufer der dynamischen Psychotherapie: Die historische und anthropologische Forschung zeigt, dass so wie teilweise noch immer in der modernen Psychotherapie, bei den früheren und heute exotischen Kulturen der Menschheit Methoden zur Behandlung psychischer Befindlichkeitsstörungen angewendet wurden, in denen das Charisma und suggestive Können der tatsächlichen oder vermeintlichen Heiler eine tragende Rolle spielt (vgl. Exorzismus, Hypnose, Religiöse Zeremonien usw.). Gemeinsam ist diesen verschiedenen 'magischen' Behandlungsformen oft die Annahme einer hinter der sichtbaren Alltagswelt gelegenen, unsichtbaren Welt, die die Quelle einer lebensspendenden Kraft beherberge und die als die früheste Vorform eines Unbewussten gelten kann. Den Krankheits-verusachend gehinderten Zugang zu dieser Quelle wieder neu zu erschließen, gilt als maßgeblich für den Erfolg der Behandlung durch einen Heiler.
  • Der deutsche Arzt Franz Anton Mesmer (1734-1815) war der Begründer der ersten dynamischen Psychiatrie (1775-1900). Wie die Heiler exotischer Kulturen geht er von heilenden Kräften aus (magnetische Ströme, Fluidum, Rapport), die der Arzt im Patient wieder anregen kann. Diese Kräfte nannte er - in Analogie zu den zeitgenössischen Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizität - „tierischen Magnetismus“.
  • Sein Schüler, der französische Artillerieoffizier Marquis de Puységur (1751-1825) entwickelte die Behandlungsform weiter zur Verabreichung eines sog. „magnetischen Schlafes“, bzw. „Hypnose“.
  • Der französische Neurologe Jean-Martin Charcot (1825-1893) untersuchte am Hôpital Salpêtrière in Paris die „traumatischen Lähmungen“ und erkannte mit Hilfe der Hypnose, dass ihnen keine organischen Störungen zugrunde liegen können: unter hypnotischer Suggestion ließen sich die Lähmungen beheben. Freud arbeitete 1885-1886 vier Monate an dieser berühmten französischen Klinik.
  • Der französische Philosophieprofessor, Arzt und Psychotherapeut Pierre Janet (1859-1947) war der Gründer eines neuen Systems der dynamischen Psychiatrie (ab 1900). Sein Werk wurde zu einer der Hauptquellen für Freud, Adler und Jung.
  • Sigmund Freud (1856-1939) gilt als Entdecker eines wissenschaftlich fundierten Weges zur Erschließung des Unbewussten. Nach anfänglichen Experimenten mit der bei Charcot erlernten Hypnosetechnik, distanzierte er sich davon, da die suggestive Behebungen psychosomatischer Symptome nicht von Dauer ist, und gründete seine eigene Schule, die Psychoanalyse. Ihre Erfolge beruhen nach Freud zum einen auf der vernunftsgemäßen Einsicht, die der Patient im Laufe der Behandlung über die Ursache seiner Erkrankung gewinnt, und zum anderen auf der Möglichkeit, das pathologische Verhalten anhand der Diagnose in therapeutisch wirksamer Weise zu ändern. Freuds Schriften und Einsichten in die psychische Dynamik sowohl der Einzelnen als auch der von ihnen begründeten oder tradierten Kulturen, haben unsere Lebensweise und unsere Auffassung vom Menschen grundlegend geändert.
  • Die von Alfred Adler (1870-1937) entwickelte Individualpsychologie unterscheidet sich von der Psychoanalyse grundlegend durch ihre pragmatische Theorie mit der Betonung der Unteilbarkeit des Individuums und der teleologischen und sozialen Orientierung des Menschen. Mit Freud nahm Adler jedoch an, dass die frühkindlich erlebten Situationen den Lebensstil des Erwachsenen unbewusst beeinflussen. Adlers Lehre hat die Neopsychoanalyse stark mitgeprägt.
  • Die von Carl Gustav Jung (1875-1961) begründete analytische Psychologie weisst oberflächlich besehen eine Ähnlichkeit zur Psychoanalyse auf. Beide beschreiben die Möglichkeit der (Wieder)Aufdeckung des Unbewussten in Form einer Lehr- oder Heilanalyse. Das Unbewusste im Sinne von Jung ist jedoch ein sogenanntes kollektives Unbewusstes, während Freud ein individuelles Unbewusstes konzipiert hat, ohne allerdings die Existenz kollektiv identischer Symbole - wie z.B. der "phallischen", die kulturübergreifend vorkommen - zu verneinen. Zu den wesentlichen konzeptuellen Unvereinbarkeiten, siehe Traumdeutung.
  • Üblich ist der Begriff unbewusst weiterhin in der psychologischen Generationsforschung. Hier meint er ein verdecktes Ereignis, das über unterschwellige Verhaltensbeeinflussung von einer Generation an die nächste weitergegeben werden kann, ohne dass es allgemein thematisisert würde.

Literarische Betrachtungen zum Unbewussten / Zitate

Der Begriff unbewusst wurde nachweisbar zuerst von Goethe 1777 in einem Gedicht gebraucht. Wahrscheinlich war er aber schon vorher im nicht schriftlichen Sprachgebrauch vorhanden.

  • Johann Wolfgang von Goethe: "Wenn man die Kühnheit hat, über das Unbewusste und Unergründliche zu sprechen: so kann man nur dessen Dasein, nicht dessen Tiefe bestimmen wollen."
  • Jean Paul - Vorschule der Ästhetik. Erste Abteilung, III. Programm, §11-13: "Das Mächtigste im Dichter, welches seinen Werken die gute und die böse Seele einbläset, ist gerade das Unbewusste."
  • Jean Paul - Vorschule der Ästhetik. Erste Abteilung, III. Programm, §11-13: "Übrigens gibt es gar viele Anzeichen, aus denen wir schließen müssen, daß es in jedem Augenblick in uns eine unendliche Menge von Perzeptionen ohne bewusste Wahrnehmung und Reflexion gibt, d.h. Veränderungen in der Seele selbst, deren wir uns nicht bewusst werden, weil diese Eindrücke entweder zu gering und zu zahlreich oder zu gleichförmig sind, so daß sie im einzelnen keine hinreichende Unterscheidungsmerkmale aufweisen. Nichtsdestoweniger können sie zusammen mit anderen ihre Wirkung tun und sich insgesamt wenigstens in verworrener Weise zur Wahrnehmung bringen. So führt die Gewohnheit dazu, auf die Bewegung einer Mühle oder eines Wasserfalls nicht mehr zu achten, wenn wir eine Zeitlang ganz nahe dabei gewohnt haben"
  • Henry F. Ellenberger, Die Entdeckung des Unbewussten, Verlag Hans Huber Bern 1973, ISBN 3-456-30577-X

Synonym zum Wort Unbewusst sind im Volksmund die Begriffe absichtlos, instinktiv, versehentlich, zufällig, unwillkürlich in Gebrauch.

Siehe auch

Bewusstsein, Psychoanalyse, Psychologie, Kollektives Unbewusstes

Literatur

Ellenberger, H. F.: Die Entdeckung des Unbewußten. Diogenes, Zürich 2005. ISBN 3257065035