„Wilhelm Heitmeyer“ – Versionsunterschied

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'''Wilhelm Heitmeyer''' (* [[28. Juni]] [[1945]] in [[Nettelstedt]]) ist [[Professor]] für [[Erziehungswissenschaft]] mit dem Schwerpunkt [[Sozialisation]] und war von 1996 bis 2013 Direktor des [[Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung|Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung]] der [[Universität Bielefeld]]. Seit August 2013 arbeitet Heitmeyer als Senior Research Professor an der Universität Bielefeld und im IKG. In 2014 wird er auch als Fellow am DFG-Forschungskolleg "Postwachstumsgesellschaften" der Universität Jena teilnehmen.


== Leben ==
== Leben ==

Version vom 31. Juli 2013, 11:15 Uhr

Wilhelm Heitmeyer (2010)

Wilhelm Heitmeyer (* 28. Juni 1945 in Nettelstedt) ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Sozialisation und war von 1996 bis 2013 Direktor des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Seit August 2013 arbeitet Heitmeyer als Senior Research Professor an der Universität Bielefeld und im IKG. In 2014 wird er auch als Fellow am DFG-Forschungskolleg "Postwachstumsgesellschaften" der Universität Jena teilnehmen.

Leben

Heitmeyer wurde 1945 in Nettelstedt in Ostwestfalen geboren. Sein Vater war Schriftsetzer und fiel im Krieg, die Mutter war Arbeiterin in einer Zigarrenfabrik, danach hat sie einen Lebensmittelladen geführt.[1] Nach dem Besuch des Wittekind-Gymnasiums Lübbecke studierte Heitmeyer Erziehungswissenschaften und Soziologie in Bielefeld. Die Promotion erfolgte 1977, die Habilitation 1988. Heitmeyer hat zwei Töchter.

Forschungsschwerpunkte

Heitmeyers Forschungsinteresse gilt seit 1982 Rechtsextremismus, Gewalt, Fremdenfeindlichkeit, ethnisch-kulturellen Konflikten, sozialer Desintegration und seit einigen Jahren der so genannten Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Heitmeyer gründete 1996 das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung und leitete es bis zu seinem altersbedingten Ausscheiden 2013. Gemeinsam mit Douglas Massey, Steven Messner, James Sidanius und Michel Wieviorka gibt er das International Journal of Conflict and Violence heraus. Die zentrale These, die Heitmeyer in seinem Werk vertritt, ist das sogenannte Desintegrationstheorem, das er gemeinsam mit Reimund Anhut in den 1990er Jahren entwickelt hat. Es ist auch als „Bielefelder Desintegrationsansatz“ in den Sozialwissenschaften bekannt und bildet die theoretische Basis für das Syndrom der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Unter Desintegration werden die nicht eingelösten Leistungen gesellschaftlicher Institutionen und Gemeinschaften verstanden, die in der Gesellschaft zur Sicherung der materiellen Grundlagen, der sozialen Anerkennung und der persönlichen Unversehrtheit dienen. Die Grundthese des Theorems lautet, dass mit dem Grad der Desintegrationserfahrungen und -ängste auch das Ausmaß und die Intensität der genannten Konflikte zu- und ihre Regelungsfähigkeit abnimmt. Hierbei besteht aber kein direkter Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Makro- und Mikro-Ebene, sondern es sind milieuspezifische Brechungsfaktoren dazwischen geschaltet.

Das Konzept enthält drei Dimensionen von Lebenssphären und ist unterteilt in zwei Ebenen, eine objektive (Teilhabe etc.) und eine subjektive, der Anerkennung. Man versteht im Desintegrationsansatz unter sozialer bzw. gesellschaftlicher Integration von Individuen und Gruppen ein gelungenes Verhältnis von Freiheit und Bindung, in dem drei spezifische Problemstellungen in adäquater Weise gelöst werden:

  1. In der sozialstrukturellen Dimension muss die Teilhabe an materiellen Gütern (Arbeits-, Wohnungs- und Konsummärkte) zur Gewährleistung der Reproduktion gesichert sein. Dies ist die individuell-funktionale Systemintegration und erzeugt die Chancen auf positionale Anerkennung.
  2. In der institutionellen Dimension, als Vergesellschaftung, muss der Ausgleich zwischen konfligierenden Interessen (Fairness, Gerechtigkeit, demokratisch-rechtsstaatliche Verfahren) gesichert sein. Dies ist die kommunikativ-interaktive Sozialintegration und stellt die Chancen zur moralischen Anerkennung dar.
  3. In der personalen Dimension, der Ebene der Vergemeinschaftung, muss die Herstellung emotionaler, expressiver Beziehungen, Sinnstiftung und Selbstverwirklichung gesichert sein. Dies ist die kulturell-expressive Sozialintegration und stellt Chancen zur emotionalen Anerkennung dar.

Der Desintegrationsansatz thematisiert die Herstellung sozialer Integration auf freiwilliger Basis, die in modernen Gesellschaften üblicherweise über Interessensausgleich, Anerkennung und Konsensbildung erfolgt bzw. erfolgen kann. Damit unterscheidet sich diese Form der Integration von früheren Formen, die häufig auf unfreiwilligen Mechanismen, Zwang und Konformitätsdruck beruhten. Verschiedene Prozesse verschärfen die Integrationsproblematik in modernen westlichen Gesellschaften:

  1. In der sozialstrukturellen Dimension vermindert soziale Polarisierung die Zugangschancen des Einzelnen zu den unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilsystemen. Die Individualisierung erhöht zwar die Freiheit des Einzelnen, gleichzeitig wächst aber auch der Druck, sich selbst z.B. auf dem Arbeitsmarkt zu platzieren. Sinkt nun die Wahrscheinlichkeit des Erfolgs auf dem Arbeitsmarkt, führt dies bei den Verlierern zu Frustration. Es wird ihnen keine positionale Anerkennung mehr zuteil. Wettbewerb, Ökonomisierung, Konkurrenzdenken und Konsumorientierung fördern eigennutzorientiertes Verhalten (Sich-Durchsetzen, soziale Distinktion und Ausgrenzung).
  2. In der institutionellen Dimension führt die politische Machtlosigkeit zu einem Rückzug aus öffentlichen Angelegenheiten wie die Beteiligung an der Sicherung von Kernnormen wie Gerechtigkeit, Solidarität und Fairness. Damit geht dann ein Verlust moralischer Anerkennung einher.
  3. In der sozioemotionalen Ebene führt ambivalente Individualisierung zu einer Destabilisierung von Paarbeziehungen, familiärer Desintegration und gefährdet dadurch die Sozialisation von Kindern (erhöhtes Konfliktpotential, emotionale Überforderung der Eltern), sichtbar auch im Verlust emotionaler Anerkennung.

Auszeichnung

Heitmeyer wurde mit dem Göttinger Friedenspreis 2012 ausgezeichnet.

Schriften (Auswahl)

  • Rechtsextremistische Orientierungen bei Jugendlichen. Weinheim/München 1987.
  • Die Bielefelder Rechtsextremismus-Studie. Erste Langzeituntersuchung zur politischen Sozialisation männlicher Jugendlicher. Weinheim/München 1992.
  • (zus. m. J. Müller, H. Schröder): Verlockender Fundamentalismus. Türkische Jugendliche in Deutschland. Frankfurt a. M. 1997.
  • (zus. m. R. Anhut): Desintegration, Konflikt und Ethnisierung. Eine Problemanalyse und theoretische Rahmenkonzeption. In: W. Heitmeyer & R. Anhut, Bedrohte Stadtgesellschaft. Soziale Desintegrationsprozesse und ethnisch-kulturelle Konfliktkonstellationen. Juventa, Weinheim/München 2000.
  • (Hrsg. zus. mit D. Loch): Schattenseiten der Globalisierung. Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus und Regionalismus in Westeuropa. Frankfurt a.M. 2001.
  • (zus. mit John Hagan): Internationales Handbuch der Gewaltforschung. Westdeutscher Verlag, Wiesbaden 2002.
  • Deutsche Zustände. Folge 1. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2002.
  • (zus. mit John Hagan): The International Handbook of Violence Research. Kluwer Academic Publishers, Dordrecht 2003.
  • Deutsche Zustände. Folge 2. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2003.
  • Deutsche Zustände. Folge 3. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2005.
  • (Hrsg. zus. mit Peter Imbusch): Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft. VS Verlag, Wiesbaden 2005.
  • Deutsche Zustände. Folge 4. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006, ISBN 3-518-12454-4, (taz-Rezension, 16. Dezember 2005)
  • Deutsche Zustände. Folge 5. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2006, ISBN 3-518-12484-6.
  • Deutsche Zustände. Folge 6. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2007, ISBN 978-3-518-12525-0.
  • Deutsche Zustände. Folge 7. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2008, ISBN 978-3-518-12552-6.
  • Deutsche Zustände. Folge 8. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2009, ISBN 978-3-518-12602-8.
  • Deutsche Zustände. Folge 9. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2010, ISBN 978-3-518-12616-5.
  • Deutsche Zustände. Folge 10. Suhrkamp, Frankfurt a. M. 2011, ISBN 978-3-518-12647-9

Aufsätze (Auswahl)

Literatur (Auswahl)

Interviews (Auswahl)

Einzelnachweise

  1. Gabriele Goettle: Rette sich, wer kann. In: die tageszeitung, 28. Februar 2012.