Dependenztheorie

Die Dependenztheorie (von span. dependencia bzw. port. dependência – Abhängigkeit) ist eine Mitte der 1960er Jahre in Lateinamerika entstandene Gruppe von in ihren Grundannahmen eng verwandten Entwicklungstheorien, die die Existenz hierarchischer Abhängigkeiten (Dependenzen) zwischen Industrie- (Metropolen) und Entwicklungsländern (Peripherien) betonen.

Hauptvertreter

Bekannte Vertreter der Dependenztheorie sind Fernando Henrique Cardoso, André Gunder Frank, Raúl Prebisch, Dieter Senghaas und der Zürcher Soziologe Volker Bornschier. Anknüpfungspunkte ergeben sich zu den Imperialismustheorien Lenins, Rosa Luxemburgs und Samir Amins.

Die Dependenztheorie wurde darüber hinaus insbesondere von der Befreiungstheologie aufgegriffen, die in ihr eine auf die lateinamerikanischen Verhältnisse zugeschnittene sozioökonomische Analyse sahen, welche der klassische Marxismus nicht zu leisten vermochte.

Hauptaussagen

Ursache für die Unterentwicklung von Ländern seien nicht innere, sondern äußere Faktoren, wie insbesondere der Kolonialismus. Durch Machtausübung gelinge es den weiter entwickelten Ländern, die weniger entwickelten Länder auch weiterhin arm zu halten. Mit dieser Aussage stellen sich die Abhängigkeitstheorien bewusst in Gegensatz zu den Modernisierungstheorien, die in inneren Faktoren, z. B. bestimmten kulturellen Gewohnheiten, die Ursache des niedrigeren Entwicklungsstandes sehen.

Diese Machtausübung funktioniere durch ungleiche Handelsbedingungen (Terms of Trade). Beispiele dafür wären:

  • Niedrige Löhne in Entwicklungsländern
  • Technologieexporte aus Industrieländern in Entwicklungsländer
  • Rohstoffexporte aus Entwicklungsländern in Industrieländer
  • Transfer der in Entwicklungsländern erzielten Gewinne durch Unternehmen aus Industrieländern in Industrieländer

Wichtig ist dabei die Tatsache, dass die Dependenztheorie davon ausgeht, dass die Preise für Rohstoffe und Agrargüter im Zeitverlauf eher fallen, während die von Fertigwaren, insbesondere hochwertigen Industrieprodukten, eher steigen. Dadurch verschlechtern sich die Austauschbedingungen (also z. B. wie viele Säcke Kaffee ein Entwicklungsland exportieren muss, um einen Traktor zu finanzieren) immer mehr. Diese Austauschbedingungen sind im engeren Sinne die Terms of Trade.[1]

Kritik

Der wesentliche Kritikpunkt an den Dependenztheorien ist, dass sie die Ursachen des niedrigeren Entwicklungsstandes nur in den Außenhandelsbedingungen, nicht aber in den internen Bedingungen und politischen Entscheidungen der Entwicklungsländer suchen. Mit Hilfe der Dependenztheorien wurde versucht, die anhaltende Unterentwicklung des afrikanischen und lateinamerikanischen Raumes im Vergleich zu den klassischen Industrieländern zu erklären. Der Erfolg einiger Schwellenländer widerspricht aber der Annahme einer grundsätzlich notwendigen Auseinanderentwicklung der Industrie- und Entwicklungsländer. Insbesondere der Aufstieg vor kurzem noch schwacher asiatischer Volkswirtschaften (Tigerstaaten, Pantherstaaten) lässt sich nur schwer mit den theoretischen Grundannahmen der Dependenztheorien in Einklang bringen. Für den afrikanischen Raum trifft die Analyse zwar zu, über die Ursachen dafür wird aber kontrovers diskutiert.

Eine weitere zentrale Kritik betrifft eine Lücke im Erklärungsmodell der Dependenztheorien: die Entstehung des Machtgefälles zwischen Industrie- und Entwicklungsländern. Wenn Industrieländer den Entwicklungsunterschied mittels Machtausübung zu stabilisieren versuchen, stellt sich die Frage nach der ursprünglichen Quelle dieses Machtgefälles. Für viele Autoren ist dies eine nach wie vor offene Frage, die weder von Modernisierungstheorien noch Abhängigkeitstheorien befriedigend beantwortet wird.

Die Kritik an den Dependenztheorien wurde teilweise innerhalb der ihnen zugehörigen Weltsystemtheorie aufgenommen.

Siehe auch

Literatur

  • Walther L. Bernecker/Thomas Fischer: Entwicklung und Scheitern der Dependenztheorien in Lateinamerika. In: Periplus 5. Jg., 1995, S. 98-118.
  • Oliver Alber von Köster: Umweltpolitik und Umweltschutzwirtschaft. Die ökoindustrielle Dependenzthese. 2000.
  • Franz Furger, Joachim Wiemeyer, Deutsche Bischofskonferenz, Sachverständigengruppe Weltwirtschaft und Sozialethik: Von der Dependenz zur Interdependenz. Bonn 1994.
  • Arno Tausch: Did recent trends in world society make multinational corporations penetration irrelevant? Looking back on Volker Bornschier's development theory in the light of recent evidence. In: Historia Actual On-Line, 6 (2005).
  • Cristóbal Rovira Kaltwasser: Die Dependencia-Schule im Kontext der Globalisierungsdiskussion. Ein Beitrag zur Überwindung der Diskontinuität in der lateinamerikanischen Sozialwissenschaft. InIIS-Arbeitspapier Nr. 26/03, Institut für Interkulturelle und Internationale Studien, Bremen 2003 (online).

Einzelnachweise

  1. Werner Storkebaum: Entwicklungsländer und Entwicklungspolitik. Braunschweig 1973, S. 21f.