„Feministische Wissenschaftstheorie“ – Versionsunterschied

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== Kritik der Wertneutralität ==
== Kritik der Wertneutralität ==


Bei allen Ansätzen der feministischen [[Wissenschaftstheorie]] findet sich eine Kritik des Anspruchs auf [[Wertneutralität]] <ref =name"Weber"> Der Klassiker ist hier: Max Weber ''Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis''. Wiederabgedruckt in: ''Schriften zu Wissenschaftstheorie'', Reclam, Stuttgart, 1991 </ref>. Vertreter dieses Anspruchs argumentieren, dass die Wissenschaften lediglich beschreiben würden, wie die Welt ist und dabei keine moralischen, ästhetischen oder politischen Wertungen machen müssten. Im Rahmen einer solchen Theorie der wertneutralen Wissenschaften kann einer spezifisch ''feministischen'' Wissenschaftsbetrachtung kein Raum gegeben werden, da der Feminismus explizit polititische Ziele hat und somit nicht als wertneutral gelten kann. Feministinnen begegnen einer derartigen Kritik, indem sie den Anspruch zurückweisen, dass die Wissenschaften wertneutral seien. Man kann zwischen zwei Formen der Kritik des Anspruchs auf Wertneutralität unterscheiden. Zum einen ist es möglich, darauf hinzuweisen, dass die Wissenschaften angeblich nicht wertneutral sind, zum anderen kann behauptet werden, dass dieser Anspruch ''prinzipiell'' uneinlösbar ist.
Bei allen Ansätzen der feministischen [[Wissenschaftstheorie]] findet sich eine Kritik des Anspruchs auf [[Wertneutralität]] <ref =name"Weber"> Der Klassiker ist hier: Max Weber ''Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis''. Wiederabgedruckt in: ''Schriften zu Wissenschaftstheorie'', Reclam, Stuttgart, 1991 </ref>. Vertreter dieses Anspruchs argumentieren, dass die Wissenschaften lediglich beschreiben würden, wie die Welt ist und dabei keine moralischen, ästhetischen oder politischen Wertungen machen müssten. Im Rahmen einer solchen Theorie der wertneutralen Wissenschaften kann einer spezifisch ''feministischen'' Wissenschaftsbetrachtung kein Raum gegeben werden, da der Feminismus explizit polititische Ziele hat und somit nicht als wertneutral gelten kann. Feministinnen begegnen einer derartigen Kritik, indem sie den Anspruch zurückweisen, dass die Wissenschaften wertneutral seien. Man kann zwischen zwei Formen der Kritik des Anspruchs auf Wertneutralität unterscheiden. Zum einen ist es möglich, darauf hinzuweisen, dass die Wissenschaften ''de facto'' nicht wertneutral sind, zum anderen kann argumentiert werden, dass dieser Anspruch ''prinzipiell'' uneinlösbar ist.


=== Praktische Kritik ===
=== Praktische Kritik ===


Die ''praktische Kritik'' bezieht sich darauf, dass der Anspruch auf Wertneutralität in den Wissenschaften angeblich nur selten eingelöst wird. Es wird darauf verwiesen, dass auch die heutige wissenschaftliche Forschung in einem gesellschaftlichen und historischen [[Kontext]] steht und daher immer durch die Interessen und Vorteile des Umfeldes beeinflusst wird. Neben einzelnen Beispielen wird dabei oft auf die Geschichte der Wissenschaften verwiesen. Aus heutiger Perspektive ist erkennbar, dass vergangene wissenschaftliche Theorien die Vorurteile und Werturteile ihrer Epochen übernommen haben. Da auch in heutigen Gesellschaften Vorurteile gegenüber Frauen und Männern herrschen, ist anzunehmen, dass sich diese Vorurteile auch in den empirischen Wissenschaften wiederfinden. Aus dieser Kritik wird gefolgert, dass man den realen Wissenschaftsbetrieb kritisch begleiten muss, um wissenschaftlich nicht belegte Vorurteile und Werturteile aufzudecken und zu kritisieren.
Die ''praktische Kritik'' bezieht sich darauf, dass der Anspruch auf Wertneutralität in den Wissenschaften kaum eingelöst wird. Es wird darauf verwiesen, dass auch die heutige wissenschaftliche Forschung in einem gesellschaftlichen und historischen [[Kontext]] steht und daher immer durch die Interessen und Vorteile des Umfeldes beeinflusst wird. Neben einzelnen Beispielen wird dabei oft auf die Geschichte der Wissenschaften verwiesen. Aus heutiger Perspektive ist erkennbar, dass vergangene wissenschaftliche Theorien die Vorurteile und Werturteile ihrer Epochen übernommen haben. Da auch in heutigen Gesellschaften Vorurteile gegenüber Frauen und Männern herrschen, ist anzunehmen, dass sich diese Vorurteile auch in den empirischen Wissenschaften wiederfinden. Aus dieser Kritik wird gefolgert, dass man den realen Wissenschaftsbetrieb kritisch begleiten muss, um wissenschaftlich nicht belegte Vorurteile und Werturteile aufzudecken und zu kritisieren.


Zum feministischen Programm einer praktischen Kritik der Wertneutralität gehört auch der Verweis auf [[Pseudowissenschaft|pseudowissenschaftliche]] Argumentationen in der Öffentlichkeit. Eine derartige Pseudowissenschaft wird nach Meinung einiger (weniger) Wissenschaftstheoretiker betrieben, wenn geschlechtsspezifisches Verhalten in Bestsellern oder Fernsehdokumentationen durch simple [[Evolutionstheorie|evolutionstheoretische]] Überlegungen erklärt werden soll <ref =name"Warum"> Ein bekanntes Ziel solcher Kritik ist: Allan Pease, Barbara Pease: ''Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken'', Ullstein, München, 2000 </ref>. Das Gleiche soll auch für manche [[populärwissenschaft]]liche Publikationen von Fachwissenschaftlern gelten. So heißt es etwa schon im Klappentext eines Buches des Biologen [[Ben Greenstein]]: „Allem voran ist der Mann ein Befruchter von Frauen. Sein Zwang, Gene in Frauen zu injezieren ist so stark, dass er sein Leben von der Pubertät bis zum Alter dominiert. Dieser Zwang ist sogar stärker als der Drang zum Töten. [...] Es kann sogar gesagt werden, dass Produktion und Verteilung von Sperma sein einziger Lebenssinn sind - seine physische Macht und Lust zu töten sind auf dieses Ziel gerichtet...“ <ref =name"Green"> Ben Greenstein: ''The Fragile Male'' Anchor House Books, Petersfield, 1993 ISBN 1852835001 </ref>. In der feministischen Wissenschaft wird erklärt, dass derartige Äußerungen nicht nur wertgeladen sind, sondern schlicht schlechte Wissenschaft darstellen. Die Behauptungen von Greenstein seien so verallgemeinernd und spekulativ, dass sie sich durch die [[Biowissenschaften]] gar nicht bestätigen lassen.
Zum feministischen Programm einer praktischen Kritik der Wertneutralität gehört auch der Verweis auf [[Pseudowissenschaft|pseudowissenschaftliche]] Argumentationen in der Öffentlichkeit. Eine derartige Pseudowissenschaft wird nach Meinung vieler Wissenschaftstheoretiker betrieben, wenn geschlechtsspezifisches Verhalten in Bestsellern oder Fernsehdokumentationen durch simple [[Evolutionstheorie|evolutionstheoretische]] Überlegungen erklärt werden soll <ref =name"Warum"> Ein bekanntes Ziel solcher Kritik ist: Allan Pease, Barbara Pease: ''Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken'', Ullstein, München, 2000 </ref>. Das Gleiche gilt auch für viele [[populärwissenschaft]]liche Publikationen von Fachwissenschaftlern. So heißt es etwa schon im Klappentext eines Buches des Biologen [[Ben Greenstein]]: „Allem voran ist der Mann ein Befruchter von Frauen. Sein Zwang, Gene in Frauen zu injezieren ist so stark, dass er sein Leben von der Pubertät bis zum Alter dominiert. Dieser Zwang ist sogar stärker als der Drang zum Töten. [...] Es kann sogar gesagt werden, dass Produktion und Verteilung von Sperma sein einziger Lebenssinn sind - seine physische Macht und Lust zu töten sind auf dieses Ziel gerichtet...“ <ref =name"Green"> Ben Greenstein: ''The Fragile Male'' Anchor House Books, Petersfield, 1993 ISBN 1852835001 </ref>. In der feministischen Wissenschaft wird erklärt, dass derartige Äußerungen nicht nur wertgeladen sind, sondern schlicht schlechte Wissenschaft darstellen. Die Behauptungen von Greenstein seien so verallgemeinernd und spekulativ, dass sie sich durch die [[Biowissenschaften]] gar nicht bestätigen lassen.


Oft wird diese Kritik an vereinfachenden evolutionären Erklärungen auch auf das Projekt der [[evolutionäre Psychologie|evolutionären Psychologie]] oder [[Soziobiologie]] übertragen. Die evolutionäre Psychologie hat den Anspruch, menschliches Denken, Fühlen und Verhalten durch evolutionsbiologische Prozesse zu erklären - dieses Programm wird auch auf die Geschlechterdifferenzen übertragen. Wie brisant diese Projekte oft sind, zeigt etwa ein Themenschwerpunkt der renommierten Zeitschrift [[Behavioral and Brain Sciences]], in dem es um evolutioäre Erklärungen von [[Vergewaltigung]]en und um ein Männern eingebautes „Vergewaltigungsmodul“ ging <ref =name"Beha"> [[Behavioral and Brain Sciences]], 1992, Nr.15 </ref>. Der Wissenschaftstheoretiker [[John Dupré]] kritisiert derartige Projekte des Forschungsbetriebs als pseudowissenschaftlich <ref =name"Dupre"> [[John Dupré]]: ''Human Nature and the Limits of Sience''. Clarendon Press, Oxford 2003, ISBN 0-19-924806-0 </ref>. Nach Dupré ist der Einfluss der kulturellen Evolution so stark, dass sich aus heutiger Perspektive die Resultate der biologischen Evolution und der kulturellen Evolution nicht mehr trennen lassen, wenn es um so komplexe Phänomene wie das geschlechtsspezifische Verhalten gehe. Aus dem geschlechtsspezifischem Verhalten anderer [[Art (Biologie)|Arten]] ließen sich zudem keine sicheren Erkenntnisse über das menschliche Verhalten ableiten, da die Evolution bei verschiedenen Arten extrem verschiedene Formen des Geschlechterverhaltens realisiert habe. Laut Dupré folgt aus diesen Überlegungen, dass eine evolutionstheoretische Erklärung der Unterschiede im Geschlechterverhalten nicht wissenschaftlichen Maßstäben genüge und folglich in keiner Weise ein wertneutrales Forschungsprogramm darstelle. Vertreter der evolutionären Psychologie halten derartige Einschätzungen für übertrieben. Sie geben oft zu, dass die Quellenlage problematisch ist, erklären jedoch, dass es dennoch legitim sei, mittels dieser Quellen Hypothesen über die evolutionären Ursachen für geschlechtsspzifisches Verhalten zu formulieren.
Oft wird diese Kritik an vereinfachenden evolutionären Erklärungen auch auf das Projekt der [[evolutionäre Psychologie|evolutionären Psychologie]] oder [[Soziobiologie]] übertragen. Die evolutionäre Psychologie hat den Anspruch, menschliches Denken, Fühlen und Verhalten durch evolutionsbiologische Prozesse zu erklären - dieses Programm wird auch auf die Geschlechterdifferenzen übertragen. Wie brisant diese Projekte oft sind, zeigt etwa ein Themenschwerpunkt der renommierten Zeitschrift [[Behavioral and Brain Sciences]], in dem es um evolutioäre Erklärungen von [[Vergewaltigung]]en und um ein Männern eingebautes „Vergewaltigungsmodul“ ging <ref =name"Beha"> [[Behavioral and Brain Sciences]], 1992, Nr.15 </ref>. Der Wissenschaftstheoretiker [[John Dupré]] kritisiert derartige Projekte des Forschungsbetriebs als pseudowissenschaftlich <ref =name"Dupre"> [[John Dupré]]: ''Human Nature and the Limits of Sience''. Clarendon Press, Oxford 2003, ISBN 0-19-924806-0 </ref>. Nach Dupré ist der Einfluss der kulturellen Evolution so stark, dass sich aus heutiger Perspektive die Resultate der biologischen Evolution und der kulturellen Evolution nicht mehr trennen lassen, wenn es um so komplexe Phänomene wie das geschlechtsspezifische Verhalten gehe. Aus dem geschlechtsspezifischem Verhalten anderer [[Art (Biologie)|Arten]] ließen sich zudem keine sicheren Erkenntnisse über das menschliche Verhalten ableiten, da die Evolution bei verschiedenen Arten extrem verschiedene Formen des Geschlechterverhaltens realisiert habe. Laut Dupré folgt aus diesen Überlegungen, dass eine evolutionstheoretische Erklärung der Unterschiede im Geschlechterverhalten nicht wissenschaftlichen Maßstäben genüge und folglich in keiner Weise ein wertneutrales Forschungsprogramm darstelle. Vertreter der evolutionären Psychologie halten derartige Einschätzungen für übertrieben. Sie geben oft zu, dass die Quellenlage problematisch ist, erklären jedoch, dass es dennoch legitim sei, mittels dieser Quellen Hypothesen über die evolutionären Ursachen für geschlechtsspzifisches Verhalten zu formulieren.

Version vom 28. September 2006, 16:30 Uhr

Die feministische Wissenschaftstheorie ist eine philosophische Disziplin, die die Geschlechtervorstellungen in den Wissenschaften kritisch reflektiert. Sie gilt als Teilgebiet der feministischen Philosophie, geht allerdings auch oft in die feministische Wissenschaftssoziologie[1] und Wissenschaftsgeschichte[2] über. Der feministischen Wissenschaftstheorie wird im Rahmen der allgemeinen feministischen Theoriebildung eine große Bedeutung zugesprochen, da etwa eine kritische Untersuchung von humanwissenschaftlichen Kategorien zentral für ein Verständnis der Geschlechtervorstellungen sei. Feministische Ansätze werden zudem auch oft in der allgemeinen Wissenschaftstheorie diskutiert, da sie in einflussreicher Weise allgemeine wissenschaftstheoretische Fragen thematisiern. So wird auch die allgemeine Frage nach der Wertneutralität der Wissenschaften oder nach der Notwendigkeit einer Wissenschaftskritik sehr häufig unter Bezugnahme auf feministische Theoretikerinnen geführt.

Kritik der Wertneutralität

Bei allen Ansätzen der feministischen Wissenschaftstheorie findet sich eine Kritik des Anspruchs auf Wertneutralität [3]. Vertreter dieses Anspruchs argumentieren, dass die Wissenschaften lediglich beschreiben würden, wie die Welt ist und dabei keine moralischen, ästhetischen oder politischen Wertungen machen müssten. Im Rahmen einer solchen Theorie der wertneutralen Wissenschaften kann einer spezifisch feministischen Wissenschaftsbetrachtung kein Raum gegeben werden, da der Feminismus explizit polititische Ziele hat und somit nicht als wertneutral gelten kann. Feministinnen begegnen einer derartigen Kritik, indem sie den Anspruch zurückweisen, dass die Wissenschaften wertneutral seien. Man kann zwischen zwei Formen der Kritik des Anspruchs auf Wertneutralität unterscheiden. Zum einen ist es möglich, darauf hinzuweisen, dass die Wissenschaften de facto nicht wertneutral sind, zum anderen kann argumentiert werden, dass dieser Anspruch prinzipiell uneinlösbar ist.

Praktische Kritik

Die praktische Kritik bezieht sich darauf, dass der Anspruch auf Wertneutralität in den Wissenschaften kaum eingelöst wird. Es wird darauf verwiesen, dass auch die heutige wissenschaftliche Forschung in einem gesellschaftlichen und historischen Kontext steht und daher immer durch die Interessen und Vorteile des Umfeldes beeinflusst wird. Neben einzelnen Beispielen wird dabei oft auf die Geschichte der Wissenschaften verwiesen. Aus heutiger Perspektive ist erkennbar, dass vergangene wissenschaftliche Theorien die Vorurteile und Werturteile ihrer Epochen übernommen haben. Da auch in heutigen Gesellschaften Vorurteile gegenüber Frauen und Männern herrschen, ist anzunehmen, dass sich diese Vorurteile auch in den empirischen Wissenschaften wiederfinden. Aus dieser Kritik wird gefolgert, dass man den realen Wissenschaftsbetrieb kritisch begleiten muss, um wissenschaftlich nicht belegte Vorurteile und Werturteile aufzudecken und zu kritisieren.

Zum feministischen Programm einer praktischen Kritik der Wertneutralität gehört auch der Verweis auf pseudowissenschaftliche Argumentationen in der Öffentlichkeit. Eine derartige Pseudowissenschaft wird nach Meinung vieler Wissenschaftstheoretiker betrieben, wenn geschlechtsspezifisches Verhalten in Bestsellern oder Fernsehdokumentationen durch simple evolutionstheoretische Überlegungen erklärt werden soll [4]. Das Gleiche gilt auch für viele populärwissenschaftliche Publikationen von Fachwissenschaftlern. So heißt es etwa schon im Klappentext eines Buches des Biologen Ben Greenstein: „Allem voran ist der Mann ein Befruchter von Frauen. Sein Zwang, Gene in Frauen zu injezieren ist so stark, dass er sein Leben von der Pubertät bis zum Alter dominiert. Dieser Zwang ist sogar stärker als der Drang zum Töten. [...] Es kann sogar gesagt werden, dass Produktion und Verteilung von Sperma sein einziger Lebenssinn sind - seine physische Macht und Lust zu töten sind auf dieses Ziel gerichtet...“ [5]. In der feministischen Wissenschaft wird erklärt, dass derartige Äußerungen nicht nur wertgeladen sind, sondern schlicht schlechte Wissenschaft darstellen. Die Behauptungen von Greenstein seien so verallgemeinernd und spekulativ, dass sie sich durch die Biowissenschaften gar nicht bestätigen lassen.

Oft wird diese Kritik an vereinfachenden evolutionären Erklärungen auch auf das Projekt der evolutionären Psychologie oder Soziobiologie übertragen. Die evolutionäre Psychologie hat den Anspruch, menschliches Denken, Fühlen und Verhalten durch evolutionsbiologische Prozesse zu erklären - dieses Programm wird auch auf die Geschlechterdifferenzen übertragen. Wie brisant diese Projekte oft sind, zeigt etwa ein Themenschwerpunkt der renommierten Zeitschrift Behavioral and Brain Sciences, in dem es um evolutioäre Erklärungen von Vergewaltigungen und um ein Männern eingebautes „Vergewaltigungsmodul“ ging [6]. Der Wissenschaftstheoretiker John Dupré kritisiert derartige Projekte des Forschungsbetriebs als pseudowissenschaftlich [7]. Nach Dupré ist der Einfluss der kulturellen Evolution so stark, dass sich aus heutiger Perspektive die Resultate der biologischen Evolution und der kulturellen Evolution nicht mehr trennen lassen, wenn es um so komplexe Phänomene wie das geschlechtsspezifische Verhalten gehe. Aus dem geschlechtsspezifischem Verhalten anderer Arten ließen sich zudem keine sicheren Erkenntnisse über das menschliche Verhalten ableiten, da die Evolution bei verschiedenen Arten extrem verschiedene Formen des Geschlechterverhaltens realisiert habe. Laut Dupré folgt aus diesen Überlegungen, dass eine evolutionstheoretische Erklärung der Unterschiede im Geschlechterverhalten nicht wissenschaftlichen Maßstäben genüge und folglich in keiner Weise ein wertneutrales Forschungsprogramm darstelle. Vertreter der evolutionären Psychologie halten derartige Einschätzungen für übertrieben. Sie geben oft zu, dass die Quellenlage problematisch ist, erklären jedoch, dass es dennoch legitim sei, mittels dieser Quellen Hypothesen über die evolutionären Ursachen für geschlechtsspzifisches Verhalten zu formulieren.

Prinzipielle Kritik

Im Rahmen der prinzipiellen Kritik wird hingegen versucht, zu zeigen, dass es der Wissenschaft grundsätzlich nicht möglich sei, rein wertneutral zu agieren. So wird darauf verwiesen, dass in der Forschung zwangsläufig bestimmtes Material als interessant und relevant bewertet werden müsse, während andere Fakten ausgeschlossen werden. Zudem wird argumentiert, dass für wissenschaftliche Allgemeinbegriffe Kriterien gebraucht werden, die keinesfalls zwangsläufig und von der Natur vorgegeben seien. Wenn etwa klassifizierende Begriffe wie Intelligenz, Geschlecht, Ethnie oder Krankheit verwendet werden, so sind die Kriterien nicht zwingend und von Menschen nach gewissen Werten geschaffen. So könne etwa der Intelligenzbegriff in ganz verschiedenen Weisen verwendet werden, ein bestimmter Intelligenzbegriff entspringe immer den Vorstellungen und Interessen des Forschers.

Die Kritik des Anspruchs auf Wertneutralität ist für die feministische Wissenschaftstheorie zentral, da sie das Aufspüren und die Kritik von Werten in der naturwissenschaftlichen Forschung über Geschlechter ermöglicht. Auch wenn es sehr verschiedene philosophische Traditionen gibt, die die Wertdurchzogenheit von Faktenurteilen betonen, wird diese Idee in der feministischen Theorie meist unter Bezug auf die Standpunkttheorie diskutiert[8].

Die biologischen Geschlechterbegriffe

Ein Schwerpunkt der feministischen Wissenschaftstheorie liegt in der Untersuchung der biologischen Geschlechterbegriffe. Auch hier ist das Ziel, zu zeigen, dass die aktuellen Geschlechterklassifikationen kontingente Produkte wissenschaftlicher Forschung sind und keinesfalls von der Natur vorgeschrieben.

Argumentiert wird hier zum einen mit der Vielzahl der möglichen Kriterien für biologische Geschlechtszugehörigkeit. Während das genetische Geschlecht durch die chromosomale Ausstattung des Individuums definiert wird, geben nach dem hormonellen Geschlecht die hormonproduzierenden Keimdrüsen den Ausschlag. Nach dem genitalen Geschlecht werden hingegen die äußeren Geschlechtsmerkmale als definierendes Kriterium angesetzt. Nun wird angemerkt, dass Menschen zu unterschiedlichen Geschlechtern gehören können, je nachdem, welche Kriterien angewandt werden. Die Frage, welches Geschlecht eine Person wirklich habe, sei unter Umständen also sinnlos, da sich diese Frage nicht an der Welt entscheide, sondern an dem Begriffsystem, für das man sich entscheide[9].

Das Faktum der verschiedenen biologischen Geschlechtsbegriffe weist nach Meinung vieler Theorien zudem darauf hin, dass sich hinter dem scheinbar einheitlichen Geschlechtsprinzip der Natur sehr verschiedene Phänomene verbergen. So ist das genetische Geschlecht etwa gar nicht auf die Gesamtheit der Lebewesen anwendbar.

Bedeutung der Intersexualität

Als Intersexualität bezeichnet man das Phänomen, dass manche Menschen uneindeutige Geschlechtsmerkmale haben[10]. Diese Uneindeutigkeit kann bei allen der oben genannten Geschlechtskriterien auftreten. Es gibt also Menschen mit uneindeutigen Chromosomen, Geschlechtsmerkmalen und uneindeutiger Hormonproduktion. Nach Meinung vieler feministischer Theorien zeigt das Phänomen der Intersexualität, dass die menschengemachten Geschlechterkategorien oft an der Vielfältigkeit und Komplexität der biologischen Realität scheitern. Zwar erzeugten die Kategorien bei den meisten Menschen eindeutige Klassifikationen, erwiesen sich jedoch zugleich bei anderen Menschen als ungenügend.

Die Konsequenzen, die in der feministischen Wissenschaftstheorie aus Uneindeutigkeit und Variabilität der Geschlechterbegriffe gezogen werden, sind durchaus unterschiedlich. In vielen Theorien wird keine grundsätzliche Revision der biologischen Geschlechterbegriffe gefordert. Vielmehr wird erklärt, dass die beschriebenen Phänomene zu einem besseren Verständnis etwa von Intersexualität beitragen können. Oft wird bei Intersexuellen davon ausgegangen, dass sie ein wirkliches Geschlecht haben müssten. Diese Annahme wird von wissenschaftstheoretischer Seite mit dem Argument zurückgewiesen, dass es keinen Grund für die Annahme gebe, dass die von Menschen erfundenen Allgemeinbegriffe / Kriterien auch immer ein eindeutiges Ergebnis erzeugen. Dies lässt sich auch an der Funktionsweise anderer Allgemeinbegriffe wie „Tisch“ und „Schrank“ erläutern. In der Regel kann man sehr gut bestimmen, ob es sich bei einem Objekt um einen Tisch oder einen Schrank handelt. Wird nun jedoch ein Objekt erzeugt, dass Tisch und Schrank ist, macht es keinen Sinn, zu behaupten, dass dieses Objekt entweder Tisch oder Schrank sein müsse. In Analogie dazu mache es bei einem Menschen mit uneindeutigen Geschlechtsmerkmalen keinen Sinn, zu behaupten, dass er in Wirklichkeit entweder Frau oder Mann sein müsse.

Während sich also viele Theorien auf die Betonung dieser Uneindeutigkeiten beschränken, versuchen andere Ansätze, die Geschlechterbegriffe grundsätzlich zu verändern oder gar abzuschaffen. Solche Theorien entstehen meistens im Umfeld der philosophischen Postmoderne. Sie erklären, dass die Geschlechterbegriffe so viel Schaden angerichtet hätten, dass es am besten sei, sie aufzugeben.

Postmoderne Ansätze

Viele Ansätze der feministischen Wissenschaftstheorie, wie auch allgemein der feministischen Philosophie, sind stark durch die philosophische Postmoderne beeinflusst. Diese lässt sich als die radikalste Interpretation der Linguistischen Wende verstehen. Die zentrale These der linguistischen Wende lautet, dass der Zugang zur Wirklichkeit dem Menschen immer nur durch die Sprache vermittelt möglich sei. Da mit einem sprachlichen System auch immer eine bestimmte Perspektive einhergeht, wird im Rahmen der linguistischen Wende oft davon ausgegangen, dass ein rein objektiver Zugang zur Welt, der jede subjektive Perspektive ausschließt, nicht möglich sei. Man könne letztlich nicht aus der eigenen, menschlichen und sprachlich vermittelten Perspektive heraustreten. Von postmoderner Seite wird diese Annahme nun dahingehend radikalisiert, dass behauptet wird, die Idee einer spezifizierten Realität jenseits jeder menschlich-subjektiven Perspektive sei sinnlos[11].

Die postmoderne feministische Wissenschaftstheorie zieht daraus nun die Konsequenz, dass auch die Annahme von Geschlechtern jenseits begrifflicher Ordnungen sinnlos sei[12]. Man könne sich daher nicht auf eine vorsprachliche Geschlechterordnung berufen, vielmehr würden die Geschlechter in den sprachlichen Praktiken konstruiert. Dies eröffne aber auch die Möglichkeit einer Dekonstruktion der alten Geschlechterordnung. Es wird dabei die Konstruktion einer alternativen oder die Abschaffung jeder Geschlechterordnung angestrebt. Derartige Ansätze sind nicht auf die Wissenschaftstheorie beschränkt, sondern reichen besonders im Rahmen der Queer Theory sehr weit in die feministische Theorie und Praxis.

Kritik

Insbesondere an den postmodernen Ansätzen der feministischen Wissenschaftstheorie ist viel Kritik geübt worden. So wird von naturwissenschaftlicher Seite oft eingewandt, dass die Wissenschaften eine zweigeschlechtliche Kategorisierung oft zwingend erforderten. So gebe es etwa in der Medizin einfach so viele geschlechtsspezifische Krankheiten, Diagnoseanforderungen und Behandlungsmethoden, dass an eine Aufgabe des Zweigeschlechtermodells nicht zu denken sei. Ähnlich sehe es in weiten Teilen der Biologie aus. Von postmoderner Seite kann hierauf in zwei Weisen reagiert werden. Zum einen kann erklärt werden, dass auch nur eine Dekonstruktion des allgemeinen Zweigeschlechtermodells angestrebt werde, was eine Beibehaltung in manchen Einzelwissenschaften nicht ausschließe. Zum anderen kann versucht werden, zu plausibilisieren, dass auch erfolgreiche Klassifikationssysteme in Medizin und Biologie möglich seien, die sich nicht auf die Zweigeschlechtlichkeit stützen.

Von philosophischer Seite wird an den Ansätzen einer postmodernen, feministischen Wissenschaftstheorie zudem oft eine generelle erkenntnistheoretische und metaphysische Kritik geübt. So wird von zahlreichen Philosophen bezweifelt, dass die Tatsache, dass die Wirklichkeit immer schon subjektiv vermittelt ist, zur Aufgabe der Idee einer sprachunabhängigen Welt zwinge. Vielmehr könne man auch von einer sprachunabhängigen Welt ausgehen, die den Menschen eben nur sprachlich zugängig sei. Dies beschränke die Möglichkeiten dekonstruktiver Programme. Diese Diskussion um die grundlegenden postmodernen Annahmen führt allerdings sehr weit in die philosophische Realismusdebatte und ist darin nicht unbedingt spezifisch für die feministisch-wissenschaftstheoretischen Ansätze.

Doch nicht nur an den postmodernen Zugängen der feministischen Wissenschaftstheorie wird Kritik geäußert. Neben generellen Vorbehalten gegenüber feministischen Programmen, besteht auch oft in der allgemeinen Wissenschaftstheorie eine gewisse Skepsis. Dabei gilt es jedoch zu beachten, dass die Akzeptanz der feministischen Wissenschaftstheorie in den letzten Jahrzehnten stark zugenommen hat. Einwände betreffen insbesondere die Angemessenheit einer spezifisch feministischen Wissenschaftsphilosophie. So wird argumentiert, dass weite Teile der wissenschaftlichen Theorie vollkommen unabhängig von der Kategorie Geschlecht operierten. Dies betreffe etwa die Astrophysik, die Optik, die anorganische Chemie, die Mathematik, die Quantenphysik, die theoretische Informatik, die Geologie und zahllose andere Disziplinen. Auch allgemeine wissenschaftstheoretische Fragen, wie etwa die nach dem Status von Naturgesetzen, reduktiven Erklärungen, Kausalität, Kohärenzprinzipien oder Verifikation und Falsifikation seien von Geschlechterüberlegungen vollkommen unabhängig. Auf diese Herausforderungen kann die feministische Wissenschaftstheorie zum einen reagieren, indem sie ihren eigenen Kompetenzbereich auf ein beschränktes Feld der Wissenschaftstheorie eingrenzt. Zum anderen kann sie versuchen, nachzuweisen, dass auch in vielen der genannten Felder Geschlechterideen eine Rolle spielen.

Literatur

  • Anne Fausto-Sterling: Sexing the Body: Gender Politics and the Construction of Sexuality, Basic Books, 2001, ISBN 0465077145 Einflussreiche Theorie der biologischen Geschlechter aus feministischer Perspektive
  • Sandra Harding: The Science Question in Feminism, Cornell University Press, 1986, ISBN 0801493633 Der Klassiker der feministischen Wissenschaftstheorie
  • Katharina Rowold: Gender and Science (Key Issues), Thoemmes Press, 1996, ISBN 1855064111 Sammelband, enthält auch soziologische, historische und politische Texte

Quellen

  1. Etwa: Karin Knorr-Cetina: Die Fabrikation von Erkenntnis, Suhrkamp, FfM, 1984, ISBN 3518285599
  2. Etwa: Londa Schiebinger: Nature's Body: Gender in the Making of Modern Science, Rutgers University Press, 2004, ISBN 081353531X
  3. Der Klassiker ist hier: Max Weber Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. Wiederabgedruckt in: Schriften zu Wissenschaftstheorie, Reclam, Stuttgart, 1991
  4. Ein bekanntes Ziel solcher Kritik ist: Allan Pease, Barbara Pease: Warum Männer nicht zuhören und Frauen schlecht einparken, Ullstein, München, 2000
  5. Ben Greenstein: The Fragile Male Anchor House Books, Petersfield, 1993 ISBN 1852835001
  6. Behavioral and Brain Sciences, 1992, Nr.15
  7. John Dupré: Human Nature and the Limits of Sience. Clarendon Press, Oxford 2003, ISBN 0-19-924806-0
  8. Sandra Harding: The Feminist Standpoint Theory Reader. Intellectual and Political Controversies., Routledge, 2003, ISBN 0415945003
  9. Anne Fausto-Sterling: Sexing the Body: Gender Politics and the Construction of Sexuality, Basic Books, 2001, ISBN 0465077145
  10. Peggy T. Cohen-Kettenis u.a.: Transgenderism and Intersexuality in Childhood and Adolescence: Making Choices (Developmental Clinical Psychology and Psychiatry), Sage Publications, 2003
  11. Wichtig ist hier etwa Richard Rorty: Philosophy and the Mirror of Nature, Princeton University Press, 1981, ISBN 0691020167
  12. Anküpfungspunkt ist hier auch für die feministische Wissenschaftstheorie: Judith Butler: Gender Trouble: Feminism and the Subversion of Identity, Routledge, 1990, ISBN 0415900433