Christoph Wirsung

Christoph WIRSUNG Vor fast 450 Jahren erschien in Heidelberg ein Buch, das auf über 700 großformatigen Seiten das pharmazeutisch-medizinische Wissen der Zeit zusammenfasste. Das Kurfürst Friedrich III. von der Pfalz (1515-1576) dedizierte, prächtig gebundene „Artzney Buch“ verdankt sich der Sammelleidenschaft des Augsburger Apothekers Christoph Wirsung (1500-1571). Wirsung verbrachte den Lebensabend bei seiner ältesten Tochter in Heidelberg und ordnete, übersetzte und kommentierte dort seine umfangreiche Rezeptsammlung. Sein „Artzney Buch“ von 1568 sollte zu einem geschätzten Nachschlagwerk werden; es erlebte mehrere Auflagen und wurde auch im Ausland gelesen. Christoph Wirsung wurde im Jahr 1500 in Augsburg geboren und stammte aus einer reichen Kaufmannsfamilie. Bereits sein Vater besaß eine Apotheke. Wirsung verbrachte als junger Mann mehrere Jahre in Italien, wo fließend Italienisch lernte und humanistische Interessen pflegte. Nach seiner Rückkehr nach Augsburg war er über 25 Jahre als Apotheker tätig und sammelte 45 Jahre lang Rezepte aus dem In- und Ausland. Nach dem Umzug zu seiner Tochter nach Heidelberg, begann Wirsung seine umfangreiche Rezeptsammlung (ca. 15 000 Rezepte) zu ordnen. Wirsung wollte mit seiner gedruckten Rezeptsammlung Stadt- und Landbevölkerung befähigen, Krankheiten richtig zu erkennen und einzuschätzen, und sie anleiten, die passenden Arzneien zur Heilung zu verwenden. Sein Buch sollte speziell dem medizinischen Laien nutzen. Besonders das Wohl der ärmeren Bevölkerung, die sich keine teuren Medikamente leisten konnte, lag ihm am Herzen: Er wollte, wie er nachdrücklich schreibt, nicht nur über kostspielige Arzneien informieren, sondern auch Mittel für den schmaleren Geldbeutel bieten. Die Selbstmedikation als Behandlungsmethode war durchaus üblich und weit verbreitet; dabei verwendete man Medikamente, die man im Haus anfertigen konnte, um Erkältungen, Magenverstimmungen, Verdauungsbeschwerden, Kopfschmerzen, Würmer, Haut- und Augenentzündungen zu kurieren. Wirsung gliederte sein „Artzney Buch“ nach der klassischen „a capite ad calcem“-Ordnung (vom Kopf zu den Füßen) in vier Teile, in denen Kopf, Brust, Bauch und die in ihnen liegenden Organe sowie die Gliedmaßen und ihre Krankheiten behandelt werden. Angefügt sind noch vier weitere Teile, in denen Hautkrankheiten, Fieber als eigenständige Krankheit, die Pest und Vergiftungen beschrieben werden; angehängt ist ein achter Teil, in dem Lebkuchen, Gewürzweine, Öle, Lebens- und Goldwässer mit ausführlichen Herstellungsanleitungen beschrieben werden. Die den einzelnen Krankheiten gewidmeten Abschnitte, in denen Ursache und Behandlung der Beschwerden erläutert werden, folgen immer dem gleichen schematischen Aufbau: Jeder Abschnitt beginnt mit einem theoretischen Teil, in dem Wirsung zunächst Anatomie und humoralpathologische Konstitution (Komplexion) des gesunden und kranken Organs erläutert und Ätiologie und Symptome der Krankheit erklärt. Bemerkenswert ist, dass Wirsung in diesem theoretischen Teil seinen Leser gelegentlich sogar über unterschiedliche Lehrmeinungen medizinischer Kapazitäten informierte. Die theoretischen Erläuterungen heben Wirsungs Werk weit über ein übliches deutsches Arzneibuch der Zeit hinaus und


machten es für den Leser gleichermaßen zu einem medizinischen Lehrbuch. Diesem ersten theoretischen Teil folgt der zweite therapeutisch-praktische Teil. Dieser beginnt immer mit Vorschlägen für evakuierende Maßnahmen, das heißt es werden Purgationen (Reinigungen) in unterschiedlichen Variationen und Stärken empfohlen, wobei erweichende oder abführende Maßnahmen überwiegen, oft ergänzt durch einen Aderlass. Dann wird die eigentliche Behandlung der Krankheit beschrieben mit einer großen Auswahl an Arzneimitteln in unterschiedlichen Darreichungsformen. Den Abschluss bilden dann die sogenannten ‚Regimente‘, das heißt der Kranke bekommt detaillierte Anweisungen seine ganze Lebensführung betreffend. Sie umfassen diätetische Empfehlungen für Essen und Trinken sowie Verhaltensregeln für seinen Tagesablauf, Schlafen und Wachen, Bewegung und Ruhe, Geschlechtsverkehr, Kleidung und die Wohnungsausstattung. Die Spanne der Arzneimittel reicht von sehr einfachen, praktisch kostenlosen Hausmitteln wie der Empfehlung, einen jungen Hund auf den nackten Bauch zu legen, um einen „kalten Magen“ zu kurieren, bis zum Goldenen Ei, einem weit verbreiteten Rezept, das vor Pest schützen und sie auch heilen sollte, bei dem ein ausgeblasenes Ei, das nur noch den Dotter enthielt, vor der aufwändigen Weiterverarbeitung mit Safran ausgestopft werden sollte. Dem heutigen Leser bietet Wirsungs „Artzney Buch“ kein Vademecum zur Selbstmedikation mehr; viele Rezepturen haben sich als unwirksam, sogar gefährlich erwiesen, andererseits haben etliche auch heute noch, in modifizierter Form, ihre Berechtigung. Es gibt ernsthafte Bemühungen von universitärer Seite, das medizinische Wissen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit für die heutige pharmakologische Forschung nutzbar zu machen. So bemüht sich die Forschergruppe „Klostermedizin“ an der Universität Würzburg seit Jahren um das Heben medico-botanischer Schätze. Beeindruckend an Wirsungs „Artzney Buch“ bleibt der Ansatz, den ganzen Menschen und seine Umwelt in den Blick zu nehmen und in die Therapie mit einzubeziehen; ein Ansatz, dessen Fehlen in der modernen Medizin sowohl von Patienten als auch von Ärzten selbst bemängelt wird.

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  1. Nachforschungen des Bibliotheca Palatina Verlages