Dame von Kelsterbach

Die Dame von Kelsterbach ist ein menschliches Schädel-Fragment mit einer umstrittenen Datierung, die diesen Fund zum angeblich ältesten Zeugnis der Cro-Magnon-Menschen machte, der frühesten Vertreter des Homo sapiens in Europa. Der Schädel erhielt die Archivnummer Fra-5.[1]

Der Fund

Mainufer bei Kelsterbach

Die Dame von Kelsterbach ist ein Schädeldach, das 1952 an der Kiesgrube Willersinn-Mönchwaldsee auf einer Main-Terrasse in Kelsterbach entdeckt und als das Fossil einer Frau interpretiert wurde. Die Fundstelle befand sich am Nordwestufer des Sees. Die Lage des Fundes im Fluss-Kies lässt darauf schließen, dass das Schädelfragment zusammen mit dem Kies durch den Fluss angetrieben wurde, also relativ zufällig dort zu liegen kam, wo es gefunden wurde. Die Fundstelle wies zwar eine Reihe von Begleitfunden auf,[2] für die jedoch das gleiche gilt. Befunde wurden nicht beobachtet oder nicht aufgezeichnet, der archäologische Befundkontext ist also extrem spärlich.

Es soll ein zweiter eiszeitlicher Schädelfund, 'Kelsterbach-2', am Mönchwaldsee vorliegen.[3]

Frühere Bewertung

Die Datierung des Fundes erfolgte durch den Anthropologen Reiner Protsch. Er behauptete, das Schädelfragment auf ein Alter von 31.000 Jahren datiert und damit als das eines jungpaläolithischen Cro-Magnon-Menschen bestimmt zu haben; dieser Fund galt bis 2003 als der älteste Nachweis eines Cro-Magnon-Menschen überhaupt.[4][5] Die Datierung wurde seit 1978 in der Fachliteratur wiederholt als gültig zitiert, zumal es auch zwei 14C-Datierungen durch Prof. Clemens Rainer Berger von der Universität Los Angeles gab, und zwar für Mammut-Knochen aus Schichten, die laut Protsch angeblich unmittelbar oberhalb des Schädel-Fundortes lagen; diese Knochen wurden auf ein Alter von 29.000 ± 1525 Jahren[6] bzw. 23.675 ± 869 Jahren[7] datiert.[8]

Heutige Bewertung

Seit Bekanntwerden der umfangreichen Falschdatierungen anthropologischer Funde durch Protsch, einer ganzen Fälschungsserie, und dem Beginn der staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen gegen ihn im Jahre 2004 ist der Schädel der Dame von Kelsterbach neben anderen „Fossilien“ verschwunden. Die frühere Datierung wird deshalb inzwischen angezweifelt. Die Universität Frankfurt am Main schließt aktuell einen Diebstahl durch Institutsangehörige nicht mehr aus, da nach Protschs Suspendierung noch mehrere Nachschlüssel im Umlauf waren.[9] Die Publikation von Fotos eines anderen Schädelfragments, das im selben Schrank, wie die Dame von Kelsterbach aufbewahrt wurde, veranlasste die Universität Frankfurt jedoch erneut zur Prüfung rechtlicher Schritte gegen Protsch.[10] Der Frankfurter Geologe Arno Semmel bekräftigt auch aus heutiger Sicht die Echtheit der damaligen Datierung. Die Radiokarbondatierung von 1978 stimme mit dem auf sonstige quartärgeologische Weise erschlossenen Alter überein. Semmel bestätigt ferner die Existenz von Beifunden (Mammuthus primigenius), die bereits 1960/1961 in unmittelbarer Nähe zur Schädelfundstelle gemacht wurden. [11] Auch der Frankfurter Paläoanthropologe Friedemann Schrenk will die Korrektheit der damaligen Datierung nicht mehr ausschliessen.[12]


Siehe auch

Literatur

  • Peter Blänkle. In: Senckenbergiana biol. 64 (1984), S. 241 ff.
  • Fritz-Rudolf Herrmann u. Albrecht Jockenhövel: Die Vorgeschichte Hessens. Konrad Theiss Verlag Stuttgart, 1990, ISBN 3-8062-0458-6 S. 420 f.
  • Reiner Protsch u. a. In: Eiszeitalter und Gegenwart 28 (1978), S. 200 ff.
  • Peter Blänkle. In: 'Ein menschlicher Schädel der Altsteinzeit aus Kelsterbach, Kreis Groß-Gerau', Wiesbaden 1993.
  • Reiner Protsch von Zieten, Axel von Berg: In: Collegium Anthropologicum (2002) S. 162 f.

Einzelnachweise

  1. Martin Street, Thomas Terberger und Jörg Orschiedt: A critical review of the German Paleolithic hominin record. Journal of Human Evolution, Band 51 (6), S. 551–579, doi:10.1016/j.jhevol.2006.04.014; Volltext (PDF), S. 71
  2. Protsch/Semmel (1978) berichten über einen Mammutmolar. R. Protsch, A. Semmel: Zur Chronologie des Kelsterbach-Hominiden, des ältesten Vertreters des Homo sapiens sapiens in Europa. Eiszeitalter und Gegenwart, Band 28, 1978, S. 200–210.
  3. R. Protsch von Zieten und A. von Berg: New Upper Paleolithic Finds of Neanderthal and H. Sapiens Sapiens From the Provinces of Rheinland-Palatinate and Hessia, Germany. In: Hubert Maver, Pavao Rudan (Hrsg.): Collegium Antropologicum. 13th Congress of the European Anthropological Association, Zagreb, August, 2002. Coands, Band, Supplement, 2002, S. 162 f. (Als Volltext-PDF im Web auffindbar unter dem Dateinamen hrcak.srce.hr/file/44417.)
  4. E. Trinkaus et al.: "Early modern human cranial remains from the Petera cu Oase, Romania". In: Journal of Human Evolution. Band 45, 2003, S. 255–259.
  5. E.Trinkaus et al.: An early modern human from the Peştera cu Oase, Romania
  6. Datierungsnummer UCLA-2361
  7. Datierungsnummer UCLA-2359
  8. Reiner R. R. Protsch: Radiocarbon Dating of Bones. In: Michael R. Zimmerman, J. Lawrence Angel (Hrsg.): Dating and Age Determination of Biological Materials. Croom Helm Ltd., Beckenham 1986, S. 29, ISBN 0-7099-0470-3, Textauszüge bei Google Books
  9. hr-online.de vom 19. Oktober 2009: Wissenschafts-Krimi – „Alte Dame“ aus Rache geklaut? von Volker Siefert.
  10. hr-online.de vom 25. Januar 2010: Hat Schädel-Fälscher alte Dame doch? von Volker Siefert.
  11. [ http://www1.uni-hamburg.de/helmut-ziegert/pdf/publications/other/BfU-InterviewWolfSemmel(2009).pdf] vom 19. November 2009: „Kein Zweifel am Alter der Dame von Kelsterbach“ von Arno Semmel und Frank Wolf.
  12. F.A.Z. vom 09. März 2010: „Das Kabinett des Professor Seltsam“ von Sascha Zoske. In: Rhein-Main-Zeitung, Nr. 57, Seite 40