Autoimmunerkrankung

Autoimmunerkrankung ist in der Medizin ein Überbegriff für Krankheiten, deren Ursache eine überschießende Reaktion des Immunsystems gegen körpereigenes Gewebe ist. Irrtümlicherweise erkennt das Immunsystem körpereigenes Gewebe als zu bekämpfenden Fremdkörper. Dadurch kommt es zu schweren Entzündungsreaktionen, die zu Schäden an den betroffenen Organen führen.

MHC-Moleküle

Unser Organismus kann sehr gut zwischen eigenen und körperfremden Eiweißmolekülen (z.B. von Bakterien, Viren oder Würmern) unterscheiden; der Körper muss daher über Selbsterkennungsproteine verfügen. Eine Gruppe dieser Proteine sind die MHC-Proteine (Major Histocompatibility Complex). Mit Hilfe dieser Membranproteine erkennt das Immunsystem körperfremde Zellen. Es gibt zwei Typen von MHC-Proteinen, Proteine der Klasse I (HLA-Klasse-I-Moleküle) kommen auf fast allen kernhaltigen Zellen des Körpers vor, MHC-Moleküle der Klasse II (HLA-Klasse-II-Moleküle) kommen dagegen ausschließlich auf der Oberfläche von Antigen-präsentierenden Zellen vor.

Die Klasse I und II MHC-Moleküle werden vom 13 oder 14 Genen codiert, die - mit Ausnahme von B2M - alle im HLA-Locus auf Chromosom 6 liegen. Diese Gene sind polymorph, das heißt, dass auf Populationionsebene eine große Anzahl an verschiedenen Allelen existiert. Daher besitzen zwei weitläufig verwandte Menschen nur sehr selten den gleichen Satz von MHC-Proteinen. Da die MHC-Proteine auf der Oberfläche fast aller Zellen (rote Blutkörperchen ausgenommen) anzutreffen sind, sind sie charakteristisch für die Oberflächenstruktur. Im menschlichen Organismus wird die Oberflächenstruktur als Ausweis angesehen (T-Zellen überprüfen die Zelloberflächen von anderen Zellen, um zu erkennen, ob diese Zellen körperfremd sind). Probleme treten auf, wenn die Oberflächen dieser Zellen verändert sind. Bei Organtransplantationen stellt dieser Aspekt ein großes Problem dar, weil in vielen Fällen die transplantierten Organe vom Körper abgestoßen werden. Bei Nieren- und Knochenmarktransplatationen wird daher versucht Spender-Empfänger-Paare zu finden, die mit den Oberflächenstrukturen des Organempfängers weitestgehend zusammenpassen.

Die Immuntoleranz eines Organismus

Der erste Forscher, der den Unterschied zwischen „selbst“ und „nicht selbst“ erkannte war der deutsche Mikrobiologe Paul Ehrlich. Er wollte ursprünglich um 1900 herausfinden, was mit Blut, das nach inneren Blutungen zurückbleibt, geschieht. Daher startete er einen Versuch, indem er Ziegen Schafsblut injizierte. Das Erstaunliche war, dass das Immunsystem die fremden Blutzellen (Erythrozyten) sogleich vernichtete.

Als Ehrlich später den Versuch mit artgleichen Tieren durchführte, geschah dasselbe. Das Immunsystem wehrte sich gegen die fremden Blutzellen.

Erst als er eine Ziege mit ihrem eigenen Blut behandelte, erkannte Ehrlich, dass der Körper verstand, was körperfremd und körpereigen ist. Die Ziege zerstörte bei diesem Versuch die injizierten Blutzellen nicht (obwohl Ehrlich das Blut eine gewisse Zeit aufbewahrte). Obwohl dieser Versuch mit seinem Anfangsgedanken nun wenig in Verbindung stand, zog Ehrlich seine Schlüsse und stellte das biologische Prinzip der "horror autotoxicus" (Furcht vor Selbstzerstörung) auf. Obwohl dieses Prinzip äußerst simpel klingt, ist es dennoch lebensnotwendig für alle Lebewesen. Würde die Ziege ihr eigenes Blut abbauen, würde sie schon bei geringsten Verletzungen sterben (wenn ihr Immunsystem ihr eigenes Blut angreifen würde). Doch dieser Selbstschutz ist nicht immer von Vorteil. Körpereigene Krebszellen werden daher vor ihrer Zerstörung bewahrt. Denn der Körper greift sich im Normalfall nicht selbst an. Doch in der heutigen Medizin ist seit Neuestem bekannt, dass Krebszellen ebenso wie Antigene vom Immunsystem angegriffen werden, wenn sie sich nur deutlich genug von Nicht-Krebszellen (gesunden Zellen) unterscheiden. Wie kommt es dennoch dazu, dass der eigene Körper im Falle einer Autoimmunkrankheit seine Organe als fremd ansieht und angreift? Mit genau diesem Problem sind die heutigen Forscher und Mediziner konfrontiert.

Autoimmunkrankheiten: Warum entstehen sie?

Allgemein gibt es nur Mutmaßungen und wissenschaftliche Theorien auf diese Frage, wie Autoimmunkrankheiten entstehen. Mit gewisser Sicherheit kann man jedoch sagen, dass Autoimmunkrankheiten durch die Kombination von angeborener "Empfänglichkeit" (mehrere MHC-Molekül-Varianten gibt es im Körper des Betroffenen [Genetisch bedingter Faktor]) für Autoimmunerkrankungen und einem hinzukommenden Faktor (Auslöser) wie starker Stress, Infektion, Schwangerschaft oder Umwelteinflüsse ausgelöst werden. Doch auch hier variieren die Vermutungen. Das Immunsystem eines Autoimmunkranken kann sich auf den Angriff eines bestimmten Organs (von der Haarwurzel bis zur Leber) beschränken oder den ganzen Körper (mehrere Organe und Gefäßsystem) befallen. Mischformen sind nicht selten.

Die Hygienehypothese

Einige Forscher führen den beobachteten Anstieg allergischer Erkrankungen in westlichen Industrieländern auf eine mangelnde Aktivierung ('Unterforderung') des Immunsystems durch übertriebene Hygienemaßnahmen zurück. So soll es durch den Rückgang, z.B., parasitärer Erkrankungen zu einer Umlenkung des Immunsystems auf körpereigene Strukturen kommen. [1] Hierfür spricht das geringere Aufkommen von Allergien in Ländern mit geringeren Hygienestandards. Jedoch gibt es derzeit viele widersprüchliche Forschungsergebnisse[2], so dass diese Hypothese noch nicht abschließend beurteilt werden kann[3].

Definition dieser Krankheit:

T-Zellen sind für die Erkennung von Fremdstoffen verantwortlich. Im Thymus werden sie dafür geschult, nur an MHC-Moleküle anzudocken und körpereigene Strukturen zu tolerieren. Bei Autoimmunkrankheiten verhalten sich diese Zellen entgegen ihrer Natur. Anstatt eindringende Fremdkörper abzuwehren, greifen sie körpereigene Strukturen an. Organe werden als fremd empfunden, die lebensnotwendig für den Organismus und das Immunsystem sind. Das Immunsystem richtet seine ganze Abwehrstärke gegen diese Organe (zelluläre, wie auch humorale Abwehrreaktionen; Autoantikörper werden gebildet), was zur Folge hat, dass diese Organe im Laufe der Zeit ihre Funktion aufgeben müssen. Das Immunsystem wird geschwächt, und der Körper wird anfällig für allerlei Krankheiten. Die Fremdkörpererkennung wird gestört, was zur Folge hat, dass entartete Tumorzellen zu wuchern beginnen und bösartige Ausmaße erlangen (dies sind Symptome einer Immunmangelkrankheit). Im Körper bricht ein erbitterter Kampf aus: Immunzellen zerstören die körpereigenen Strukturen, während das Reparatur-System des Körpers die geschädigten Organteile zu erneuern versucht. Dieser „falsche“ Angriff des Abwehrsystems setzt sich ohne Behandlung in der Regel lebenslang oder bis zur vollständigen Zerstörung des Organs fort.

Wie entstehen diese Autoantikörper, die für die Autoimmunkrankheiten ausschlaggebend sind:

c by pabi85

Treffen auf einen Menschen die oben genannten Faktoren zu (erbliche Empfänglichkeit sowie Erkrankung [z.B. virale Infektion]), entsteht eine Autoimmunerkrankung. Autoantigene, wie z.B. Reste von Zellwänden, DNA-Fragmente oder körpereigene Proteine schwimmen im Blutstrom durch den Körper. T-Zellen, sowie alle anderen Immunzellen, erkennen nun diese Antigene und wie bei einer natürlichen Abwehrreaktion schaltet sich nach der Erkennung der „Fremdkörper“ die Immunantwort ein. Entzündungsstoffe (Zytokine) werden ausgeschüttet und somit die Zell-Zell-Kommunikation gefördert. Immer mehr Immunzellen werden angelockt, und die falschen Informationen werden weitergeleitet. B-Zellen differenzieren sich zu Plasmazellen und beginnen mit der Produktion von Autoantikörpern (Autosensibilisierung), die ins Blut abgegeben werden. Mit dem Blut gelangen sie in den gesamten Körper und binden sich an ihre spezifischen Antigene (z.B. Zellwände). Dort besetzen sie die Rezeptoren von Zellen und verhindern somit deren Aktivität. Das betroffene Organ kann seinen Stoffwechsel nicht mehr aufrechterhalten, was im schlimmsten Fall zum Organversagen führt. Ebenso können sich Autoantikörper an kleinere Blutgefäße anlagern und diese verstopfen. Der Bluttransport wird gestört, was zu Sauerstoffversorgungsproblemen führt. Auf dieselbe Weise können diese Antikörper auch an Nervenzellen andocken und Bewegungsstörungen (starke Koordinationsprobleme) hervorrufen. Neben dem Faktor des plötzlichen Verlustes der Immuntoleranz könnte auch ein Erreger den Ausbruch einer Autoimmunkrankheit verursachen. Dieser Erreger müsste nur eine sehr hohe Ähnlichkeit mit der Struktur eines körpereigenen Gewebes haben (viele Erreger versuchen den Körper durch ihre Oberfläche zu täuschen, damit sie ungehindert in den Körper gelangen können; dieser Täuschungsversuch wird als „Mimikry“ bezeichnet). Nach dem Erkennen des Erregers würde die Immunabwehr diesen mit allen Mitteln bekämpfen (Autoantikörper würden gebildet und Immunzellen würden unabsichtlich eigene Gewebsstrukturen angreifen). Nach der Bekämpfung würden Gedächtniszellen den Körper permanent nach diesem Erreger durchforsten, was zur Autoimmunkrankheit führen könnte (Gedächtniszellen stoßen auf das spezifische Gewebe und verursachen Abwehrreaktionen). Ein bekanntes Beispiel ist das so genannte “rheumatische Fieber“, ein Infekt durch Streptokokken (genauer β-hämolysierenden Streptokokken). Die Antikörper, die gegen diesen Erreger gebildet werden können auch wenn man anfällig für Autoimmunkrankheiten ist sich zu Autoantikörper verwandeln und das Gewebe des Herzmuskels angreifen.

Prinzipien der Behandlung

Autoimmunerkrankungen werden je nach betroffenem Organ von Internisten, Dermatologen, Neurologen , Endokrinologen oder Nuklearmedizinern behandelt. Grundprinzip der kausalen Therapie ist hierbei, die Aktivität des Immunsystems durch Gabe von Cortison oder Immunsuppressiva zu dämpfen. Aufgrund der mannigfaltigen systemischen Neben- und Wechselwirkungen dieser Substanzen wurde versucht neue Medikamente zu entwickeln, welche spezifisch die am Krankheitsgeschehen beteiligten Mechanismen beeinflussen. Beispiele hierfür sind Natalizumab und Infliximab, die zur Therapie der Multiplen Sklerose bzw. der Rheumatoiden Arthritis eingesetzt werden. Obwohl diese neueren Substanzen von den meisten Patienten gut vertragen werden, handelt es sich dennoch um Immunsuppressiva. Daher kann es auch hier zu einer erhöhten Infektanfälligkeit und einem möglicherweise erhöhten Risiko für die Entwicklung von Lymphomen kommen.

Klassifikation der Autoimmunerkrankungen:

Wie zu der Zeit, als Pest oder Cholera aufkamen, wussten sich viele Mediziner nicht zu helfen. Sie kannten meistens weder den komplexen Vorgang im Körper während dieser Krankheiten, noch konnten sie Heilmittel finden. Diese Probleme sind auch heute noch aktuell; nur die Krankheiten haben sich geändert: statt Typhus oder Pocken gibt es jetzt Aids oder Autoimmunkrankheiten. Heutzutage sind ca. 60 Autoimmunkrankheiten bekannt, und das Spektrum der erkrankten Organe ist sehr groß.

Man kann diese Krankheiten in 3 Sparten aufteilen:

1. Organspezifische Krankheiten: Zu ihnen zählen Krankheiten, bei denen spezifische Organe (Gewebsstrukturen) vom Immunsystem angegriffen werden.

2. Systemische Krankheiten: Nicht- organspezifische Krankheiten gehören in diese Sparte. Neben den Organen werden hier auch die Gefäßsysteme in Mitleidenschaft gezogen. Antikörper richten sich fast gegen alle Antigene im Körper. Diese Krankheiten sind besonders schwer.

3. Intermediäre Krankheiten: Sie sind Mischformen oder Übergangsformen. Eine breite Immunantwort wird bei diesem Krankheitstyp ausgelöst.


Erkrankung Betroffenes Gewebe
Autoimmunhepatitis Leber
Chronische Gastritis Magen
Colitis ulcerosa Dickdarm oder Mastdarm
Diabetes mellitus-Typ I Inselzellen der Bauchspeicheldrüse
Glomerulonephritis Nieren
Guillain-Barré-Syndrom Myelinschicht der Nerven
Hashimoto-Thyreoiditis Schilddrüse
Lichen sclerosus Haut
Systemischer Lupus erythematodes Haut, Niere, ZNS, Gelenke
Morbus Crohn Gesamter Verdauungstrakt, v.a. aber Dünn- und Dickdarm.
Morbus Basedow Schilddrüse
Morbus Bechterew Wirbelsäule, Iris
Multiple Sklerose Myelinscheiden im zentralen Nervensystems
Myasthenia gravis Acetylcholinrezeptoren an der motorischen Endplatte
PANDAS Basalganglien des Gehirns
Rheumatisches Fieber Bindegewebe der Gelenke, Herzgewebe, Basalganglien des Gehirns, Haut
Rheumatoide Arthritis Bindegewebe der Gelenke, Sehnen
Psoriasis Haut, Bindegewebe der Gelenke
Sarkoidose Lymphknoten, Lunge, Bindegewebe
Sjögren-Syndrom Speicheldrüsen, Tränendrüsen
Stiff-Man-Syndrom Rückenmuskulatur
Sklerodermie Bindegewebe unter der Haut
Wegenersche Granulomatose u.a. Nieren, Lungen, HNO-Bereich
Vitiligo Melanozyten
Autoimmunenteropathie
Goodpasture-Syndrom Nieren und Lungen
Dermatomyositis Muskeln und Haut
Polymyositis Muskeln

Irrtümlicher Weise wird auch AIDS häufig als Autoimmunerkrankung bezeichnet. Auslöser der Krankheit ist jedoch das HI-Virus.

Literatur

  • Stefan Dübel, Petra Rohrbach, Andreas Schmiedl: Rekombinante Antikörper: Werkzeuge gegen Krebs, Infektionen und Autoimmunerkrankungen? Biologie in unserer Zeit 34(6), S. 372-379 (2004), ISSN 0045-205X
  • Charles A. Janeway, Paul Travers, Mark Walport: Immunbiologie, 5. Auflage, Spektrum Akademischer Verlag, 2002

Quellen

  1. Yazdanbakhsh M, Matricardi PM.: Parasites and the hygiene hypothesis: regulating the immune system?. Clin Rev Allergy Immunol. 2004 Feb;26(1):15-24.
  2. Zutavern, A et al.: Atopic dermatitis, extrinsic atopic dermatitis and the hygiene hypothesis: results from a cross-sectional study., Clin Exp Allergy. 2005 Oct;35(10):1301-8
  3. Wilson MS, Maizels RM: The innate immune system and its role in allergic disorders., Clin Rev Allergy Immunol. 2004 Feb;26(1):35-50.

Siehe auch: