Osmanische Verfassung

Titelblatt des Osmanischen Grundgesetzes, 1876
Datum mit der Unterschrift Sultan Abdülhamids II. auf der Verfassungsurkunde

Die Osmanische Verfassung (osm. قانون اساسى Kanûn-ı Esâsî, wörtlich „Grundgesetz“; türkisch Temel Kanun) von 1876 war die erste und zugleich letzte Verfassung des Osmanischen Reiches.

Zwischen Februar 1878 und Juli 1908 war das Verfassungsdokument suspendiert und somit über dreißig Jahre lang faktisch ungültig. Es wurde am 20. April 1924 de jure durch die Türkische Verfassung von 1924 aufgehoben, nachdem es de facto bereits zwischen den Jahren 1920 und 1923 durch das Gesetz über die grundlegende Organisation samt Änderungen sukzessive außer Kraft gesetzt worden war.

Entstehungsgeschichte

Bündnisvertrag

Alemdar Mustafa Pascha

Im Jahr 1807 revoltierten die Janitscharen und entthronten Selim III., der mit Hilfe europäischer Ausbilder die Armee zu reorganisieren versuchte, und setzten Mustafa IV. als Sultan ein. Dieser versuchte, vorangegangene Reformen rückgängig zu machen, woraufhin Alemdar Mustafa Pascha mit seiner Armee nach Istanbul marschierte, um Selim erneut auf den Thron zu bringen. Da Selim III. während der Belagerung des Palastes ermordet wurde, ließ Alemdar Mustafa Pascha Mustafa IV. töten und am 28. Juli 1808 dessen Bruder Mahmud II. als noch einzigen legitimen Nachfolger zum Sultan ausrufen. Mustafa Pascha selbst wurde der Großwesir des Sultans.[1]

Zu dieser Zeit erkannten lokale Machthaber in Anatolien und Rumelien die zentrale Autorität nicht an und sagten sich zum Teil von dieser los. Der Großwesir lud jene Notabeln (âyan) zu Gesprächen in die Hauptstadt ein, wo sie am 29. September 1808 aufgenommen wurden. Die Teilnehmer trafen mit – zeitgenössischen Berichten nach – 70.000[2] eigenen Soldaten in Istanbul ein und wurden außerhalb der Stadt untergebracht. Am 7. Oktober 1808 unterzeichneten sie den Sened-i İttifâk (سند اتفاق / ‚Bündnisvertrag‘), durch den der Sultan auf seine Verfügungsgewalt über Leben und Eigentum der Ayan verzichtete. Die Notabeln erkannten im Gegenzug die Zentralmacht an und sprachen dem Sultan ihre Treue aus.[3][4]

Dieser Vertrag gewährte somit – ähnlich wie die Magna Carta dem Adel in England[2][5] – den Notabeln grundlegende Freiheiten gegenüber dem osmanischen Sultan und war der erste Schritt zur konstitutionellen Monarchie. Letztlich war der Bündnisvertrag eine Verfassung im materiellen Sinn beziehungsweise ein verfassungsähnliches Dokument.[6]

Die treibende Kraft hinter diesem Schriftstück, Alemdar Mustafa Pascha, verstarb am 14. November 1808, wodurch der Vertrag faktisch seine Gültigkeit verlor. Schließlich weigerten sich auch Mustafa Paschas Nachfolger im Amt des Großwesirs die Urkunde zu unterzeichnen, womit sie endgültig unwirksam wurde.

Edles Handschreiben

Sultan Abdülmecid I.

Nach dem Tod Mahmuds II. folgte ihm am 2. Juli 1839 sein Sohn Abdülmecid I. auf den Thron. Im Einklang mit den ausdrücklichen Anweisungen seines Vaters machte er sich daran, die Reformen durchzuführen, denen Mahmud sich gewidmet hatte. Am 3. November 1839 verkündete Reşit Pascha das von ihm erarbeitete[7] Hatt-ı Şerif (خط شريف / ‚Edles Handschreiben‘), womit er die Epoche des Tanzimat einläutete, also die Periode tiefgreifender Reformen im Osmanischen Reich. Das Handschreiben, das einem Motu Proprio entspricht, enthielt die Grundlinien für diese Reformen. Der kaiserliche Erlass garantierte unabhängig von der Religionszugehörigkeit den Schutz „des Lebens, der Ehre und des Vermögens der Bevölkerung“. Des Weiteren versicherte der Sultan die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren, die gerechte Verteilung von Steuern und die Reduzierung der Wehrdienstdauer auf vier bis fünf Jahre.

Im formellen Sinn war dieser Erlass keine Verfassung und ebenfalls kein einklagbares Recht. Gleichwohl spielte das Hatt-ı Şerif von 1839 eine bedeutende Rolle in der Verfassungsentwicklung des Reiches, zumal es ein Versprechen der späteren Verfassung war.[6][8]

Großherrliches Handschreiben

Das Hatt-ı Hümâyûn (خاط همايون / ‚Großherrliches Handschreiben‘) der Hohen Pforte wurde am 18. Februar 1856, also 18 Tage nach dem Waffenstillstand im Krimkrieg, verkündet. Es bestätigte und entwickelte die Reformen im Hatt-ı Şerif weiter. So konnten etwa Nichtmuslime Militärschulen besuchen oder bei Strafprozessen als Zeugen auftreten.[9]

Kern dieser Reformen war die Auflösung des Millet-Systems. Zuvor waren alle Nichtmuslime in drei Millets (Religionsgemeinschaften) aufgeteilt. Die orthodoxen Christen bildeten die Millet-i Rum, die armenischen Christen die Millet-i Arman (dazu zählten auch Kopten und Syrer) und die Juden die Millet-i Yahud. Jede Millet unterstand der Kontrolle eines Ethnarchen („nationalen“ Führers). Dieser war jeweils ein religiöses Oberhaupt, das dem Sultan direkt unterstellt war. Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts übernahmen ausländische Schutzmächte die Funktion der Ethnarchen: Großbritannien bürgte für die Juden, Frankreich für die Katholiken und Russland für die Orthodoxen.

Durch die Auflösung des Milletsystems bekamen alle Untertanen das osmanische Untertansrecht. Ihre Stellung als Untertanen wurde nicht mehr indirekt über ihre Ethnarchen beziehungsweise die ausländischen Schutzmächte legitimiert. Dies schaffte reale Möglichkeiten für eine weitere Modernisierung der grundlegenden Institutionen des Osmanischen Reiches, da nun allen Untertanen der Zugang zu Staatsposten ermöglicht worden war.[9][10]

Verfassung

Erste Verfassungsperiode

Sultan Abdülhamid II., etwa 1890

In den Jahren 1875 und 1876 kam es zu Aufständen in Bosnien-Herzegowina und Bulgarien (siehe Bulgarischer Aprilaufstand 1876), was unter anderem zum Massaker von Batak führte. Russland sagte den Rebellen seine Unterstützung zu. Am 30. und 31. Juni 1876 erklärten Serbien (siehe Serbisch-Osmanischer Krieg) und Montenegro dem Osmanischen Reich den Krieg. Mittlerweile drängte Großbritannien zur Abhaltung einer Konferenz, um einen drohenden Russisch-Osmanischen Krieg zu verhindern und den Aufständischen größere Autonomie zuzusprechen. Um einem etwaigen ausländischen Eingriff entgegenzuwirken, plante Midhat Pascha die Ausarbeitung einer Verfassung, die vor der geplanten Konferenz in Kraft treten und allen osmanischen Untertanen gleiche Rechte gewähren sollte. Letztendlich gelang es ihm Sultan Abdülhamid II. von seinem Vorhaben zu überzeugen.[11]

Midhat Pascha

Am 7. Oktober 1876 begann der aus zwei Militärs (Süleiman und Redif Pascha), zehn Ulama und 13 muslimischen sowie drei christlichen Beamten bestehende „Spezialausschuss“ (Cemiyet-i Mahsusa) unter dem Vorsitz Server[12] beziehungsweise Midhat Paschas[11] (unklare Quellenlage) mit der Erstellung eines Verfassungsentwurfs.[13] In diesem Spezialausschuss befanden sich auch die Jungosmanen Namık Kemal und Ziya Pascha, die wegen ihrer politischen Gesinnungen (etwa der Forderung nach Freiheitsrechten und einer verfassungsmäßigen Regierung) 1867 nach London geflohen waren.[14] Bei der Erstellung des Entwurfs wurden möglicherweise die Belgische Verfassung von 1831 und die Preußische Verfassung (1848/1850) als Vorbilder genommen.[12][15] Auch Midhat Paschas 57 Artikel umfassendes Kanûn-ı Cedîd (قانون جديد / ‚Neues Gesetz‘) sowie Said Paschas auf der Übersetzung französischer Verfassungsgesetze basierender Entwurf fanden Berücksichtigung. Der am 20. Oktober fertiggestellte Verfassungsentwurf wurde auf Wunsch des Sultans auserwählten Beamten im Yıldız-Palast, wie etwa Mütercim Mehmed Rüşdi Pascha, und dem Ministerrat (Heyet-i Vükelâ), dessen Vorsitzender Midhat Pascha war, zur Überarbeitung vorgelegt.[12] Der letzte Entwurf wurde am 1. Dezember 1876 fertiggestellt und am 6. Dezember vom Ministerrat angenommen. Im Yıldız-Palast bestand man allerdings auf ein Verbannungsrecht des Sultans. Somit fand Art. 113, durch den dem Sultan dieses Verbannungsrecht (nach Art. 113 III) zugesprochen wurde, Eingang in die Verfassung.[11] Diese Entwicklung rief bei einigen Mitgliedern des Spezialausschusses, insbesondere Namık Kemal, Empörung hervor, da dadurch seitens des Herrschers Grundrechte ausgehebelt werden konnten. Midhat Pascha, der auf die Ausrufung der Verfassung drängte, gelang es schließlich, die erzürnten Gemüter zu besänftigen.

Am 23. Dezember 1876 trat die oktroyierte (von fr. octroyer), das heißt „gewährte, bewilligte“ – im Deutschen verstanden als „aufgezwungene, aufgedrängte“ – Verfassung durch kaiserlichen Erlass in Kraft. Außenminister Saffet Pascha unterbrach die begonnene Konferenz von Konstantinopel und erklärte, begleitet von 101 Salutschüssen, dass eine neue Verfassung ausgerufen werde, die alle osmanischen Untertanen gleichstelle und ihnen ihre Rechte und Freiheiten garantiere.[16]

Russland blieb jedoch gegenüber dem Osmanischen Reich misstrauisch und betrachtete die Verfassung als vorgeschobene Scheinlösung. Etwa ein Jahr später brach der Russisch-Osmanische Krieg aus. Der Sultan nahm die Kriegsniederlage zum Anlass, das seiner Ansicht nach unfähige und an der Niederlage schuldige Parlament am 14. Februar 1878 aufzulösen. Somit setzte er die Verfassung faktisch außer Kraft.

Zweite Verfassungsperiode

Hauptartikel: Zweite osmanische Verfassungsperiode

Erinnerungspostkarte zur Wiedereinsetzung des Grundgesetzes, 1908.

Auf Druck des Komitees für Einheit und Fortschritt[17] ließ der Sultan am 23. Juli 1908 Wahlen ausrufen, was im Großherrlichen Handschreiben vom 1. August 1908 bestätigt wurde.

Am 17. Dezember 1908 versammelten sich der Senat und das neu gewählte Abgeordnetenhaus. Parlamentspräsident wurde der aus dem Exil zurückgekehrte Ahmed Rıza. Insgesamt waren 147 Türken, 60 Araber, 27 Albaner, 26 Griechen, 14 Armenier, vier Juden und zehn Slawen vertreten.[18]

Am 27. April 1909 wurde der unkooperative Sultan Abdülhamid II. abgesetzt und durch Mehmed V. ersetzt. Das Parlament verabschiedete am 21. August 1909 eine Verfassungsänderung, wodurch die Macht des Sultans stark beschränkt und das Parlament gestärkt wurde.[19] Das Parlament konnte nun Gesetze einbringen, der Sultan verlor sein nach Art. 113 III gegebenes Recht Verbannungen auszusprechen, die Pressezensur wurde verboten und den Bürgern und Abeitern wurde die Versammlungsfreiheit und das Streikrecht zugesprochen.[18]

Weitere Änderungen folgten in den Jahren 1914 bis 1918, durch die weitere Schritte in Richtung einer parlamentarischen Monarchie unternommen wurden. Der Sultan nahm zusätzliche Machteinbußen hin; so konnte er das Abgeordnetenhaus nur noch unter der Auflage, dass es innerhalb von vier Monaten wiedergewählt wurde, auflösen. Die Ernennung der Regierung erfolgte nun mit Zustimmung des Abgeordnetenhauses, wobei die Minister diesem gegenüber verantwortlich waren. Des Weiteren musste der Sultan laut Art. 3 im Parlament schwören, dass er die „Verfassung achten, sowie dem Vaterlande und der Nation treu bleiben werde.“ Zudem war das Parlament nun berechtigt, mit einer Zweidrittelmehrheit vom Sultan zurückgewiesene Gesetzesentwürfe anzunehmen.[20]

Aufhebung

Mitglieder der Gegenregierung in Ankara

Insbesondere dadurch, dass Sultan Abdülhamid II. das Parlament am 14. Februar 1878 aufgelöst hatte und dieses sich bis zum 4. Dezember 1908 nicht versammeln konnte, war die Verfassung faktisch über 30 Jahre lang außer Kraft gesetzt.

Am 20. Januar 1921 ratifizierte die Gegenregierung unter Mustafa Kemal Atatürk das Gesetz über die grundlegende Organisation, die „De-Facto-Verfassung der Widerstandsbewegung[21]. Dieser Gesetzestext hob das Osmanische Grundgesetz nicht vollständig auf, sondern ergänzte und setzte es nur sukzessive außer Kraft. Erstmals wurde die Volkssouveränität in einem Verfassungsdokument verankert, wobei auf das Prinzip der Gewaltenteilung verzichtet und die gesetzgebende sowie ausführende Gewalt einheitlich von der Großen Nationalversammlung verkörpert wurde. Diese Nationalversammlung schaffte am 1. November 1922 das Sultanat ab. Am 29. Oktober 1923 wurde die Republik als Staatsform beschlossen und am 3. März 1924 folgte schließlich die Aufhebung des Kalifats.

Letztendlich wurde die Verfassung am 20. April 1924 durch eine neue Verfassung abrogiert.

Inhalt

Allgemeines

Die Verfassung bestand aus einem Vorwort – der Präambel – „den allgemeinen Rechten der osmanischen Untertanen“ (Art. 8–26) und Normierungen zur Staatsorganisation. Insgesamt verfügte die Verfassung zunächst über 119, nach den Änderungen von 1909 über 121 Artikel in zwölf Abschnitten.

Staatsorganisation

Im Abschnitt „Memalik-i Devlet-i Osmaniye“ (ممالك دولت عثمانيه / ‚Das Osmanische Reich‘) wurde die Unteilbarkeit des Osmanischen Reiches mit seiner Hauptstadt Istanbul kodifiziert. Die Ämter des Sultans sowie Kalifen wurden der Familie Osman zugesprochen und, wie seit der Herrschaft Ahmeds I. gewohnheitsrechtlich, nun nach gesatztem Recht an den ältesten Sohn vererbt. Der Herrscher galt als der Beschützer des Islam und folglich als heilig. Er musste keinem gegenüber Rechenschaft ablegen und konnte bei Verstößen gegen die Verfassung nicht belangt werden. Artikel 6 schützte die Freiheitsrechte der Sultansfamilie sowie „ihr bewegliches und unbewegliches Privatvermögen“ und „ihre lebenslänglichen Zivillisten“.

Schließlich wurden dem Souverän in Art. 7 umfangreiche Hoheitsrechte zugestanden. Diese waren:

[…]: Die Ernennung und Absetzung der Minister, die Verleihung von Ämtern, Würden und Orden, die Investitur der Gouverneure der privilegierten Provinzen gemäß den Bestimmungen der diesen verliehenen Privilegien, die Münzprägung, die Erwähnung seines Namens im öffentlichen Gebete, die Abschließung von Verträgen mit auswärtigen Staaten, die Erklärung von Krieg und Frieden, der Oberbefehl über die Land- und Seemacht, die Beförderung von Militärpersonen, die Ausübung der Gerichtsbarkeit nach den Scheriat- und Kanungesetzen, die Aufstellung von Regulativen über die öffentliche Verwaltung, die Milderung oder gänzliche Erlassung der gesetzlichen Strafen, die Berufung, die Vertagung und erforderlichenfalls die Auflösung des Parlamentes, letzteres jedoch nur unter der Bedingung, daß Neuwahlen ausgeschrieben werden.[22]

Der Sultan besaß so eine große Machtfülle. Sein stärkstes Mittel war das Recht zur Aussprechung von Verbannungen (Art. 113 III).[23]

Die Grundrechte

Die Grundrechte waren im zweiten Abschnitt (Tebaai Devleti Osmaniyenin Hukuku Umumiyesi) in den Artikeln 8 bis 26 geregelt. Alle im Osmanischen Reich lebenden Menschen wurden unabhängig von ihren Religionszugehörigkeiten als Osmanen angesehen und genossen persönliche Freiheit, solange sie die Rechte anderer nicht verletzten (vgl. Art. 8 f.). Die Freiheit war geschützt und es galt der Grundsatz nulla poena sine lege („Keine Strafe ohne Gesetz“) (Art. 10). Die Artikel 11 und 12 gewährten allen Osmanen freie Religionsausübung und, solange gesetzeskonform, Pressefreiheit. Vereine durften gegründet werden (Art. 13) und der Zugang zur Bildung war frei (Art. 15). Alle Osmanen wurden vor dem Gesetz gleichgestellt und hatten die gleichen Rechte (hukuk) und Pflichten (vezaif) gegenüber dem Reich (memleket) (Art. 17). Für eine Einstellung im Staatsdienst wurde die Beherrschung des Türkischen, der amtlichen Sprache (devletin lisanı resmisi olan Türkçe), vorausgesetzt (Art. 18). Artikel 22 und 25 schrieben die Unverletzlichkeit der Wohnung und die Steuergerechtigkeit vor. Die Folter und andere Misshandlungen waren gem. Art. 26 verboten.

Der Ministerrat

Der Ministerrat (Vükelâyı Devlet) (Art. 27–38, Abschnitt 3) wurde vom Sultan gewählt und war nur ihm gegenüber zur Rechenschaft verpflichtet (Art. 27 f.). Er trat unter dem Vorsitz des Großwesirs (Sadr-ı Azam) zusammen (Art. 28). Die Mitglieder des Ministerrats konnten zu jeder Zeit an Parlamentssitzungen teilnehmen und vor dem Parlament reden (Art. 37). Nach Art. 53 besaßen die Minister das grundsätzliche Initiativrecht.

Die Beamten

Die Beamten (Memurin / مأمورين) konnten ohne wichtigen Grund nicht entlassen werden und hatten zwar den Anweisungen ihrer Vorgesetzten (âmir) zu folgen, mussten sich aber an geltende Gesetze halten (kanunun tâyin ettiği daire) (Art. 41).

Das Parlament

Das Parlament (Meclis Umumi, Art. 42–59, Abschnitt 5) hatte nur ein beschränktes, von der (etwa konkludenten) Zustimmung des Sultans abhängiges Initiativrecht. Die Parlamentsmitglieder genossen Immunität, welche nur vom Parlament aufgehoben werden konnte (Art. 48, 49, 79). Die Parlamentssitzungen mussten auf türkisch erfolgen (Art. 57) und die Gesetze mussten mit dem Islam in Einklang stehen (Art. 64). Das Parlament bestand aus folgenden zwei Kammern (Art. 42):

Der Senat (Heyet-i Âyan, Art. 60–64, Abschnitt 6)
Der Präsident und die Mitglieder des Senats wurden vom Sultan auf Lebenszeit ernannt (Art. 60), konnten aber „auf eigenes Verlangen vom Staat in ein anderes Amt versetzt“ werden („kendü talepleri devletçe sair memuriyete tâyin“) (vgl. Art. 62). Die Mitglieder des Senats mussten mindestens 40 Jahre alt sein (Art. 61).
Eröffnungssitzung des Abgeordnetenhauses, 1877
Ahmed Vefik Pascha
Das Abgeordnetenhaus (Heyet-i Mebusan, Art. 65–80, Abschnitt 7)
Die Gesamtanzahl der Abgeordneten war so begrenzt, dass pro 50.000 männliche Einwohner je ein Abgeordneter (nefer) in geheimen Wahlen für vier Jahre gewählt (vgl. Art. 65 ff.) wurde. Dabei fand die Wahl nach Art. 66 i.V.m. Art. 8, 21 des Abgeordnetenwahlgesetzes (İntihab-ı Mebusan Kanunu) von 1877 indirekt statt. Bis zu 500 Wähler wählten mit relativer Mehrheit einen Wahlmann (Art. 21, 43, 45, 46 des Abgeordnetenwahlgesetzes). In Sandschaks mit bis zu 50.000 Einwohnern wählte man einen, mit bis zu 125.000 Einwohnern zwei, mit bis zu 175.000 drei und mit bis zu 320.000 vier Abgeordnete. Der Präsident und die Vizepräsidenten wurden aus den vorgeschlagenen Kandidaten vom Sultan ernannt (Art. 77). Eine Wiederwahl war möglich (Art. 69). Erster Präsident des Abgeordnetenhauses wurde Ahmed Vefik Pascha.

Die Kammern traten jährlich in Anwesenheit des Sultans oder dessen Vertreters von November bis März oder bei Bedarf zusammen (vgl. Art. 43–45). Die Mitglieder konnten nicht beiden Kammern gleichzeitig angehören und kein anderes Amt bekleiden (Art. 50). Gesetzesentwürfe wurden zunächst vom Abgeordnetenhaus beraten und dann zum Senat weitergeleitet (Art. 55).

Die Gerichte

Richter wurden auf Lebenszeit ernannt (Art. 81) und alle Verhandlungen waren öffentlich zu halten (Art. 82). Die Gerichte (Mehakim) waren unabhängig (Art. 86). Für die Verfahren gegen Regierungsmitglieder war das Hohe Gericht (Divan-ı Âlî) zuständig (Art. 92 ff., Abschnitt 9). Er bestand aus 30 Mitgliedern, wovon zehn aus dem Senat, zehn aus dem Staatsrat und zehn aus dem Kassations- und Appellationshof stammten (Art. 92). Das Hohe Gericht wurde in zwei Kammern aufgeteilt: Die Anklagekammer (Dairei İthamiye) und die Urteilskammer (Divanı Hüküm) (Art. 93).

Die Finanzen

Steuern durften nur auf der Grundlage von Gesetzen erhoben werden (Art. 96) und das Jahresbudget wurde vom Parlament überprüft und dem Abgeordnetenhaus vorgelegt (Art. 98 f.) Zudem wurde ein Rechnungshof (Divanı Muhasebat) gegründet und war für die Überprüfung der mit Finanzen betrauten Beamten (Art. 105) zuständig. Der Rechnungshof bestand aus zwölf Mitgliedern, welche vom Sultan ernannt und nur durch das Abgeordnetenhaus entlassen werden konnten (Art. 106).

Verschiedene Bestimmungen

Die Regierung konnte bei Bedarf den Ausnahmezustand (İdâre-i Örfiyye / اداره عرفيه) verhängen und der Sultan war berechtigt, Verbannungen auszusprechen (Art. 113). Grundschulunterricht (birinci mertebe) war für alle Osmanen verpflichtend (Art. 114) und eine Verfassungsänderung konnte nur auf Vorschlag des Ministerrats oder der Kammern mit einer Zweidrittelmehrheit (sülüsan ekseriyet) beider Kammern und Zustimmung des Sultans vorgenommen werden.

Bedeutung und Kritik

Durch dieses Grundgesetz wurde erstmals im Osmanischen Reich der Versuch unternommen, der religiösen Legitimation der Herrschafts– und Staatsgewalt mit demokratischen Elementen die Absolutheit abzusprechen. Der Sultan blieb jedoch theokratisch legitimierter Herrscher, auf den die Staatsorganisation maßgeschneidert war.[15] Somit herrschte der Sultan frei und bar jeglicher Rechenschaft. Dies zeigte sich insbesondere in der Auflösung des Parlaments nur elf Monate nach In-Kraft-Treten der Verfassung. Folgerichtig blieb der Osmanische Staat, trotz einer gültigen Verfassung, absolutistisch. Die in der Verfassung – allerdings auch schon in vorhergehenden Erlässen – garantierten Grundrechte waren in der Osmanischen Rechtsgeschichte zwar von nicht belangloser Bedeutung, allerdings wegen des Verbannungsrechts nach Art. 113 durch das Gutdünken des Herrschers stark beschränkt.

Wie stark sich die über dreißig Jahre währende faktische Unwirksamkeit der Verfassung auf die Pressefreiheit auswirkte, machte sich nach dem Verbot der Pressenzensur im Jahr 1908 bemerkbar. So stieg die Anzahl erscheinender Periodika nach der Wiederinkraftsetzung der Verfassung schlagartig. In den Jahren 1908 und 1909 wurden 330 Werke gezählt.[18]

Einzelnachweise

  1. M. Şükrü Hanioğlu: A Brief History of the Late Ottoman Empire. Princeton University Press, 2008, ISBN 978-0-691-13452-9, S. 56.
  2. a b Virginia H. Aksan, Daniel Goffman: The early modern Ottomans: Remapping the Empire. Cambridge University Press, 2007, ISBN 9780521817646, S. 124 f.
  3. Christian Rumpf: Rezeption und Verfassungsordnung: Beispiel Türkei. Stuttgart 2001, S. 4. (PDF; 210,6 KB)
  4. Kutluhan Bozkurt: Die Beziehungen der Türkei zur EU: Rechtliche Prozesse und rechtliche Einflüsse. Wien 2004, S. 47 f. (PDF; 1,16 MB)
  5. Christian Rumpf: Das Rechtsstaatsprinzip in der türkischen Rechtsordnung. Ein Beitrag zum türkischen Verfassungsrecht und zur europäischen Rezeptionsgeschichte. Bouvier, Bonn 1992, ISBN 978-3-416022828, S. 39.
  6. a b Kemal Gözler: Türk Anayasa Hukuku. Ekin Kitabevi Yayınları, Bursa 2000, S. 3 ff. (Bündnisvertrag) (Edles Handschreiben)
  7. Klaus Kreiser: Der osmanische Staat 1300–1922. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2008, ISBN 9783486585889, S. 39.
  8. Sabri Şakir Ansay: Das Türkische Recht. In: Bertold Spuler (Hrsg.): Handbuch der Orientalistik. Erste Abt. Der Nahe und der Mittlere Osten. Ergänzungsband III. Orientalisches Recht. Brill, Leiden 1964. S. 442 f.
  9. a b Günter Seufert, u.a.: Die Türkei: Politik, Geschichte, Kultur. C.H. Beck, 2006, ISBN 9783406547508, S. 71 f.
  10. Klaus Kreiser, Christoph K. Neumann: Kleine Geschichte der Türkei. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006, ISBN 3-89331-654-X, S. 337.
  11. a b c Stanford Shaw, Ezel Kural Shaw: History of the Ottoman Empire and Modern Turkey. Vol. II: Reform, Revolution, and Republic: The Rise of Modern Turkey, 1808–1975. Cambridge University Press, Cambridge et al. 2002, ISBN 9780521291668, S. 174 f.
  12. a b c Kemal Gözler: Türk Anayasa Hukukuna Giriş. 1. Auflage. Ekin Yayınevi, Bursa 2008, ISBN 978-9944-141-37-6., S. 19 ff. (online)
  13. Bülent Tanör: Osmanlı-Türk Anayasal Gelişmeleri: 1789–1980. 2. Auflage. Der Yayınları, İstanbul 1995, S. 111.
  14. Mehmet Hacısalihoğlu: Die Jungtürken und die Mazedonische Frage (1890–1918). Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2003, ISBN 9783486567458, S. 59.
  15. a b Christian Rumpf: Rezeption und Verfassungsordnung: Beispiel Türkei. Stuttgart 2001, S. 8. (PDF; 210,6 KB)
  16. Ralph Uhlig: Die Interparlamentarische Union: 1889–1914. Franz Steiner Verlag, 1988, ISBN 9783515050951, S. 490 f.
  17. Klaus Kreiser: Der osmanische Staat 1300–1922. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2008, ISBN 9783486585889, S. 47.
  18. a b c Klaus Kreiser, Christoph K. Neumann: Kleine Geschichte der Türkei. Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2006, ISBN 3-89331-654-X, S. 357 ff.
  19. Tagung der GfR vom 20. bis 22. März 1996 in Jena, Gesellschaft für Rechtsvergleichung, abgerufen am 22. Januar 2009.
  20. Christian Rumpf: Rezeption und Verfassungsordnung: Beispiel Türkei. Stuttgart 2001, S. 10. (PDF; 210,6 KB)
  21. Kutluhan Bozkurt: Die Beziehungen der Türkei zur EU: Rechtliche Prozesse und rechtliche Einflüsse. Wien 2004, S. 15. (PDF; 1,16 MB)
  22. Die Verfassung des Osmanischen Reichs (1876), Art. 7.
  23. Christian Rumpf: Rezeption und Verfassungsordnung: Beispiel Türkei. Stuttgart 2001, S. 9. (PDF; 210,6 KB)

Literatur

  • Kemal Gözler: Türk Anayasa Hukukuna Giriş. 1. Auflage. Ekin Yayınevi, Bursa 2008, ISBN 978-9944-141-37-6.
  • Friedrich von Kraelitz-Greifenhorst: Die Verfassungsgesetze des Osmanischen Reiches. Verlag des Forschungsinstitutes für Osten und Orient, Wien 1919.
  • Klaus Kreiser: Der osmanische Staat 1300–1922. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, München 2008, ISBN 9783486585889.
  • Josef Matuz: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. Darmstadt 1985, S. 224 ff.
  • Christian Rumpf: Das türkische Verfassungssystem: Einführung mit vollständigem Verfassungstext. Harrassowitz Verlag, Wiesbaden 1996, ISBN 978-3447038317, S. 37–57.
  • Thomas Scheben: Verwaltungsreformen der frühen Tanzimatzeit: Gesetze, Maßnahmen, Auswirkungen: Von der Verkündigung des Ediktes von Gülhane 1839 bis zum Ausbruch des Krimkrieges 1853. Frankfurt am Main, Bern, New York 1991.
  • Bülent Tanör: Osmanlı-Türk Anayasal Gelişmeleri: 1789–1980. 2. Auflage. Der Yayınları, İstanbul 1995, S. 101–183.
Darstellungen
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