Scharon-Karikatur von Dave Brown 2003

Dave Brown (Karikaturist), 2003

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Ariel Scharon (2002)

Die Scharon-Karikatur des britischen Karikaturisten Dave Brown, die am 27. Januar 2003 im Independent erschien, zeigt den nackten israelischen Ministerpräsidenten Ariel Scharon, wie er einem palästinensischem Kind den Kopf abbeißt. Sie löste eine Kontroverse darüber aus, ob die Darstellung antisemitisch sei.

Hintergrund

Im September 2000 hatte die Zweite Intifada begonnen, die nach arabischer Lesart durch den Besuch des Oppositionspolitikers Ariel Scharon auf dem Tempelberg am 28. September ausgelöst wurde. Im Jahr 2001 wurde Scharon als Vertreter des konservativen Likud in einer Direktwahl zum israelischen Ministerpräsidenten gewählt. Am 28. Januar 2003 fand die Neuwahl der Knesset statt, die nach Abschaffung der Direktwahl des Ministerpräsidenten auch mit der Bestimmung des neuen Ministerpräsidenten einher ging. Der Likud gewann diese Wahl, wobei er die Anzahl seiner Parlamentssitze verdoppeln konnte. Drei Tage vor der Wahl hatte Scharon einen Angriff auf Gaza-Stadt angeordnet.[1]

Beschreibung

Saturn verschlingt eines seiner Kinder (1819–1823) von Francisco de Goya

Die Karikatur zeigt einen nackten, übergewichtigen Sharon, dessen Genitalien durch einen Wahlsticker mit der Aufschrift „Wählt Likud“ („Vote Likud“) bedeckt sind. In seinen Händen hält er ein Kind, dem er bereits den Kopf abgebissen hat. In einer Sprechblase steht Sharons Aussage „Was ist falsch… Habt ihr nie zuvor einen Politiker gesehen, der Babys küsst?“ („What´s wrong … You never seen a politician kissing babies before?“). Links im Hintergrund sind vier fliegende Kampfhubschrauber zu sehen, von denen einer zur Wahl von Scharon auffordert („Sharon … Vote Sharon … Vote“). Darunter befindet sich eine zerstörte und brennende Stadt, in der Geschosse einschlagen. Rechts hinter Scharon ist ein Panzer dargestellt.

Am unteren Rand der Karikatur befindet sich neben der Signatur des Künstlers und der Jahreszahl auch der Text „after Goya“. Damit verweist Brown auf das Gemälde Saturn verschlingt eines seiner Kinder des spanischen Malers Francisco de Goya, das einen Mythos um den römischen Gott Saturn darstellt und die Vorlage für die Darstellung Scharons und des Kindes bildete.

Reaktionen

Einen Tag nach der Veröffentlichung sendete die Israelische Botschaft in London einen Protestbrief an den Independent. Darin hieß es unter anderem, die Zeichnung schwöre einen alten jüdischen Stereotyp herauf, den man so auch im Stürmer hätte finden können. Zudem deute sie die wahren Gründe für die Operation des israelischen Militärs falsch und füttere die Feindschaft gegen Israel.[2]

Als Reaktion auf die Kritik veröffentlichte der Independent am 31. Januar Kommentare des Journalisten Philip Hensher, des Herausgebers des Jewish Chronicle Ned Temko und des Politikers Gerald Kaufman. Für Hensher ist die Vorlage von Goya ein Sinnbild für den Bürgerkrieg sowie einen politischen Führer, der die Armen ermordet, für die er eigentlich eine elterliche Verantwortung trägt. Die Intention Browns sei also die Feststellung, dass die Palästinenser in erster Linie nicht Scharons Feinde sondern seine Kinder seien. Zudem müsse es grundsätzlich möglich sein, eine jüdische Person zu karikieren, ohne dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt zu werden.[3] Temko sieht die Karikatur als antisemitisch an und bezeichnet sie als „nicht nur beleidigend, nicht nur schockierend – sondern erschreckend“ („not only offensive, not only shocking – but appalling“). Ihre Darstellung des Konflikts zwischen Israel und den Palästinensern als israelische Aggression sei so vereinfacht und einseitig, dass sie eine Verdrehung der Wahrheit darstelle. Zudem bediene sie sich mit der Ritualmordlegende einer der ältesten europäischen Bilder des Antisemitismus, nach der Juden christliche Kinder rauben und ermorden würden. Temko weist auch darauf hin, dass die Karikatur am Holocaust-Gedenktag veröffentlicht wurde.[4] Kaufman hingegen sah den Vorwurf des Antisemitismus als „vollkommen unberechtigt - aber vollkommen vorhersehbar“ an. So fehle der Karikatur die Darstellung eines Davidsterns, die einen Bezug zum Judentum herstellen würde. Aus seiner Sicht ist der Antisemitismus-Vorwurf Teil einer bereits mehrere Jahre andauernden Kampagne des Likud, Kritik an seiner Politik als antisemitisch zu diskreditieren.[5]

Anfang März reichte die israelische Botschaft mit Unterstützung Scharons eine Beschwerde bei der brititschen Press Complaints Commission (PCC) ein. Dabei berief sie sich auf Paragraph 13 des Pressekodex der PCC, der abwertende Bezüge zur Rasse, Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder sexuellen Orientierung verbietet.[5] Sharons Anwalt argumentierte, die Karikatur spiele auf die Ritualmordlegende an. Zuvor hatte es bereits mehrere Beschwerden von Dritten gegeben, allerdings kann die PCC nur bei Beschwerden der dargestellten Person ihre Arbeit aufnehmen. Die Beschwerde wurde im Mai von der PCC abgewiesen. Sie begründete dies unter anderem damit, dass sie keine Entscheidung treffen wolle, die die Fähigkeit von Zeitungen einschränken würde, kritische bzw. satirische Kommentare über Staaten oder Regierungen mithilfe von Karikaturen zu machen. Zudem sei man von der Erklärung, die Brown und der Independent gegeben hätten, überzeugt.[5] Brown hatte erklärt, die Karikatur wäre ein satirischer Kommentar auf die kurz vor der Wahl angeordneten Angriffe auf Gaza, die man als Teil des Wahlkampfs betrachten könne.[1] Zudem sah die PCC weder in der Darstellung Goyas antisemitische Tendenzen, noch irgendeine Abwertung von Sharons Rasse oder Religion. Sie akzeptiere zwar, dass die Karikatur von vielen als Beleidigung oder Angriff gesehen worden wäre. Allerdings sei es für eine Zeitung eine zu große Bürde und Einschränkung ihrer Freiheit, alle möglichen Interpretationen einer Veröffentlichung zu berücksichtigen.[5]

Auszeichnung

Die Karikatur wurde von Mitgliedern der Political Cartoon Society und Karikaturisten von nationalen britischen Zeitungen als Political Cartoon of the Year 2013 ausgezeichnet. Der Preis wurde Brown am 25. November 2003 von der früheren Ministerin Clare Short überreicht.[6] In seiner Preisrede bedankte sich Brown bei der israelischen Botschaft, die durch ihre Kritik die Bekanntheit der Karikatur deutlich gesteigert habe.[7]

Rezeption

Sowohl Dave Brown als auch der Herausgeber des Independent, Simon Keller, sind Juden. Richard L. Rubenstein sieht darin ein Beispiel dafür, dass der neue Antisemitismus, falls er existiert, sich dadurch auszeichne, dass er durch entwurzelte, linke Juden unterstützt wird. Da Bilder, die sich der Ritualmordlegende bedienten, oft auch in muslimischen Zeitungen veröffentlicht werden, sei das besonders schockierende an der Karikatur ihr Erscheinen in einer vermeinlich seriösen britischen Mainstream-Zeitung.[8]

Für Robert S. Wistrich ist die Karikatur ein heimtückisches Beispiel für die Verbindung von anti-israelischer Diffamierungen und antisemitische Symbolik.[9] Aus der Sicht Anthony Julius’ ist es unmöglich, die Ritualmordlegende bei einer Darstellung eines Juden, der ein nicht-jüdisches Kind frisst, auszublenden. Aus diesem Grund sei die Karikatur unabhängig von Browns Intention mit Antisemitismus befleckt.[10]

Für Ilan Danjoux ist Browns Karikatur ein Beispiel dafür, wie ein Leser sein eigenes kulturelles Erbe in ihre Interpretation einer Karikatur einfließen lassen. So sei sowohl die Referenz zur römischen Mythologie als auch die Anspielung auf die klassische anti-jüdische Propaganda glaubhaft, je nachdem durch welche Brille man die Karikatur betrachte.[11]

Nicholas Hiley sieht in der Aussage des PCC, das Zeitungen nicht alle möglichen Interpretationen ihrer Veröffentlichung berücksichtigen können, als richtig an. Dies sei vor allem in der heutigen Zeit ein Problem, in der Karikaturen innerhalb weniger Stunden über den gesamten Globus verteilt werden könnten und dabei ihren originalen Kontext verlieren und neue, unbeabsichtigte Bedeutungen erhalten können. Dies sei auch bei der Sharon-Karikatur geschehen, die auf einem gegen Israel gerichteten Protestplakat von radikalen Muslimen in Indien gezeigt wurde.[12]

Einzelnachweise

  1. a b Press watchdog says 'Independent' cartoon of Israeli PM was not anti-semitic. In: The Independent. 21. Mai 2003, abgerufen am 16. September 2018 (englisch).
  2. Sharon Sadeh: Cartoon in UK Paper Draws Israeli Protest. In: Haaretz. 28. Januar 2003, abgerufen am 30. August 2018 (englisch).
  3. Philip Hensher: Satire or anti-Semitism? Looking at Goya. In: The Independent. 31. Januar 2003, abgerufen am 16. September 2018 (englisch).
  4. Ned Temko: Satire or Anti-Semitism? Anti-Semitism. In: The Independent. 31. Januar 2003, abgerufen am 16. September 2018 (englisch).
  5. a b c d Ciar Byrne: Independent cartoon cleared of anti-semitism. In: The Guardian. 22. Mai 2003, abgerufen am 16. September 2018 (englisch).
  6. 'Independent' cartoonist wins award. In: The Independent. 27. November 2003, abgerufen am 16. September 2018 (englisch).
  7. Julia Quante: Drawn into the Heart of Europe? Die britische Europapolitik im Spiegel von Karikaturen (1973–2008). Band 44 der Reihe Medien & Politik. Lit Verlag, Berlin/Münster 2013, ISBN 978-3-643-11538-6, S. 8.
  8. Richard L. Rubenstein: Jihad and Genocide. Rowman & Littlefield Publisher, Lanham/Boulder/New York/Toronto/Plymouth 2010, ISBN 978-1-4422-0198-9, S. 104 (Digitalisat bei Google Books; englisch).
  9. Robert S. Wistrich: From Ambivalence to Betrayal. The Left, the Jews, and Israel. University of Nebraska Press, Lincoln/London 2012, ISBN 978-0-8032-4076-6, S. 544–545 (Digitalisat bei Google Books; englisch).
  10. Anthony Julius: Trials of the Diaspora. A History of Anti-Semitism in England. Oxford University Press, New York 2010, ISBN 978-0-19-929705-4, S. 526 (englisch).
  11. Ilan Danjoux: Don’t Judge a Cartoon by Its Image. In: Dvora Yanow, Peregrine Schwartz-Shea (Hrsg.): Interpretation and Method. Empirical Research Methods and the Interpretive Turn. Routledge, London/New York 2015, ISBN 9780765635402, S. 353–367, hier: 358 (Digitalisat bei Google Books; englisch).
  12. Nicholas Hiley: Showing politics to the people: cartoons, comics and satirical prints. In: Richard Howells, Robert W. Matson (Hrsg.): Using Visual Evidence. Open University Press, Berkshire/New York 2009, ISBN 9780335228645, S. 24–42, hier: 38 (Digitalisat bei Google Books; englisch).