Effi Briest

Effi Briest ist ein Roman von Theodor Fontane, der erstmals 1894–1895 als Fortsetzungsroman in der Deutschen Rundschau[1] und dann 1896 in Buchform erschien. Das Werk gilt als Höhe- und Wendepunkt des poetischen Realismus: Höhepunkt, weil der Autor seine kritische Distanz zu den Gegenständen mit einer Eleganz verbindet, die in der deutschen Literatur ihresgleichen sucht; Wendepunkt, weil Fontane der bedeutendste Geburtshelfer des deutschen Gesellschaftsromans ist, der wenige Jahre später mit Thomas Manns Buddenbrooks, die Fontane viele Anregungen verdanken, zum ersten Mal Weltgeltung erlangen sollte.[2]

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Effi mit dem Abschiedsbrief ihrer Mutter.
Zeichnung von U. Schramm für den Buchdeckel der Goldmann-Taschenbuchausgabe von 1966, auf die sich die Seitenzahlangaben dieses Artikels beziehen.

Der Roman behandelt das Leben von Effi Briest, einem siebzehnjährigen Mädchen, das den mehr als doppelt so alten Baron von Innstetten heiratet, von diesem wie ein Kind behandelt und als Frau vernachlässigt wird und nicht zuletzt deswegen für kurze Zeit der Leidenschaft zu einem Offizier verfällt. Als die Affäre nach Jahren bekannt wird, tötet Innstetten zur Wiederherstellung seiner Ehre den Rivalen im Duell. Seine Ehe wird geschieden und Effi muss sich von ihrem Kind trennen. Sie wird gesellschaftlich geächtet und auch von ihren Eltern zunächst verstoßen, bis diese drei Jahre später ihre inzwischen todkranke Tochter schließlich doch noch wieder zu Hause aufnehmen.

Inhalt

(Die Seitenzahlenangaben der folgenden Abschnitte beziehen sich auf die unten angegebene, im Goldmann-Verlag erschienene Romanausgabe.) Der 38-jährige Baron von Innstetten, ein früherer Verehrer von Effis Mutter, hält zu Beginn des Romans um die Hand des 17-jährigen Mädchens an und zieht mit Effi, nach der Heirat und anschließenden Hochzeitsreise durch Italien, nach Kessin in Hinterpommern. Der literarische Ort ist dabei nicht mit dem tatsächlichen Kessin identisch, Fontane orientierte sich vielmehr an Swinemünde. Effi wird dort nie richtig glücklich und leidet unter ihrer Angst vor einem angeblichen Spuk im geräumigen landrätlichen Haus: Sie ist davon überzeugt, dass in manchen Nächten ein Chinese erscheine, der einst in Kessin gelebt und ein sonderbares Ende gefunden haben soll. In dieser Angst wird Effi bestärkt von Innstettens Haushälterin Johanna. Trost und Schutz findet Effi nur bei Rollo, Innstettens Hund, der sie auf ihren einsamen Spaziergängen begleitet.

Freundschaft schließt Effi auch mit dem alten Alonzo Gieshübler (nicht zufällig, wie Fontane selbst, von Beruf Apotheker), der sie versteht und verehrt und ihr Halt gibt. Sie erhält von ihm täglich sorgsam präparierte Zeitungen und kleine Aufmerksamkeiten, die ihr ereignisloses Leben bereichern sollen, ein Bedürfnis, das durch die formellen Landpartien und Anstandsbesuche, an denen sie mit ihrem Mann teilnimmt, kaum befriedigt wird. Im Gegenteil: die junge Dame langweilt sich in den steifen Adelskreisen zu Tode (96).[3]

Neun Monate nach der Hochzeit bekommt Effi eine Tochter, die auf den Namen Annie getauft wird. Während ihrer Schwangerschaft traf Effi auf einem ihrer Spaziergänge das katholische Hausmädchen Roswitha, das sie nun als Kindermädchen einstellt. Ungefähr zur gleichen Zeit taucht Major von Crampas in Kessin auf. Er hat zusammen mit Innstetten beim Militär gedient, ist aber charakterlich dessen ganzes Gegenteil: ein spontaner, leichtlebiger und erfahrener „Damenmann“. Verheiratet mit einer eifersüchtigen, „immer verstimmten, beinahe melancholischen“ Frau (101), begeistert er sich für Effis jugendliche Natürlichkeit und ermuntert sie zu Abwechslung und Leichtsinn. Anfangs widersteht Effi seinem Charme, dann jedoch, als Effi immer wieder von Innstetten allein gelassen wird und sich in ihrem eigenen Hause ängstigt und einsam fühlt, bahnt sich eine heimliche Affäre an, die Effi in immer bedrängendere Gewissenskonflikte stürzen wird: Effi lässt sich zunächst von Crampas dazu überreden, zum Zeitvertreib der langen Winterabende ein gemeinsames Theaterspiel mit dem bezeichnenden Titel „Ein Schritt vom Wege“ einzustudieren und in der Kessiner Ressource aufzuführen.

Uferwald in Hinterpommern,
Symbol für den "Schritt vom Wege"

Kurz vor Weihnachten kommt es unter der Regie von Major Crampas zu einer überaus erfolgreichen Vorstellung und Effi wird als weibliche Heldin gefeiert - von den Herren bewundert, von den Damen beneidet. Eine Woche später begeben sich die Kessiner Honoratioren auf eine traditionelle Schlittenpartie zur Oberförsterei. Als man, schon etwas angeheitert, zu nächtlicher Stunde den Heimweg antritt, streiken unterwegs plötzlich die Pferde am sogenannten Schloon, einem unterirdischen Wasserlauf, der den Strand zum Sumpf gemacht hat. Um zu vermeiden, dass die Schlitten im heimtückischen Sand versinken, muss man einen Umweg durch den finsteren Uferwald nehmen und „mitten durch die dichte Waldmasse“ (156) fahren. Crampas, der mit Effi im letzten Schlitten Platz genommen hat, nutzt den Schutz der Dunkelheit aus: Effi fürchtete sich und war doch zugleich wie in einem Zauberbann und wollte auch nicht heraus. - "Effi", klang es jetzt leis an ihr Ohr, und sie hörte, daß seine Stimme zitterte. Dann nahm er ihre Hand und löste die Finger, die sie noch immer geschlossen hielt, und überdeckte sie mit heißen Küssen. Es war ihr, als wandle sie eine Ohnmacht an.“ (157)

Düne bei Swinemünde, dessen Szenerie laut Fontane für das literarische Kessin Pate stand [4]
Duell im 19. Jahrhundert

Von nun an treffen sich die beiden regelmäßig in den Dünen und Effi ist gezwungen, ihrem Mann eine "Komödie" vorzuspielen. Sie fühlt sich "wie eine Gefangene", leidet schwer darunter und will sich befreien: Aber wiewohl sie starker Empfindungen fähig war, so war sie doch keine starke Natur; ihr fehlte die Nachhaltigkeit, und alle guten Anwandlungen gingen wieder vorüber. So trieb sie denn weiter, heute, weil sie's nicht ändern konnte, morgen, weil sie's nicht ändern wollte. Das Verbotene, das Geheimnisvolle hatte seine Macht über sie. (164)
Als Wochen später ihr Mann nach Berlin berufen wird, um dort im Ministerium Karriere zu machen, und Innstetten ihr stolz verkündet, dass sie Kessin demnächst verlassen und in die Hauptstadt umziehen werden, empfindet Effi eine riesige Erleichterung: Effi sagte kein Wort, und nur ihre Augen wurden immer größer; um ihre Mundwinkel war ein nervöses Zucken, und ihr ganzer zarter Körper zitterte. Mit einem Male aber glitt sie von ihrem Sitz vor Innstetten nieder, umklammerte seine Knie und sagte in einem Tone, wie wenn sie betete: "Gott sei Dank!" (176) - Endlich von allen Gewissensbissen erlöst, genießt Effi „ihr neues Leben“ in der Großstadt, wo sie die langweilige Zeit im ländlichen Kessin und das verbotene Verhältnis zu Crampas bald vergessen kann.

Sechs Jahre später, während Effi gerade zur Kur in Bad Ems weilt, entdeckt Innstetten in einem Nähkästchen[5] durch Zufall Crampas’ Briefe, die ihm die Affäre der beiden enthüllen.[6] Aufgrund des − aus Innstettens Sicht zwar kritisch, aber doch noch als gesellschaftlich verbindlich betrachteten – Ehrenkodexes beschließt er, den Major zu einem Duell zu fordern. Dabei wird Effis einstiger Liebhaber tödlich getroffen. Innstetten trennt sich trotz aller Selbstzweifel von seiner Frau und weiß, dass er damit auch sein eigenes privates Glück zerstört: Ja, wenn ich voll tödlichem Haß gewesen wäre, wenn mir hier ein tiefes Rachegefühl gesessen hätte... Rache ist nichts Schönes, aber was Menschliches und hat ein natürlich menschliches Recht. So aber war alles einer Vorstellung, einem Begriff zuliebe, war eine gemachte Geschichte, eine halbe Komödie. Und diese Komödie muß ich nun fortsetzen und muß Effi wegschicken und sie ruinieren und mich mit. (236)

Effis Eltern senden ihrer Tochter einen Brief, in dem sie erfährt, dass sie aufgrund der gesellschaftlichen Konventionen nicht mehr nach Hohen-Cremmen, das elterliche Anwesen und Haus ihrer glücklichen Kindheit, zurückkehren könne. Verstoßen von Ehemann und Eltern, zieht sie in eine kleine Wohnung in Berlin und fristet dort, zusammen mit der ihr nach wie vor in Treue verbundenen Haushälterin Roswitha, ein einsames und kümmerliches Dasein.
Nach einem enttäuschenden Besuch ihrer kleinen Tochter Annie, die ihre Mutter lange Zeit nicht sehen durfte und ihr inzwischen völlig entfremdet ist, erleidet Effi einen Zusammenbruch. Ihre Eltern beschließen auf Anraten eines Arztes, ihr krankes Kind doch wieder zu sich zu nehmen. Effis gesundheitlicher Zustand verbessert sich zunächst zwar, doch kommt sie über den Schmerz nicht hinweg, der sich in ihr Herz bohrte, als sie ihre kühle, vom Vater instruierte Tochter erleben musste. Angesichts des nahenden Todes spricht sie ihren früheren Gatten von jeglicher Schuld frei (285). Effi Briest stirbt mit 29 Jahren in ihrem Elternhaus an „gebrochenem Herzen“. Effis Mutter glaubt, eine Mitschuld am Tod ihrer Tochter zu tragen, weil sie Effis früh eingegangener Ehe mit einem 21 Jahre älteren Mann zugestimmt hatte. Herr von Briest beendet jedoch jegliches weitere Grübeln mit seinen leitmotivisch im gesamten Roman immer wieder geäußerten Worten: Ach, Luise, laß … das ist ein zu weites Feld.[7]

Form

(Die Seitenzahlenangaben der folgenden Abschnitte beziehen sich auf die unten angegebene, im Goldmann-Verlag erschienene Romanausgabe.)

Was Fontanes Werk unter anderem auszeichnet, ist sein Spannungen schaffendes Jonglieren mit den ästhetisierenden Elementen des poetischen Realismus einerseits und den um größere Objektivität bemühten Mitteln des bürgerlichen Gesellschaftsromans andererseits. Dazu zieht er virtuos alle Register literarischen Erzählens: vom auktorialen Plauderton übers perspektivische Berichten mit wechselndem Fokus bis hin zur erlebten Rede, von der episch breiten Beschreibung über die dialogische Konversation bis hin zur monologischen Briefform - kein Mittel konventionellen literarischen Schreibens bleibt ungenutzt. "Das Geflecht der Verweisungen durch beziehungschaffende Bilder und Gegenbilder, Allusionen und Parallelen, Omina, Signale, Echos und Spiegelungen, sich wiederholende, abbrevierende Bild- und Redeformeln - Fontane bedient sich ihrer so überlegt wie überlegen."[8]

Einband der ersten Auflage

Den Widersprüchen der wilhelminischen Welt des ausgehenden 19. Jahrhunderts, dargestellt am Beispiel der „Mesalliance“ Effi/Innstetten, entsprechen die erzähltechnischen, allen voran der häufige Gebrauch inhaltlicher Unstimmigkeiten und Kontraste: Effi ist zu jung, zu naiv, zu ungezügelt; Innstetten ist zu alt, zu karrieresüchtig, zu eifersüchtig, zu humorlos und zu ehrpusselig; die beiden sind zu verschieden. Exemplarisch für solche Nimismen steht die berühmte, leitmotivisch wiederkehrende Aussage des alten Briest: „Das ist ein zu weites Feld.“ Ihr kommt schon insofern eine Schlüsselfunktion zu, als Fontane sie nicht nur zum stets wiederkehrenden Leitmotiv, sondern darüber hinaus auch zum krönenden Schlusssatz seines Romans macht. Dem alten Briest, teilweise ein alter ego Fontanes, erscheint diese Welt zu kompliziert, zu widersprüchlich und zu lästig, als dass er sie erklären wollte. Mit seinem Zitat lässt er (und sein Autor) immer wieder an entscheidender Stelle offen, wie er zu den Dingen steht, und spart aus, was jeder Leser für sich selbst ergänzen sollte. Während Fontane durch die Wahl seiner nimistischen Formulierung („zu weit“) durchaus auf eine Schwäche des alten Briest hinweisen will, betont er doch andererseits durch den Verzicht auf jede weitere Erläuterung die liberale Toleranz und Humanität dieser Vaterfigur. Immer aber, wenn Liebe und Menschlichkeit gefragt sind, beispielsweise als es darum geht, die sozial geächtete und verstoßene Tochter gegen den „Anspruch der Gesellschaft“ wieder nach Hause zu holen, ist der alte Briest durchaus gewillt, aus seiner Deckung zu kommen und seine Reserviertheit, auch gegen den Widerstand seiner Frau, aufzugeben: „Ach, Luise, komme mir mit Katechismus, soviel du willst; aber komme mir nicht mit Gesellschaft […] die Gesellschaft, wenn sie nur will, kann ein Auge zudrücken. […] Ich werde ganz einfach telegraphieren: „Effi, komm.“ (269 f.) Mit seinem Aufbegehren und der Forderung danach, ein Auge zuzudrücken, verhält er sich entschieden mutiger als seine Frau, die ihre Tochter vor allem deswegen verstieß, weil sie meinte, „vor aller Welt Farbe bekennen“ (248) zu müssen. Trotzdem gilt für die Figur des alten Briest, dass es paradoxerweise gerade ihre Zurückhaltung ist, die sie, obwohl nur Randfigur, ähnlich wie den Apotheker Gieshübler zu einem der prägenden Charaktere werden lässt.

In gleicher Art verdanken noch verschiedene andere Hauptmotive des Romans ihren Reiz solchen Leerstellen: der Seitensprung mit Crampas, die Schuldfrage, die Kritik an der preußischen Gesellschaft und, nicht zuletzt, das Geheimnis um den Chinesen – sie alle werden nie explizit, sondern fast ausschließlich in omissiven Andeutungen dargestellt und gewinnen auf diese Weise erst den spannenden Schwebezustand, der den Roman von trivialer Salonliteratur unterscheidet.[9]

Symbole und Motive

(Die Seitenzahlenangaben der folgenden Abschnitte beziehen sich auf die unten angegebene, im Goldmann-Verlag erschienene Romanausgabe.)

Alle zentralen Themen des Romans (Liebe, Ehe, Karriere, Angst, Schuld, Entsagung, Strafe, Zeit und Tod) klingen bereits im ersten Kapitel (S.5-13) unüberhörbar an, die auffälligsten Dingsymbole (das Rondell, die Kirchhofsmauer, die Schaukel, der Teich und die alten Platanen) sogar schon auf der ersten Seite: eine Bilderdichte, die Fontane im Verlaufe seines Romans ständig weiter ausspinnt zu einer komplexen Textur von Vor- und Rückverweisen, die seinem Alterswerk jene anspruchsvolle Qualität verleiht, von der die Leichtigkeit seines Erzähltons nichts zu wissen scheint.

Die Schaukel

Das alte Spielgerät, die Pfosten der Balkenlage schon etwas schief stehend, symbolisiert nicht nur Effis unbeschwerte Kindheit im elterlichen Herrenhaus zu Hohen-Cremmen, sondern auch den von ihr so gern ausgekosteten Reiz des Gefährlichen, das Gefühl abzustürzen und doch immer wieder aufgefangen zu werden. Ihre Mutter meint denn auch, sie hätte doch wohl Kunstreiterin werden müssen. Immer im Trapez, immer Tochter der Luft (7).

Die Schaukel, Symbol einer unbeschwerten Kindheit

Angst kennt sie dabei nicht, im Gegenteil, ich falle jeden Tag wenigstens zwei-, dreimal, und noch ist mir nichts gebrochen (9). Von ihrer gleichaltrigen Freundin Hertha wird sie daraufhin an das Sprichwort „Hochmut kommt vor dem Fall“ erinnert, wiederum symbolisch und nicht ganz zu Unrecht, wenn man berücksichtigt, dass Effi ein ausgesprochenes Faible für alles „Vornehme“ hat und den ungeliebten Geert von Innstetten nicht zuletzt deswegen heiratet, weil er doch Baron und Landrat ist. Effi will im wahrsten Sinne des Wortes hoch hinaus, allerdings nur deswegen, weil ihr die Mutter solches einredet: wenn du nicht nein sagst, […] so stehst du mit zwanzig Jahren da, wo andere mit vierzig stehen (16). Ihr Vater hat ihr einen Klettermast, einen Mastbaum versprochen, hier dicht neben der Schaukel, mit Raaen und einer Strickleiter. Wahrhaftig, das sollte mir gefallen, und den Wimpel oben selbst anzumachen, das ließe ich mir nicht nehmen (13). Im Grunde also bleibt Effi naiv und anspruchslos - ganz im Kontrast zum Ehrgeiz Innstettens, der mit einem "wahren Biereifer" (11) das Höherhinaufklimmen auf der Leiter (277) seiner Karriere betreibt.

Der Autor verfolgt mit seinem Schaukelsymbol darüber hinaus ein weiteres Ziel: Wer, meint Fontane, seiner tiefsten Natur nach den Betörungen einer solchen Schwerelosigkeit notwendig zustrebt, der kann nicht zu Recht schuldig gesprochen werden. Effi unterliegt [als sie auf der nächtlichen Schlittenfahrt "im Fluge" (156) den anderen Schlitten hinterherjagt und dabei von Crampas zum ersten Mal verführt wird (157)] in einem Augenblick süßen Schauerns jenseits bewußter Verantwortung; deshalb darf sie Anspruch auf Milderungsgründe erheben. Effis Natur, an deren Zeichnung das Flugmotiv so entscheidenden Anteil hat, ist zugleich ihre Apologie. Da Fontane innerhalb der literarischen Konventionen eines "realistischen", d.h. "objektiv" dargestellten Geschehens nicht unmittelbar an den Leser appellieren darf, plädiert er metaphorisch.[10]

Später erfüllt sich Effi im schwerelosen Schaukeln vor allem den Wunsch, spielerisch über alle entstandenen Schwierigkeiten hinweg aufsteigen und davonfliegen zu können. Dieses Verlangen wird schließlich so stark, dass das anfängliche Symbol ihrer kindlicher Lebenslust letztlich der Verkörperung ihrer Todessehnsucht dient. Noch im Angesicht des eigenen Endes springt sie mit einer Behendigkeit wie in ihren jüngsten Mädchentagen auf das Schaukelbrett, und ein paar Sekunden noch, und sie flog durch die Luft, und bloß mit einer Hand sich haltend, riß sie sich mit der andern ein kleines Seidentuch von Brust und Hals und schwenkte es wie in Glück und Übermut [...] „Ach, wie schön es war, und wie mir die Luft wohltat; mir war, als flög ich in den Himmel.“ (273)

Der Chinese

Der Chinese, laut Fontane „ein Drehpunkt für die ganze Geschichte“[11], gehört zu den auffällig zahlreich vertretenen exotischer Figuren Kessins, die Innstetten seiner frisch vermählten Frau noch vor ihrer Ankunft in ihrer neuen Heimat vorstellt und die dafür sorgen, dass Effi jene abgelegene Welt an der Ostsee zwar einerseits „aufs höchste interessiert“, andererseits aber auch von vornherein sehr verunsichert: der Pole Golchowski, der aussieht wie ein Starost, in Wahrheit aber ein „widerlicher Wucherer“ (42) ist; die slawischen Kaschuben im Kessiner Hinterland; der Schotte Macpherson; der Barbier Beza aus Lissabon; der schwedische Goldschmidt Stedingk; und der dänische Arzt Dr. Hannemann. Selbst Innstettens treuer Hund Rollo, ein Neufundländer (45), sowie der Apotheker Gieshübler mit seinem „fremdartig klingenden Vornamen“ (48) reihen sich zunächst in diese Reihe internationaler Statisten ein.

Chinesisches Zeichen: "Liebe"

Eine herausragende Rolle unter ihnen nimmt allerdings der ehemalige Besitzer des Innstettenschen Hauses ein, der Südsee-Kapitän Thomsen, der von seinen Seeräuberfahrten bei Tonkin einst jenen gewissen Chinesen als seinen Diener mit nach Hinterpommern brachte. Dessen geheimnisumwitterte Geschichte erzählt von der Freundschaft der beiden und davon, dass Thomsens Enkelin Nina, als sie verheiratet werden sollte, ebenfalls mit einem Kapitän, am Hochzeitabend mit allen Gästen tanzte, zuletzt auch mit dem Chinesen. Da mit einem Male hieß es sie sei fort, die Braut nämlich. Und sie war auch wirklich fort, irgendwohin, und niemand weiß, was da vorgefallen. Und nach vierzehn Tagen starb der Chinese und bekam ein Grab zwischen den Dünen. Man hätte ihn auch ruhig auf dem christlichen Kirchhof begraben können, denn der Chinese sei ein sehr guter Mensch gewesen und genauso gut wie die andern. (82) Offen, wie so vieles, bleibt, ob es sich dabei um eine glückliche oder unglückliche Liebesgeschichte (169) handelte. Sicher ist nur, dass es auch hier um eine verbotene Affäre ging und mit ihr ein zentraler Aspekt des Romanthemas vorweggenommen wird.

Wie sehr Innstetten, der Effi ja eigentlich nur mit den Kessinern und ihrer Umgebung vertraut machen will,[12] mit seinen Geschichten das Gegenteil erreicht und seiner Frau ihr neues Heim auf diese Weise gerade „unheimlich“ macht, wird zusätzlich dadurch betont, dass Effi jener Chinese in den kommenden Wochen buchstäblich „auf dem Kopf herum tanzt“. Ihr Schlafzimmer liegt nämlich genau unter dem großen Dachraum, in dem einst der bewusste Hochzeitsball stattfand und dessen Gardinen, von Wind bewegt, allnächtlich über den Tanzboden schleifen und die schlaflose Effi an die junge Braut, den Chinesen und deren tragisches Ende erinnern. Da Innstetten trotz Effis flehentlichen Bittens nicht bereit ist, die „viel zu langen“ Vorhänge – ein weiterer der zahlreichen Nimismen Fontanes – einfach abzuschneiden wie einen alten Zopf, bestätigt sich der Verdacht [13], dass er diesen Spuk absichtlich als „Erziehungsmittel“ einsetzt, das bei der häufigen Abwesenheit des Hausherrn „wie ein Cherub mit dem Schwert“ über die Tugend seiner jungen Frau wacht und als „eine Art Angstapparat aus Kalkül“ dafür sorgt, dass Effi immer ängstlicher vom Schutz ihres Mannes abhängig wird und dessen Rückkehr immer sehnsüchtiger erwartet.

Nimmt man das übrige düstere Mobiliar des Hauses und sein gespenstisches Inventar hinzu - den sonderbaren Haifisch, der als riesiges Ungetüm schaukelnd an der Flurdecke hängt, das ausgestopfte Krokodil und nicht zuletzt die abergläubische Frau Kruse mit ihrem schwarzen Huhn -, so wird verständlich, wie wenig anheimelnd Effi ihr neues Heim erscheinen muss und wie sehr es für sie vom ersten Augenblick an zum Spukhaus (234) wird. Aber das kann Innstetten erst verstehen und nachvollziehen, als seine Ehe bereits gescheitert ist und er mit seinem Freund Wüllersdorf des Duells wegen noch einmal nach Kessin zurückkehrt: […] so führte denn der Weg unvermeidlich an Innstettens alter Wohnung vorüber. Das Haus lag noch stiller da als früher; ziemlich vernachlässigt sah’s in den Parterreräumen aus; wie mochte es erst da oben sein! Und das Gefühl des Unheimlichen, das Innstetten an Effi so oft bekämpft oder auch wohl belächelt hatte, jetzt überkam es ihn selbst, und er war froh, als sie dran vorüber waren. (233 f.)

Die Wassermetaphorik

Wie das Schaukeln, Klettern und Fliegen so verwendet Fontane auch seine Wassermetaphern vorwiegend zur Veranschaulichung von Effis unbekümmerter Leidenschaftlichkeit. Sie ist das übermütige „Naturkind“ (35), das alles Künstliche und Gekünstelte, alles Damenhafte[14] und einer Dame Wertvolle gering achtet[15], aber alles Lebendige und Natürliche bedingungslos bejaht und darin „den Tod als Komplement des Lebens, ja sogar als Bedingung seines Wertes einschließt“ [16]. Daher befindet sich auch dicht neben Schaukel und nicht weit von dem kleinen Rondell, das später Effis Grab sein wird, ein Teich, der die Gartenanlage zu Hohen-Cremmen, zusammen mit den mächtigen alten Platanen - ebenfalls unübersehbare Lebens- und Todessymbole, die Fontane mehrfach als Leitmotive einsetzt - auf der offenen Seite seiner Hufeisenform abrundet.

Brandung an der Küste in Hinterpommern,
Symbol für Effis Leichtsinn

Während dieses eher idyllische Gewässer, der heilen Welt Hohen-Cremmens entsprechend, den Reigen der Wassermetaphern zu Beginn des Romans (5) auf recht harmlose Weise eröffnet, wird schon wenige Seiten später klar, dass der heimatliche Teich und die im Verlaufe des Romans immer bestimmender werdende Szenerie des wilden Meeres durchaus in Zusammenhang miteinander stehen. Noch ist es nur ein Kinderspiel, wenn Effi und ihre drei Freundinnen ihre übrig gebliebenen Stachelbeerschalen (in einer mit einem Kieselstein beschwerten Tüte als Sarg) feierlich langsam in den Teich niedergleiten lassen und so „auf offener See begraben“ (12). Doch wäre Fontanes an den Leser gerichteter Wink mit dem Zaunpfahl - Effi: „so vom Boot aus sollen früher auch arme unglückliche Frauen versenkt worden sein, natürlich wegen Untreue“ (13) - gar nicht nötig, um zu erkennen, wie der Autor schon hier mit dem theatralisch zeremoniellen Versenken der Schuld (12) auf die Problematik seines eigentlichen Romanthemas anspielt:
Unmittelbar vor ihrem Ehebruch, auf der Rückfahrt von Uvagla am Strand entlang , wird Effi von Sidonie ermahnt, sich nicht zu weit aus dem Schlitten zu lehnen, und antwortet: „Ich kann die Schutzleder nicht leiden; sie haben so was Prosaisches. Und dann, wenn ich hinausflöge, mir wär’ es recht, am liebsten gleich in die Brandung. Freilich, ein etwas kaltes Bad, aber was tut’s…“ Und im nächsten Augenblick bildet sich Effi ein, sie „hätte die Meerjungfrauen singen hören“ (152). „Die durch die beiden Symbolbereiche des Wassers und der Luft (Schaukel) versinnbildlichte Wesenskomponente wird für Effi zum Medium ihrer Verschuldung. Aber indem diese Symbole als Teil des idyllischen Bezirks von Hohen-Cremmen erscheinen und indem dieser Bezirk Verweisungsfunktion für Effis Tod erhält, wird jener Wesenszug gleichzeitig als Remedium [Heilmittel] der Schuld dargestellt.“[17]

Ein Schloon an der Ostsee, Symbol des Sich-Verlierens

Wie Lebenslust und Todessehnsucht miteinander verschmelzen, macht Fontane auch am bereits erwähnten Motiv des „Versenkens“ klar, das, meist als intransitives „Versinken“, Effis Untergang sehr variantenreich antizipiert. Zunächst geschehen derartige Anspielungen wieder auf harmlose, ja banal-komische Weise, wenn nämlich zum Beispiel die Lebenskünstlerin Tripelli, stark männlich und von ausgesprochen humoristischem Typus, Effi während eines geselligen Abends im Hause Gieshüblers ihren allzu weichen Sofa-Ehrenplatz überlässt: „Ich bitte Sie nunmehro, gnädige Frau, die Bürden und Fährlichkeiten ihres Amtes auf sich nehmen zu wollen. Denn von Fährlichkeiten – und sie wies auf das Sofa – wird sich in diesem Falle wohl sprechen lassen. […] Dies Sofa nämlich, dessen Geburt um wenigstens fünfzig Jahre zurückliegt, ist noch nach einem altmodischen Versenkungsprinzip gebaut, und wer sich ihm anvertraut […] sinkt ins Bodenlose“ (86f.). Später, in unmittelbarer Nachbarschaft der ersten Liebesszene mit Crampas jedoch, werden die Bilder bedrohlicher und stecken voller Anspielungen. Als es darum geht, am Strand den gefürchteten Schloon zu vermeiden, in dem die Schlitten der Heimkehrenden zu versinken drohen, fragt Effi: „Ist denn der Schloon ein Abgrund oder irgendwas, drin man mit Mann und Maus zugrunde gehen muß?“ und wird darüber aufgeklärt, dass der Schloon im Sommer „eigentlich nur ein kümmerliches Rinnsal“ sei, im Winter aber drücke „der Wind das Meerwasser in das kleine Rinnsal hinein, aber nicht so, dass man es sehen kann. Und das ist das Schlimmste von der Sache, darin steckt die eigentliche Gefahr. Alles geht nämlich unterirdisch vor sich und der ganze Strandsand ist dann bis tief hinunter mit Wasser durchsetzt und gefüllt. Und wenn man dann über solche Sandstelle wegwill, die keine mehr ist, dann sinkt man ein, als ob es ein Sumpf oder ein Moor wäre.“ (154)

Dann, wenige Sekunden vor Crampas’ Übergriff auf Effi, heißt es: Ein Zittern überkam sie, und sie schob die Finger fest ineinander, um sich einen Halt zu geben. Gedanken und Bilder jagten sich, und eines dieser Bilder war das Mütterchen in dem Gedichte, das die „Gottesmauer“ hieß (156). Dieses Gedicht[18] erzählt „eine kleine Geschichte, nur ganz kurz. Da war irgendwo Krieg, ein Winterfeldzug, und eine alte Witwe, die sich vor dem Feinde mächtig fürchtete, betete zu Gott, er möge doch einen Mauer um sie bauen, um sie vor dem Landesfeinde zu schützen. Und da ließ Gott das Haus einschneien, und der Feind zog daran vorüber“ (146f.). Rettung kommt dort folglich dadurch zustande, dass Gott Witwe und Haus buchstäblich klaftertief im Schnee versinken lässt. Das Versinken ist also, wie die meisten Bilder Fontanes, durchaus doppeldeutiger Natur: ob Untergang oder Rettung, oder Rettung durch Untergang (wie hier und am Ende des Romans), das entscheidet der jeweilige Kontext. Auch diese Ambivalenz begegnet dem Leser bereits im ersten Kapitel des Romans: „Flut, Flut, mach alles wieder gut“ singen die drei Mädchen, während sie ihre Stachelbeertüte „auf offener See begraben“, und Effi konstatiert zufrieden: „Hertha, nun ist deine Schuld versenkt“ (12).

Am Morgen nach der ersten Liebesszene mit Crampas schließlich berichtet der inzwischen argwöhnisch gewordene Innstetten von einem (angeblichen) Traum, den er in derselben Nacht gehabt habe: „Ich träumte, daß du mit dem Schlitten im Schloon verunglückt seist, und Crampas mühte sich, dich zu retten; ich muß es so nennen, aber er versank mit dir.“ (157) Dass er mit dieser Vision Effis schlechtes Gewissen und ihre ohnehin schon vorhandene Schuldgefühle noch verstärkt, versteht sich von selbst. Aber wieder winkt Rettung durchs Versinken, wenn auch nur vorübergehend, denn eine Woche nach jener Nacht kommt vom Kessiner Hafen die Nachricht, dass ein Schiff in Seenot geraten sei und vor der Mole zu versinken drohe. Effi und Innstetten eilen zum Strand und beobachten, wie man ein Fangseil zu den Schiffbrüchigen hinüberschießt und diese mit einem Korb einzeln an Land zu hieven beginnt. Alle wurden gerettet, und Effi hätte sich, als sie nach einer halben Stunde mit ihrem Mann wieder heimging, in die Dünen werfen und sich ausweinen mögen. Ein schönes Gefühl hatte wieder Platz in ihrem Herzen gefunden, und es beglückte sie unendlich, dass es so war. (163)

Die Kreatur

Dem “Naturkind” (35) Effi hat Fontane zur Illustrierung ihrer Natürlichkeit nicht nur eine Vielzahl von Naturbildern gewidmet, sondern mit dem Neufundländer Rollo und dem Kindermädchen Roswitha auch zwei Wesen an die Seite gestellt, deren Kreatürlichkeit sich wohltuend von der Affektiertheit der sonstigen Kessiner Gesellschaft abhebt. Wie sehr beide funktional tatsächlich zusammengehören, versucht der Autor durch mehrere Parallelen zu verdeutlichen.

Ein Neufundländer,
Symbol für Schutz und Treue

Das beginnt schon beim anaphorischen Gleichklang ihrer Namen, die im nordischen Kessin obendrein beide recht sonderbar (108) klingen.[19] Es geht weiter mit der vom Autor immer wieder betonten Mittlerrolle, die beide zwischen Effi und Innstetten wahrnehmen,[20] und endet mit der Schutzfunktion[21] und bedingungslosen Loyalität, die beide gegenüber Effi einnehmen und die auch in schweren Zeiten nicht endet: Als Effi in ärmlichen Verhältnissen lebt und Roswitha nur mehr spärlich entlohnen kann, ist jene dennoch bereit, zu ihr zu stehen und bei ihr zu bleiben. Nachdem Effi gestorben ist und Rollo sein Fressen verweigert und täglich auf ihrem Grabstein liegt, findet sich auch zu diesem Verhalten eine fast wörtliche (dem Sinn nach gegensätzliche) Parallele zu Roswitha: Als diese erklären will, warum sie nach dem Tod ihrer früheren Herrin, die zänkisch und geizig war, nicht einfach auf dem Friedhof „sitzen bleiben und warten wolle, bis sie tot umfalle“, sagt sie: „dann würden die Leute noch denken, ich hätte die Alte so geliebt wie ein treuer Hund und hätte von ihrem Grabe nicht weggewollt und wäre dann gestorben.“ (106) Bezeichnenderweise ist es Roswitha, die gleichsam instinktiv als erste bemerkt, dass es mit Effi zu Ende geht - „ich weiß nicht, mir ist, als ob es jede Stunde vorbei sein könnte“ (284) - und bezeichnenderweise ist es Rollo, der ihr selbst über den Tod hinaus die Treue hält, sodass der alte Briest erkennt, wie sehr die Kreatur dem Menschen letztlich überlegen ist: „Ja, Luise, die Kreatur. Das ist ja, was ich immer sage. Es ist nicht so viel mit uns, wie wir glauben. Da reden wir immer von Instinkt. Am Ende ist es doch das Beste.“ (286) Ähnliches hatte schon Innstettens Freund über Roswitha gesagt, als er deren Bittbrief gelesen hatte:
„Ja“, sagte Wüllersdorf, als er das Papier wieder zusammenfaltete, „die ist uns über.“ (278)

Figurenübersicht

Figurenübersicht zu Fontanes Effi Briest

Literarisches Umfeld

Effi Briest gehört in die lange Reihe Fontanescher Gesellschaftsromane, die ihre literarische Besonderheit dem leichten Ton der Erzählung und dem Verzicht auf Anklage oder Schuldzuweisung bei gleichzeitig scharfem Blick auf die gesellschaftliche und historische Situation verdanken. Wenn Innstetten den Verführer Crampas in einem Duell tötet, das nur noch sinnentleertes Ritual ist, und seine Frau wegen der selbst für ihn bedeutungslosen Liaison aus Prinzipienreiterei (236) verstößt, darf man darin keine einseitige Verurteilung des preußischen Adligen oder gar der Gesellschaft sehen. Wie differenziert der Autor selbst diese Frage beurteilt, ist unter anderem an Innstettens diesbezüglichem Gespräch mit seinem Freund Wüllersdorf abzulesen, der hier als Sprachrohr Fontanes betrachtet werden kann. Effi verzeiht ihrem Mann, und ihre Mutter mutmaßt, sie sei bei der von ihr forcierten und protegierten Heirat „doch vielleicht zu jung“ (287) gewesen. So entsteht ein komplexes Lebens- und Sittenbild der untergehenden altpreußischen Gesellschaft. Fontanes Werk kann auch unabhängig von preußischen Gegebenheiten als allgemeinere Betrachtung des Konfliktes zwischen Individuum und gesellschaftlichem Zwang betrachtet werden. Dies alles offenbart sich in Plaudereien der Figuren und einem fast beiläufigen Erzählton, bei dem es gilt, sozusagen zwischen den Zeilen zu lesen, denn Fontane bekannte, es komme ihm nicht auf das Was, sondern auf das Wie an.

Das heißt allerdings nicht, dass der Erzähler alles gut hieße, was seine Figuren tun. Der Ehrbegriff der Zeit zum Beispiel, der sich im literarischen Motiv des sinnlosen und illegalen Duells äußert, wird im Werk Fontanes immer wieder in verschiedenen Spielarten (zum Beispiel der todbringenden Mesalliancen im Schach von Wuthenow) aufgegriffen. Mit dem Duell-Motiv findet sich Fontane in Gesellschaft etwa Arthur Schnitzlers, der die Sinnlosigkeit des Ehrbegriffes in Leutnant Gustl (1900) satirisch zuspitzt, während für den jungen Offizier Zosima in Dostojewskis Die Brüder Karamasow (1879–80) das Duell geradezu zum Wendepunkt seines Lebens wird: Er verzichtet darauf zu schießen und wird zum frommen Einsiedler.

Literaturwissenschaftlich gesehen steht Fontanes Effi Briest auch in der speziellen Tradition des Liebes- oder Verführungsromans, vergleichbar etwa mit Madame Bovary von Gustave Flaubert oder Anna Karenina von Leo Tolstoi.[22]

Hintergrund

Der Bezug zum Leben der Elisabeth von Plotho liegt nahe.[23] Fontane veränderte allerdings viele Details, nicht nur um die Privatsphäre der Beteiligten zu wahren, sondern auch um den Effekt dramaturgisch zu verstärken: Elisabeth von Plotho, die spätere Baronin von Ardenne, heiratete ihren Mann nicht mit 17, sondern erst mit 19 Jahren, und er war auch nur fünf und nicht zwanzig Jahre älter als sie. Zudem hatte sie ihr Verhältnis nicht nach einem, sondern nach zwölf Jahren Ehe, und ihr Mann erschoss den Liebhaber nicht sehr viel später, sondern als das Verhältnis noch andauerte. Nach der Scheidung zog sich die Frau, wie Fontane auch wusste, keineswegs aus dem Leben zurück, sondern wurde berufstätig. Sie starb erst 1952, im Alter von 98 Jahren.

Verfilmungen

Von den ersten Jahren des Tonfilms bis zur heutigen Zeit ist Fontanes Erfolgsroman insgesamt fünfmal verfilmt worden:

  1. Der Schritt vom Wege, Deutschland 1939, 97 Minuten
    Regie: Gustaf Gründgens
    Darsteller: Marianne Hoppe (Effi), Karl Ludwig Diehl (Innstetten), Paul Hartmann (Crampas), Paul Bildt (Briest), Käthe Haack (Frau von Briest), Max Gülstorff (Gieshübler), Hans Leibelt (Wüllersdorf), Elisabeth Flickenschildt (Tripelli), Renée Stobrawa (Roswitha)
  2. Rosen im Herbst BRD 1955, 103 Minuten
    Regie: Rudolf Jugert
    Darsteller: Ruth Leuwerik (Effi), Bernhard Wicki (Innstetten), Carl Raddatz (Crampas), Paul Hartmann (Briest), Lil Dagover (Frau von Briest), Günther Lüders (Gieshübler), Hans Cossy (Wüllersdorf), Lola Müthel (Tripelli), Lotte Brackebusch (Roswitha), Margot Trooger (Johanna)
  3. Effi Briest, DDR 1968, 120 Minuten
    Regie: Wolfgang Luderer
    Darsteller: Angelica Domröse (Effi), Horst Schulze (Innstetten), Dietrich Körner (Crampas), Gerhard Bienert (Briest), Inge Keller (Frau von Briest), Walter Lendrich (Gieshübler), Adolf Peter Hoffmann (Wüllersdorf), Marianne Wünscher (Tripelli), Lissy Tempelhof (Roswitha), Krista Siegrid Lau (Johanna), Lisa Macheiner (Ministerin)
  4. Fontane Effi Briest, BRD 1974, 140 Minuten
    Regie: Rainer Werner Fassbinder
    Darsteller: Hanna Schygulla (Effi), Wolfgang Schenk (Innstetten), Ulli Lommel (Crampas), Herbert Steinmetz (Briest), Lilo Pempeit (Frau von Briest), Hark Bohm (Gieshübler), Karl-Heinz Böhm (Wüllersdorf), Barbara Valentin (Tripelli), Ursula Strätz (Roswitha), Irm Hermann (Johanna)
  5. Effi Briest, Deutschland 12. Februar 2009, 117 Minuten
    Regie: Hermine Huntgeburth
    Darsteller: Julia Jentsch (Effi), Sebastian Koch (Innstetten), Mišel Matičević (Crampas), Juliane Köhler (Frau von Briest), Thomas Thieme (Briest), Barbara Auer (Johanna), Margarita Broich (Roswitha), Rüdiger Vogler (Gieshübler)

Literatur

Titelblatt und Verlagsanzeigen der ersten Buchausgabe

Textausgaben

  • Theodor Fontane: Effi Briest. Roman. [Vorabdruck] In: Deutsche Rundschau, Band 81, Oktober bis Dezember 1894, S. 1-32, 161-191, 321-354, Band 82, Januar bis März 1895, S. 1-35, 161-196, 321-359.
  • Theodor Fontane: Ausgewählte Werke. Romane und Erzählungen in 10 Bänden, Band 8: Effi Briest. München: Goldmann (1966)
  • Theodor Fontane: Effi Briest. Mit einem Nachwort von Kurt Wölfel Stuttgart: Reclam (1969/1991). ISBN 3-15-006961-0
  • Theodor Fontane: Effi Briest. Mit Materialien. Ausgewählt und eingeleitet von Hanns-Peter Reisner und Rainer Siegle. Stuttgart/Düsseldorf/Berlin/Leipzig: Klett (1984). ISBN 3-12-351810-8

Sekundärliteratur

  • Josef Peter Stern: Effi Briest / Madame Bovary / Anna Karenina. In: Modern Language Review 52(1957), S. 363-375.
  • Peter Demetz: Formen des Realismus: Theodor Fontane. Kritische Untersuchungen. Hanser, München 1964.
  • Dietrich Weber: "Effi Briest" - "Auch wie ein Schicksal". Über den Andeutungsstil bei Fontane. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts NF (1966), S. 457-474.
  • Richard Brinkmann: Theodor Fontane. Über die Verbindlichkeit des Unverbindlichen. Pieper, München 1967.
  • Ingrid Mittenzwei: Die Sprache als Thema. Untersuchungen zu Fontanes Gesellschaftsromanen. Gehlen, Bad Homburg/Berlin/Zürich 1970.
  • Walter Schafarschik (Hg.): Theodor Fontane. Effi Briest. Erläuterungen und Dokumente. Reclam, Stuttgart 1972. ISBN 3-15-008119-X.
  • Lutz Röhrich: Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Herder, Freiburg/Basel/Wien 1973. ISBN 3-451-17789-7.
  • Cordula Kahrmann: Idyll im Roman: Theodor Fontane. Fink, München 1973.
  • Carl Liesenhoff: Fontane und das literarische Leben seiner Zeit. Bouvier, Bonn 1976.
  • Anselm Salzer u. Eduard v. Tunk: Theodor Fontane. In: Dies., Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur, Band IV (Vom Realismus zum Naturalismus), Naumann & Göbel, Köln (1984). S. 227-232. ISBN 3-625-10421-0
  • Elsbeth Hamann: Theodor Fontane, Effi Briest. Interpretation. 4. Auflage, Oldenbourg, München 2001. ISBN 3-486-88602-9.
  • Norbert Berger: Stundenblätter Fontane „Effi Briest“. Klett, Stuttgart 2004. ISBN 3-12-927473-1.
  • Jörg Ulrich Meyer-Bothling: Klausurtraining Effi Briest. Klett, Stuttgart 2008. ISBN 978-3-12-352445-5.
  • Manfred Mitter: Theodor Fontane, Effi Briest, Interpretationsimpulse. Merkur, Rinteln. Textheft: ISBN 978-3-8120-0849-5, CD-ROM: ISBN 978-3-8120-2849-3.
  • Heide Rohse: Arme Effi – Widersprüche geschlechtlicher Identität in Fontanes „Effi Briest“. In: Heide Rohse: Unsichtbare Tränen. Effi Briest – Oblomow – Anton Reiser – Passion Christi. Psychoanalytische Literaturinterpretationen zu Theodor Fontane, Iwa A. Gontscharow, Karl Philipp Moritz und Neuem Testament. Königshausen & Neumann, Würzburg 2000, S. 17-31. ISBN 3-8260-1879-6

Quellen

  1. Literaturverzeichnis Fontane bei zeno.org
  2. Anselm Salzer u.a., a.a.O., S. 227f.
  3. Wie so häufig bei Fontane, sind es auch in Effi Briest Monotonie und Langeweile, die den Stein des Unglücks ins Rollen bringen. Dabei steht für Effi schon vor der Ehe fest, dass die Vermeidung von Langeweile durch Zerstreuung zu den unabdingbaren Zutaten einer "Musterehe" (29) gehört: Liebe kommt zuerst, aber gleich dahinter kommt [sic] Glanz und Ehre, und dann kommt Zerstreuung - ja Zerstreuung, immer was Neues, immer was, daß ich lachen oder weinen muß. Was ich nicht aushalten kann, ist Langeweile. (30)
  4. Brief vom 12. Juni 1895 an eine "Bekannte", zitiert nach Schafarschik, a.a.O., S.110.
  5. Fontane spielt hier an auf die Redewendung "aus dem Nähkästchen plaudern", eine modernere Form der Redewendung "aus der Schule plaudern" (= "von Dingen reden, die eigentlich Geheimnisse eines bestimmten Kreises sind", s. Röhrich, a.a.O., S.898). Er verwendet also eine bereits existierende sprachliche Form, die schon vor Effi Briest üblich war, und kreiert sie nicht erst.
  6. Dieser Zufall wird bezeichnenderweise dadurch ausgelöst, dass sich die kleine Tochter Annie beim Spiel eine blutende Stirnwunde zuzieht, für die nun schnellstens ein Verband gesucht werden muss, der sich dann auch (un)glücklich in jenem verschlossenen Nähkästchen findet: nicht nur eine sehr verräterische Koinzidenz (vgl. dazu den obigen Abschnitt "Symbolische Motive"), sondern auch ein Beweis dafür, dass ihr Vater Recht hat, wenn er bei ihr eine ursprünglich sehr große Ähnlichkeit mit ihrer temperamentvollen Mutter feststellt (Du bist so wild, Annie, das hast du von der Mama. Immer wie ein Wirbelwind, 273), und ein vielsagender Hinweis darauf, wie massiv Innstetten später seine Tochter zum stillen und braven Püppchen umerzieht, das sich nur noch verlegen bewegt und mechanisch wiederholt, was man ihr eingetrichtert hat (265f.).
  7. A.a.O., S.287, aber auch S.35, 38, 40, und S.116, wo diese Redensart gleich zweimal zitiert wird.
  8. Kurt Wölfel: Nachwort zu: Theodor Fontane: Effi Briest. Reclam, Stuttgart 1991, S.340.
  9. Vgl. zu Fontanes Omissionsstil auch die Arbeit von Dietrich Weber, s.o. unter "Sekundärliteratur".
  10. Peter Demetz, a.a.O., S. 215.
  11. So Fontane in seinem Brief an Josef Viktor Widmann vom 19. November 1895. Zitiert nach: Theodor Fontane: Effi Briest. Mit Materialien. Ausgewählt und eingeleitet von Hanns-Peter Reisner und Rainer Siegle. Reclam, Stuttgart 1994, S. 347.
  12. Allerdings belässt es Innstetten verräterischerweise nicht bei der bloßen Feststellung, dass die ganze Stadt aus solchen Fremden bestehe (S. 43), sondern deutet bereits vor der Ankunft in Kessin wiederholt an, dass dort alles unsicher sei und man sich vor den Kessiner vorsehen müsse (S. 43).
  13. Crampas, der Innstetten und dessen Vorliebe für "Gruselgeschichten" von früher her gut kennt, spricht diesen Verdacht offen aus. (S. 129)
  14. Kokett klagt sie ihre Mutter an: „Du bist schuld [...] Warum machst du keine Dame aus mir?“, a.a.O., S. 7
  15. „Er Innstetten will mir ja schon Schmuck schenken in Venedig. Er hat keine Ahnung davon, dass ich mir nichts aus Schmuck mache. Ich klettere lieber und ich schaukle mich lieber, und am liebsten immer in der Furcht, dass es irgendwo reißen oder brechen oder ich niederstürzen könnte. Den Kopf wird es ja nicht gleich kosten.“ A.a. O., S. 32
  16. Cordula Kahrmann, a.a.O., S. 126.
  17. Cordula Kahrmann, a.a.O., S. 127.
  18. Das Gedicht „Die Gottesmauer“ gibt es tatsächlich als Ballade von Clemens Brentano, die im Jahre 1831 entstand und 1855 zum ersten Mal gedruckt wurde.
  19. Roswitha selbst thematisiert dies, als sie zum ersten Mal von Rollo hört: „Rollo; das ist sonderbar […] Ich habe auch einen sonderbaren Namen […] Ich heiße Roswitha.“ (108);
  20. Rollo ist zunächst ausschließlich Innstettens Tier, das ihn liebt. Es wird aber auch Effi lieben (45) und später ganz zu ihrem Hund werden. Und Roswitha wird diejenige sein, die den Brief an Innstetten schreibt (278), um für die verstoßene Effi darum zu bitten, ihr den alten Rollo als Mittel gegen Furcht und Einsamkeit zu schicken.
  21. Eine Funktion, die ihm Innstetten von vornherein zuteilt: „solange du den [Rollo] um dich hast, so lange bist du sicher und kann nichts an dich heran, kein Lebendiger und kein Toter.“ (45)
  22. Einen Vergleich der drei Romane bietet Josef P. Stern, s.o. unter "Sekundärliteratur" a.a.O.
  23. Gotthard Erler: Elisabeth von Ardenne – die reale Effi Briest, in: Preußens Frauen. Schriften Brandenburg-Preußen-Museum 4, Wustrau 2009, S. 22–23 und 56–67

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