Man’yōgana

Man’yōgana
SchrifttypSilbenschrift
SprachenJapanische Sprache
Verwendet inJapan
AbstammungChinesische Schrift
Man’yōgana
AbgeleiteteHiragana, Katakana
ISO 15924Hani (Chinesische Schrift)

Man’yōgana (jap. 万葉仮名) ist ein historisches Schriftsystem der japanischen Sprache, das chinesische Schriftzeichen (Kanji) nicht ihrer semantischen (bedeutungstragenden) Qualitäten wegen verwendet, sondern aus phonetischen (lautlichen) Gründen. Sie ist damit eine Silbenschrift und Vorläufer der heute in Japan verwendeten Hiragana- und Katakana-Schriften.

Man’yōgana wurden ursprünglich zur Schreibung von Orts- und Personennamen verwendet (vgl. kana von kari na ‚geliehene Namen‘), da in Japan zu jener Zeit auf Chinesisch geschrieben wurde (Kanbun) und man Eigennamen nicht ohne Weiteres ins Chinesische übersetzen konnte, zumal teilweise auch die dafür notwendige Bedeutung der Namen nicht mehr bekannt war. Später erkannte man, dass es mittels Man’yōgana möglich war, Texte unverfälscht Japanisch zu schreiben, d. h. man sie direkt mit japanischer Lautung und Wortreihenfolge wiedergeben konnte und eine Übersetzung nicht mehr notwendig war. Diese Verwendung blieb jedoch hauptsächlich auf Gedichte beschränkt,[1] so z. B. bereits im durch das Kojiki (712) und Nihongi (720) überlieferten ältesten Gedicht Japans.

In der altjapanischen Gedichtanthologie Man’yōshū (‚Sammlung der zehntausend Blätter‘) aus der Mitte des 8. Jahrhunderts finden sich 480 derartig verwendete phonetische Zeichen in verschiedenen Formen, weswegen diese den Namen Man’yōgana erhielten.

Einteilung

Man’yōgana lassen sich grundsätzlich nach ihrer Aussprache in drei Gruppen einteilen.

Ongana

Ongana (音仮名 ‚Laut-Silben‘) oder Jiongana (字音仮名 ‚Zeichen-Laut-Silben‘) wurden anhand der chinesischen Aussprache (On-Lesung) der verwendeten Schriftzeichen gewählt.[2] Der Lautstand entspricht dabei dem Früh-Mittelchinesischen bzw. der sinokoreanischen Aussprache des Königreichs Baekje[3] von dem Japan die chinesische Schrift übernahm.

Der häufigste Fall ist, dass ein Zeichen hier einer Silbe (1字1音 ichi ji ichi on, deutsch ‚ein Zeichen, ein Ton‘) entspricht, wie a, i und ka. Teilweise werden auch zwei Zeichen für eine Silbe verwendet, wobei das erste Schriftzeichen für die Silbe steht und das zweite Schriftzeichen den Vokal wiederholt, z. B. 渭伊wi, 斐伊pi, 紀伊ki und 由宇yu.[2] Ongana sind die häufigste Form von Man’yōgana und nicht selten wurden auch komplette Gedichte (insbesondere in älteren Texten wie dem Kojiki oder Nihongi) allein in Ongana verfasst.[3]

Kungana

Kungana (訓仮名 ‚Bedeutung-Silben‘) oder Jikungana (字訓仮名 ‚Zeichen-Bedeutung-Silben‘) nutzen die japanische Aussprache (Kun-Lesung) des durch das Schriftzeichen bezeichneten Wortes. Da japanische Wörter im Allgemeinen länger als chinesische sind, bezeichnen Kungana häufig mehrere Silben wie kamo (Bedeutung: ‚Ente‘).

Einsilbige Jikungana sind beispielsweise a, i und 鹿ka. Auch hier kommt es vor, dass mehrere Schriftzeichen für eine Silbe stehen, einerseits, weil das japanische Wort im Einzelfall kürzer als sein chinesisches Gegenstück war wie bei 海藻me, andererseits, weil wie bei den Zweizeichen-Ongana eine Schachtelung vorgenommen wurde. So kommt es vor, dass das zweite Schriftzeichen für die eigentliche Silbe steht und das erste Schriftzeichen die Silbe enthält, z. B. 摂津tu, wobei allein setu gelesen wird. Weiterhin können mehrere Zeichen auch für mehrere Silben stehen wie bei 下風arasi (Bedeutung: ‚Fallwind‘) mit zwei Zeichen für drei Silben.[2]

Zwar waren Ongana die häufigsten Man’yōgana, zumal für einige Silben nie Kungana entwickelt wurden, allerdings sind bereits für die Regierungszeit Kaiserin Suikos (592–628) fünf Kungana bekannt.[3]

Gisho

Gisho/Tawamuregaki (戯書 ‚verspielte Schreibweisen‘) sind Man’yōgana, die sich nach dem Rebus-Prinzip ergeben. Folgende Varianten gibt es dabei:[2][3]

  • Graphemogramme: 山上復有山ide, deutsch ‚Über dem Berg ist ein weiterer Berg‘ da das Schriftzeichen als ide gelesen wird und aussieht wie zwei Berge übereinander.
  • Arithmogramme: 重二si, deutsch ‚Zweien übereinander‘ und 並二si, deutsch ‚Zweien nebeneinander‘ da si ‚Vier‘ bedeutet, 十六sisi, deutsch ‚16‘ da 4×4,
  • Onomatogramme (Lautmalerei): 馬聲i, deutsch ‚Pferdelaut‘, 蜂音bu, deutsch ‚Hummelton‘, 喚鶏tutu, deutsch ‚schreiender Hahn‘.

Insbesondere Gisho erschweren die Lesung von Man’yōgana-Texten, da beispielsweise bei einem Auftreten von 十六 erst a) aus dem Kontext geschlossen werden muss, dass diese nicht regulär als to2si gelesen werden müssen und auch nicht die Bedeutung 16 besitzen, sondern b) ein Rebus für 4×4 sind, daher sisi gelesen werden sollen und dann c) beispielsweise für das so ausgesprochene Wort ‚Wildtier‘ stehen.

Einsilbige Man’yōgana (Magana)

Die einsilbigen Man’yōgana werden auch als Magana (真仮名 ‚wahre Silbenschrift‘) bezeichnet, da wie bei modernen Kana ein Zeichen für genau eine Silbe steht und überdies die Magana als Grundlage für die modernen Kana dienten.[4]

Japanische Silben folgen einer KV-Struktur, sodass die nachfolgende Tabelle spaltenweise nach dem anlautenden Konsonant und zeilenweise nach dem auslautenden Vokal gegliedert ist. Die Benennung folgt dem phonetischen System und der Transkription der Altjapanischen Sprache, d. h. die h-Lautreihe des modernen Japanischen wird durch dessen vermutete damalige Realisierung als *p bezeichnet, sowie die Trennung das bestimmte Silben in zwei verschiedenen Paaren auftraten, für deren konkrete phonetische Bedeutung es bisher keinen linguistischen Konsens gibt. Andere Quellen transkribieren die p-Reihe basierend auf der Aussprache im Klassischjapanischen auch als f bzw. basierend auf dem modernen Japanisch als h.

-k-s-t-n-*p-m-y-r-w-g-z-d-b-
a阿安英足可何加架香蚊迦左佐沙作者柴紗草散太多他丹駄田手立那男奈南寧難七名魚菜八方芳房半伴倍泊波婆破薄播幡羽早者速葉歯万末馬麻摩磨満前真間鬼也移夜楊耶野八矢屋良浪郎楽羅等和丸輪我何賀社射謝耶奢装蔵陀太大嚢伐婆磨魔
i1伊怡以異已移射五支伎岐企棄寸吉杵來子之芝水四司詞斯志思信偲寺侍時歌詩師紫新旨指次此死事准磯為知智陳千乳血茅二人日仁爾迩尼耳柔丹荷似煮煎比必卑賓日氷飯負嬪臂避匱民彌美三水見視御keine里理利梨隣入煎位為謂井猪藍伎祇芸岐儀蟻自士仕司時尽慈耳餌児弐爾遅治地恥尼泥婢鼻弥
i2貴紀記奇寄忌幾木城非悲斐火肥飛樋干乾彼被秘未味尾微身実箕疑宜義擬備肥飛乾眉媚
u宇羽于有卯烏得久九口丘苦鳩来寸須周酒州洲珠数酢栖渚都豆通追川津奴努怒農濃沼宿不否布負部敷経歴牟武無模務謀六由喩遊湯留流類keine具遇隅求愚虞受授殊儒豆頭弩夫扶府文柔歩部
e1衣依愛榎祁家計係價結鶏世西斉勢施背脊迫瀬堤天帝底手代直禰尼泥年根宿平反返弁弊陛遍覇部辺重隔売馬面女曳延要遥叡兄江吉枝礼列例烈連廻恵面咲下牙雅夏是湍代田泥庭伝殿而涅提弟弁便別部
e2気既毛飼消閉倍陪拝戸経梅米迷昧目眼海義気宜礙削倍毎
o1意憶於應古姑枯故侯孤児粉宗祖素蘇十刀土斗度戸利速努怒野凡方抱朋倍保宝富百帆穂毛畝蒙木問聞用容欲夜路漏乎呼遠鳥怨越少小尾麻男緒雄吾呉胡娯後籠児悟誤土度渡奴怒煩菩番蕃
o2己巨去居忌許虚興木所則曾僧増憎衣背苑止等登澄得騰十鳥常跡乃能笑荷方面忘母文茂記勿物望門喪裳藻与余四世代吉呂侶其期碁語御馭凝序叙賊存茹鋤特藤騰等耐抒杼
 
Die Phonemkombination yi, sollte es dieses im Altjapanischen gegeben haben, kann nicht mittels chinesischer Schriftzeichen als unterschiedlich von i wiedergegeben werden. Ebenso ist die Existenz der Phonemkombination wu unbelegt.

Die Unterscheidung zwischen mo1 und mo2 findet sich im Kojiki (712), verschwand aber kurz danach.

Beispiele

Nukatas Gedicht im Man’yōshū

Folgendes Gedicht (waka) von Prinzessin Nukata aus dem Man’yōshū (Gedicht 8, Band 1) soll die Verwendung von Man’yōgana illustrieren.

Diese sind farbig unterlegt gesetzt, wobei Ongana rot, Kungana gelb und Gisho grün unterlegt sind. Die verbleibenden chinesischen Schriftzeichen werden in ihrer konkreten Bedeutung und somit nicht lautlich verwendet, wodurch sie daher keine Man’yōgana sind.

Japanisch田津船乗世武登月待毛可奈比許藝
UmschriftNigi1tatu nipunano2ri semu to2tuki2 mate basipo mo kanapi1nuima pa ko2gi1ide na
ModernNigitatsu nifunanori sen totsuki mate bashio mo kanai1nuima wa kogiide na
Übersetzung[5]In Nigitatsuwürden wir Segel setzen undden Mond abwarten, jedochmit den Gezeiten gegen unsmüssen wir nun rudern!

ist ein Beispiel für ein Gisho, da dieses Schriftzeichen unter anderem zwar ‚kochen, zubereiten‘ bedeutet, was niru ausgesprochen wird bzw. in der altjapanischen Vergangenheitsform niki1 – allerdings wird üblicherweise dieses Wort mit anderen Schriftzeichen geschrieben und anders gelesen.

Abgeleitete Schriften

Aus den Kursivschrift- und Grasschriftformen der Man’yōgana entwickelte sich durch Reduzierung der Strichzahl die Silbenschrift Hiragana. Kam sie zunächst hauptsächlich nur für Gedichte, Anmerkungen und private Korrespondenz zum Einsatz, wurde sie ab 900 zur bevorzugten Schrift um Japanisch zu schreiben.[1] Da Nur-Hiragana-Texte, d. h. ohne Kanji, hauptsächlich von Frauen geschrieben wurden, werden diese auch als Onnade (女手 ‚Frauenhand‘)[1] bzw. Onnagana (女仮名 ‚Frauen-Silbenschrift‘) bezeichnet und die Man’yōgana demgegenüber auch als Otokogana (男仮名 ‚Männer-Silbenschrift‘).[6]

Katakana entwickelten sich entweder aus Zeichensegmenten der Kursiv- und Grasschriftformen oder der quadratischen Regelschrift. Sie entstand im 9. Jahrhundert zur Annotation chinesischer Texte mit japanischen Lesehinweisen.[1] Heute werden Katakana hauptsächlich zur Schreibung von Fremdwörtern oder zur Hervorhebung verwendet.

Beiden ist gemein, dass im Gegensatz zu Man’yōgana eine Silbe durch nur je exakt ein Zeichen geschrieben werden kann, so dass statt der 480 im Man’yōshū vorkommenden Man’yōgana nur noch notwendig war je 48 Zeichen zu lernen. Allerdings gab es auch abweichende Alternativformen, die als Hentaigana bezeichnet werden.[1]

Ableitungstafel der Kana-Zeichen

Entwicklung der Katakana (links) aus Man’yōgana
Entwicklung der Katakana (links) aus Man’yōgana
Entwicklung der Hiragana (unten) aus den Kursiv-/Grasschriftformen (mittig) der Man’yōgana
Entwicklung der Hiragana (unten) aus den Kursiv-/Grasschriftformen (mittig) der Man’yōgana

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. a b c d e Wm. C. Hannas: Asia's Orthographic Dilemma. University of Hawaii Press, Honolulu 1996, ISBN 0-8248-1892-X, S. 37 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  2. a b c d 万葉仮名. In: ジャパンナレッジ / Japan Knowledge. NetAdvance, abgerufen am 27. Januar 2018 (japanisch, Auszüge aus den Wörterbüchern Kokushi Daijiten (国史大辞典) und Sekai Daihyakka Jiten (改訂新版・世界大百科事典)).
  3. a b c d Marc Hideo Miyake: Old Japanese: A Phonetic Reconstruction. Routledge, London, New York 2003, ISBN 0-415-30575-6, S. 20–27.
  4. 真仮名. In: Daijirin bei kotobank.jp. Abgerufen am 27. Januar 2018 (japanisch).
  5. angelehnt an MYS I: 8. In: Waka Poetry. 20. Januar 2016, abgerufen am 30. Januar 2018 (englisch).
  6. 男仮名. In: Daijisen bei kotobank.jp. Abgerufen am 30. Januar 2018 (japanisch).