Doppelmoral

Der Ausdruck Doppelmoral bezeichnet ein ethisch vorwerfbares Verhalten, das „mit zweierlei Maß“ misst und Werturteile hinsichtlich eigener Bedürfnisse nicht befolgt. Dieser Vorgang muss nicht zwingend dem Handelnden auch bewusst sein.

Auswirkungen in Politik und Gesellschaft

Doppelmoral gibt es in allen Bereichen der Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und vielen anderen Bereichen, in denen zweierlei Maß angelegt wird.

„Eine Demokratie erster Klasse darf sich keine Bürger zweiter Klasse leisten.“ Damit wies Martin Luther King auf gewisse rassistische Tendenzen in den USA hin. Eine ähnliche Problematik gab es mit der Apartheid in Südafrika. Aber auch die Ungleichbehandlung von Frauen zum Beispiel beim Wahlrecht zeigte eine Doppelmoral.

So werden in den öffentlichen Medien mit dem Gestus der Empörung Gewalt- oder Sexualdelikte angeprangert. Zugleich werden die Geschehnisse mit einschlägigen Abbildungen illustrativ dargestellt. Damit werden ein verbreitetes Sensationsbedürfnis und der allgemeine Voyeurismus bedient.

Eine bekannte Metapher für individuelle Doppelmoral findet sich schon im Neuen Testament. Jesus kritisiert hier, dass man wohl den Splitter im Auge seines Nächsten sieht, aber nicht den Balken im eigenen Auge.

Diese weit verbreitete Form von Doppelmoral wird in der Psychoanalyse auch als Projektion bezeichnet.

Zunächst wurde der Begriff Doppelmoral dafür verwendet, die im Patriarchat unterschiedlichen Normen für das Sexualverhalten von Männern und Frauen anzuprangern. So wird es zum Beispiel häufig als normal angesehen, dass junge Männer frühzeitig viele unterschiedliche sexuelle Abenteuer mit verschiedenen Frauen erleben, demgegenüber Frauen sich mit der gleichen Verhaltensweise möglicherweise den Ruf ruinieren und als „Schlampe“ angesehen werden. Andererseits gibt es die verbreitete Darstellung in den Massenmedien, dass Frauen mit gewissen Charaktereigenschaften, die früher als typisch männlich angesehen wurden (wie zum Beispiel Durchsetzungsvermögen, sexuelle Aktivität und physische Stärke) als durchaus modern und bewundernswert anzusehen seien. Männer hingegen, die diese Eigenschaften aufweisen, werden häufig als altmodische Machos ausgewiesen; und Männer, die weiblich zugeschriebene Stärken übernehmen (wie zum Beispiel Empathie, dienende Orientierungen und anderen), werden unter androzentrischen soziokulturellen Bedingungen häufig insbesondere von anderen Männern abgewertet.

Beispielsweise wird in der Berichterstattung über Gewaltverbrechen an Frauen inzwischen in der westlichen Welt seriös vorgegangen, während Gewalt an Männern oftmals nicht ganz ernst genommen wird. Sind nämlich Männer Opfer einer Gewalttäterin, wird das in den entsprechenden Presseberichten manchmal sogar mit einem gewissen schwarzen Humor kommentiert. Auch wird darüber hinaus von Feministinnen die Forderung erhoben, Frauen nicht mehr mit Gefängnisstrafen zu belegen und bereits inhaftierte Frauen zu entlassen, da sie aufgrund ihres Geschlechts nicht zur kriminellen Klasse gehören würden. Vergleichbare Erwägungen bezüglich des männlichen Geschlechts stehen dagegen nicht zur Diskussion.

Besonderes Augenmerk auf die Doppelmoral legt George Orwell in seinem Buch 1984. Hier handelt die totalitär herrschende Partei aus rein opportunistischen Beweggründen und legt alles zu ihren Gunsten aus. In 1984 wird dies als Doppeldenk bezeichnet; Orwell prangert damit totalitäre Staatssysteme an, welche nur vordergründig nach festen Prinzipien agieren. Beispiele hierfür sind der Nationalsozialismus bzw. Faschismus sowie die sozialistischen Herrschaftsformen.

Doppelmoral ist bezüglich der Bewertung kriminellen Verhaltens in der Gesellschaft besonders weit verbreitet: die kriminologische Dunkelfeldforschung kommt zu dem Ergebnis, dass rund 90 Prozent aller Menschen in ihrer Jugend mindestens einmal schon etwas kriminelles getan haben. Der Bürger lehnt auf Befragen zwar „selbstverständlich“ Kriminalität ab, verstößt aber zu seinem Vorteil gleichzeitig fortwährend gegen alle möglichen sozialen Normen. So belegt die Forschung beispielsweise, dass 75 Prozent der Angestellten im Einzelhandel mindestens einmal schon etwas gestohlen haben.

Wissenschaftliche Erkenntnisse

Doppelmoral findet sich besonders häufig bei Menschen, die sich selber in den entsprechenden Bereichen als untadelig ausgeben. So konnte in psychologischen Experimenten festgestellt werden, dass Menschen, die sich selbst als moralisch besonders integer beschrieben, tatsächlich weniger Geld spendeten als andere, die ein tendenziell kritisches Bild von ihrer Persönlichkeit hatten. Gerade das Vertreten bestimmter Werturteile kann offenbar zur Inanspruchnahme von entsprechend mehr Freiraum für sich selbst führen, so dass das tatsächlich gezeigte Verhalten mit der dargelegten Einstellung im Widerspruch steht.[1]

Weitere Beispiele

Die gemeinhin als „Falken“ bekannten us-amerikanischen Neokonservativen sind als schnelle Befürworter von mit Militäreinsätzen verbundenen Maßnahmen bekannt. Jedoch fallen viele von ihnen gerade dadurch auf, dass sie sich selbst dem Militärdienst auf vielfältige Weise entzogen haben.

Der tschechoslowakische Ministerpräsident Edvard Beneš tat sich angesichts des italienischen Überfalls auf Äthiopien als besonders energischer Fürsprecher wirtschaftlicher Sanktionen hervor, nahm die eigene Ausfuhr nach Italien jedoch davon aus.

Religiöse und konservative Menschen, die eine repressive Sexualmoral vertreten, kaufen mehr Pornos als liberal eingestellte.[2]

Im August 2009 wurde vom Spiegel aufgedeckt, dass die katholische Pax-Bank in Fonds investiert hatte, in denen unter anderem auch Rüstungs- und Tabakkonzerne sowie Pharmaziehersteller, die auch Verhütungsmittel produzieren, vertreten sind und daher gegen den von der Bank als Leitlinie ausgegebenen christlichen Ethik-Kodex verstießen.

Zitat

„Die gesamte kulturelle Mentalität bei uns, repräsentiert durch Bush oder durch Jung oder durch Schäuble, ist eingestellt auf eine gespaltene Welt. Und wenn man sich den ersten Kreuzzug mal anschaut, dann war das schon damals ganz genauso.“

Horst Eberhard Richter im Interview mit der taz

Sprichwort

Quod licet Iovi, non licet bovi.

Literatur

  • Johannes Ninck: Moral, Unmoral, Doppelmoral im Lichte neuester Erhebung. Zum Nachdenken dargeboten. Vogel, Winterthur 1936, S. 40.
  • Ira L. Reiss: Freizügigkeit, Doppelmoral, Enthaltsamkeit. Verhaltensmuster der Sexualität. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1970, ISBN 3-499-68029-7 (Originaltitel: Premarital sexual standards in America. Übersetzt von Hedda Haag, rororo-Taschenbuch 8029/8030 - rororo-sexologie, 220 Seiten).
  • Peter Dittmar: Ost gut, West schlecht. Über Doppelmoral und gespaltenes Bewußtsein in der Politik. Tiberius, Köln 1977 (ohne ISBN, 153 Seiten).
  • Günter Heußner: Ich, das Bauernopfer. Die Doppelmoral in der Kommunalpolitik und ihre Auswirkungen. Book on demand von Günter Heußner, Bad Neustadt (Wagstadter Str. 15) 2002, ISBN 3-8311-4160-6 (141 Seiten).
  • Ahmet Toprak: Das schwache Geschlecht - die türkischen Männer. Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre. Lambertus, Freiburg im Breisgau 2005, ISBN 3-7841-1609-4 (187 Seiten).

Siehe auch

Einzelnachweise

  1. Süddeutsche Zeitung: Leben mit der Doppelmoral. 13. August 2009.
  2. Basler Zeitung: Konservative kaufen mehr Pornos. 5. März 2009.