„Reformationsdeutungs-Streit“ – Versionsunterschied

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Als '''Reformationsdeutungs-Streit''' wird die Zuspitzung des seit längerem schwelenden [[Dissens]]es über Verständnis, Deutung sowie historische Einordnung der [[Reformation]] unter den evangelischen Theologen bezeichnet.
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Als Reformationsdeutungs-Streit wird die Zuspitzung des seit längerem schwelenden Diskonsenz über das Verständnis, Deutung sowie historische Einordnung
der [[Reformation]] unter den ev. Theologen bezeichnet.


Die Anfänge sind, damals eher schwelend, zwischen dem Heidelberger Theologen [[Gottfried Seebaß (Theologe)|Gottfried Seebaß]] und dem Göttinger [[Bernd Moeller (Kirchenhistoriker)|Bernd Moeller]] zu verorten. In der folgenden Forschergeneration wird der Konflikt mittlerweile offen zwischen ihren Schülern ausgetragen, wobei Kritik mit polemischer Schärfe vor allem vom Göttinger Theologen [[Thomas Kaufmann (Kirchenhistoriker)|Thomas Kaufmann]] gegen den heute in Yale lehrenden [[Volker Leppin]] vorgetragen wurde.<ref>{{Literatur |Autor=Thomas Kaufmann |Titel=Bücher zum Lutherjahr: Ein Gespenst namens Protestantismus |Sammelwerk=[[Frankfurter Allgemeine Zeitung]] |Datum=2016-03-27 |Online=[https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/buecher-zum-lutherjahr-ein-gespenst-namens-protestantismus-14133169.html faz.net]}}</ref> So können mehrere Publikationen von Kaufmann als Ausweitung des Streits um die Deutungshoheit über die Reformation gewertet werden.
Die Anfänge sind als schwelend zwischen dem Heidelberger Theologen [[Gottfried Seebaß (Theologe)|Gottfried Seebaß]] und dem Göttinger [[Bernd Moeller]] zu verorten.
In der zweiten Generation wird der Konflikt mittlerweile offen zwischen deren Schülern ausgetragen, wenngleich polemische Schärfe vor allem
vom Göttinger Theologen [[Thomas Kaufmann (Kirchenhistoriker)|Thomas Kaufmann]] gegen den Tübinger [[Volker Leppin]] vorgetragen wird.<ref>Frankfurter Allgemeine Zeitung, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/buecher-zum-lutherjahr-ein-gespenst-namens-protestantismus-14133169.html</ref>


== Standpunkte ==
So können einige Publikationen von Kaufmann als Ausweitung des Streit um die Deutungshoheit über die Reformation gewertet werden.


=== Volker Leppin ===
==Standpunkte==
Leppin stellt in seiner erstmals 2006 erschienenen Luther-Biographie das Handeln und Denken [[Martin Luther|Luthers]] in die Tradition des Mittelalters, dessen geistiges Kind der Reformator gewesen sei. Dabei werden vor allem die [[Mystik|mystischen]] Wurzeln beleuchtet und Verbindungen zu der Lehre von [[Johannes Tauler]] sowie Parallelen zu seinem Lehrmeister [[Johann von Staupitz]] gezogen.<ref>{{Literatur |Autor=Volker Leppin |Titel=Martin Luther |Hrsg= |Sammelwerk= |Band= |Nummer= |Auflage= |Verlag= |Ort=Darmstadt |Datum=2006 |ISBN= |Seiten=}}</ref> 2016 präzisierte und verschärfte Leppin, damals Professor in Tübingen, sein Verständnis von Luthers „mystischen Wurzeln“ in seinem Werk „Die fremde Reformation: Luthers mystische Wurzeln“.<ref>{{Literatur |Autor=Volker Leppin |Titel=Die fremde Reformation: Luthers mystische Wurzeln |Verlag=C. H. Beck |Ort=München |Datum=2016 |ISBN=978-3-406-69081-5 |Seiten=<!-- Seite???-->}}</ref>


Die von Leppin als Gegenentwurf zum klassischen Reformationsverständnis entfaltete Deutung wird von ihm selbst als „Transformation“ mittelalterlicher Elemente durch Luther bezeichnet.<ref>{{Literatur |Autor=Volker Leppin |Titel=Die fremde Reformation: Luthers mystische Wurzeln |Verlag=C. H. Beck |Ort=München |Datum=2016 |ISBN=978-3-406-69081-5 |Seiten=117–135}}</ref> Von Leppin wird Luthers Wirken nicht, wie in der traditionellen Lesart, als scharfer Bruch mit dem Mittelalter gedeutet, sondern vielmehr die Kontinuität betont. In letzter Konsequenz wird geschlussfolgert, dass die Kraft, durch die die Reformation ihre Geschwindigkeit aufnahm, weniger aus Luthers Wirken und mehr aus der bereits bestehenden „Spannungsenergie“ des [[Spätmittelalter]]s geschöpft worden sei.
===Volker Leppin===
Leppin stellt in seiner Luther-Biographie 2002 das Handeln und Denken [[Martin Luther|Luthers]] in strigenter Tradition des Mittelalters, dessen Kind er gewesen sein soll. Dabei werden vor allem die [[Mystik|mystischen]] Wurzeln beleuchtet und Verbindungen zu der Lehre von [[Johannes Tauler]] sowie Parallelen zu seinem Lehrmeister [[Johann von Staupitz]] hergestellt. 2016 präzisiert und verschärft Leppin sein Verständnis von Luthers 'mystischen Wurzeln' in seinem Werk 'Die fremde Reformation: Luthers mystische Wurzeln'<ref>Die fremde Reformation: Luthers mystische Wurzeln; C.H.Beck; Auflage: 1 (10. Februar 2016); 978-3406690815</ref>


Als Spannungsfelder werden dabei folgende Polaritäten genannt:
Die von Leppin als Gegenentwurf zum klassischen Reformationsverständnis entfaltet Deutung wird von ihm selber als 'Transformation' von mittelalterlichen Elementen durch Luther bezeichnet.<ref>Leppin, fremde Reformation, Beck 2016, Seite 117 - 135</ref> Damit wird eben nicht der klassische Bruch mit dem Mittelalter, sondern eben dessen Kontinuität betont.
* Äußerlichkeit Innerlichkeit
* Zentralität Dezentralität
* Klerus Laienengagement


„Spannungsenergie“ wurde laut Leppin vor allem dadurch aufgebaut, dass die damalige Kirche Äußerlichkeit mit Bußwerken als auch Zentralität mit dem Vatikan identifizierte und Laienengagement strikt unterband.
In letzter Konsequenz wird dadurch geschlussfolgert, dass die Kraft, durch die die Reformation ihre Geschwindigkeit aufnahm, weniger aus Luther, als mehr aus der 'Spannungsenergie' des Mittelalters geschöpft wurde.


=== Moeller/Kaufmann ===
Als Spannungsfelder werden dabei folgende Polaritäten genannt:<br>
Das Göttinger Gegenstück zur „Transformationsthese“ ist die klassische „Umbruchsthese“, bei der ein radikaler Bruch Luthers mit dem Mittelalter in all seiner Konsequenz postuliert wird. Dadurch wird die Reformation als Umbruch des Mittelalters zur Frühen Neuzeit gedeutet und Martin Luther selbst als großer Reformator und entscheidender, innovativer Akteur verstanden. Aus dieser Warte wirft Kaufmann Leppin vor, Luther durch die Transformationsthese zu schrumpfen: „… zum Schrumpfgermanen taugt er nicht.“<ref name="FAZ">{{Literatur |Autor=Thomas Kaufmann |Titel=Bücher zum Lutherjahr: Ein Gespenst namens Protestantismus |Sammelwerk=[[Frankfurter Allgemeine Zeitung]] |Datum=2016-03-27 |Seiten=2 |Online=[https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/buecher-zum-lutherjahr-ein-gespenst-namens-protestantismus-14133169-p2.html faz.net]}}</ref>
Äußerlichkeit - Innerlichkeit<br>
Zentralität - Dezentralität<br>
Klerus - Laienengagement<br>


Kaufmanns Umbruchsthese wird vor allem in seiner eigenen Luther-Biographie entfaltet.<ref>{{Literatur |Autor=Thomas Kaufmann |Titel=Geschichte der Reformation |Verlag=Verlag der Weltreligionen |Ort=Frankfurt am Main / Leipzig |Datum=2009 |ISBN=978-3-458-71024-0 |Seiten=<!-- Seite -->}}</ref>
'Spannungsenergie' wurde vor allem dadurch aufgebaut, dass die damalige Kirche sowohl Äußerlichkeit mit Bußwerken als auch Zentralität mit dem Vatikan identifizierte und Laienengagement unterband.


== Austragung des Streits ==
===Moeller/Kaufmann===
Schwelte der Streit lange ausschließlich im akademischen Rahmen und führte lediglich zu Debatten und Zerwürfnissen allein im universitären Kontext, so erreichte die grundlegende Spaltung der kirchengeschichtlichen Fachwelt in dieser Frage 2016 auch die breitere Öffentlichkeit. Denn daran, wie man die Reformation begreift, hängt für manche Protestanten bis heute wesentlich das kulturelle Selbstverständnis.<ref>{{Literatur |Autor=Dirk Pilz |Titel=Allmähliche Plötzlichkeit |Sammelwerk=[[Frankfurter Rundschau]] |Datum=2016 |Kommentar=Volker Leppin über Martin Luther |Online=[https://www.fr.de/kultur/literatur/allmaehliche-ploetzlichkeit-11627481.html fr.de]}}</ref>
Das Göttinger Pendant zur 'Transformationsthese' ist die klassische 'Umbruchsthese' bei der ein Bruch Luthers mit dem Mittelalter in all seiner Konsequenz postuliert wird. Dadurch wird die Reformation als Schwelle des Mittelalters zur Frühen Neuzeit stärker betont und Martin Luther selber als großer Reformator verstanden. Mit dieser Warte kann Kaufmann Leppin vorwerfen Luther durch die Transformationsthese zu schrumpfen.


In Hinblick auf das damals bevorstehende 500-Jährige Lutherjubiläum 2017 weitete sich die zunächst rein akademische Debatte zu einem Kampf um die Deutungshoheit der Reformation aus. Die EKD bezog bisher keine Stellung.


Bezeichnend in der Streitführung ist die sofortige, heftige Reaktion Kaufmanns auf jegliche transformationsthesen-freundliche Publikation. So bezeichnet er bereits in seiner Rezension zu Leppins 2006 erschienenen Luther-Biographie<ref>{{Literatur |Autor=Volker Leppin |Titel=Martin Luther |Verlag=Wissenschaftliche Buchgesellschaft |Ort=Darmstadt |Datum=2006 |ISBN=3-89678-576-1 |Seiten=}}</ref> das Werk als „wissenschaftlich ungenügend“ und „selbst den Laien enttäuschend“.<ref>Archiv für Reformationsgeschichte (Hrsg.): ''Literaturbericht.'' 36, 2007, S. 17–19.</ref> Da Kaufmann nicht wusste, dass der ihm persönlich noch unbekannte Leppin als eher heiter gestimmt gilt, nannte er ihn einen „tragischen Tübinger Ritter“.<ref name="FAZ" />
<center>{{Zitat|... zum Schrumpfgermanen taugt er nicht.|Autor=Kaufmann}}<ref>http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/buecher-zum-lutherjahr-ein-gespenst-namens-protestantismus-14133169-p2.html</ref></center>


Gekontert wurde dies von Tübinger Seite allerdings nicht direkt und nicht mit solcher Polemik. Die indirekten Spitzen gen Göttingen sind aber wohlplaziert. So beginnt das Vorwort von Leppins „Die fremde Reformation“ mit einem Seitenhieb auf den vermeintlich heroisierenden Effekt der „Umbruchsthese“ auf die Person Martin Luther und parodiert diesen in Anlehnung an Joh 1,1: „Am Anfang war … Luther? Wohl kaum – und der Reformator Martin Luther selbst hätte dies schon gar nicht behaupten wollen.“<ref>{{Literatur |Autor=Volker Leppin |Titel=Die fremde Reformation: Luthers mystische Wurzeln |Verlag=C. H. Beck |Ort=München |Datum=2016 |ISBN=978-3-406-69081-5 |Seiten=9}}</ref>

Kaufmanns Umbruchsthese wird vor allem in seiner eigenen Luther Biographie entfaltet.<ref>Geschichte der Reformation; Kaufmann; Insel 2009; 3458710248</ref>


==Austragung des Streits==

Schwelte der Streit in den letzten Jahren ausschließlich im akademischen Rahmen und führte lediglich zu Debatten und Zerwürfnissen allein im universitären Kontext, so erreicht die grundlegende Spaltung der kirchengeschichtlichen Fachwelt in dieser Frage nun auch die breite Masse.

Denn daran wie man die Reformation begreift hängt wesentlich das kulturelle Selbstverständnis.<ref>http://www.fr-online.de/literatur/volker-leppin-ueber-martin-luther-allmaehliche-ploetzlichkeit,1472266,34053092.html</ref>
In Hinblick auf das 500 Jährige Lutherjubiläum 2017 weitet sich der zunächst rein akademische Streit auf einen Kampf um die Deutungshoheit der Reformation aus. Die EKD bezog bisher im Vorfelde keine Stellung.

Bezeichnend in der Streitführung ist für Kaufmann die sofortige polemische Reaktion auf jegliche transformationsthesen-freundliche Publikation.
So bezeichnet er in seiner Rezension zu Leppins 2006 erschienen eigenen Luther Biographie<ref>Martin Luther; Leppin; Darmstadt 2006; 3896785761</ref> jenes Werk als 'wissenschaftlich ungenügend' und 'selbst den Laien enttäuschend'.<ref> Archiv für Reformationsgeschichte – Literaturbericht 36, 2007, S. 17-19. </ref>
Auch Leppins jüngstes Werk 'Die fremde Reformation' wird von Kaufmann in der [[Frankfurter Allgemeine Zeitung]] für die breite Masse als 'konzeptionell unbefriedigend' und Leppin gar selber als 'tragischer Tübinger Ritter' bezeichnet.<ref>http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/buecher-zum-lutherjahr-ein-gespenst-namens-protestantismus-14133169-p2.html</ref>
Spätestens mit jener Wortwahl ist der Streit über das akademische Maß hinaus entfesselt.

Gekontert wird dies von Tübinger Seite allerdings nicht direkt und nicht mit solcher Polemik. Die Spitzen gen Göttingen sind aber wohlplaziert. So beginnt das Vorwort von Leppins 'Die fremde Reformation' mit einem Seitenhieb auf den vermeintlich heroisierenden Effekt der 'Umbruchsthese' auf die Person Martin Luther und parodiert diesen in Anlehnung an Joh.1.1 :


<center>{{Zitat|Am Anfang war … Luther?<br>
Wohl kaum – und der Reformator Martin Luther selbst<br> hätte
dies schon gar nicht behaupten wollen.|Autor=Leppin}}<ref>Leppin, fremde Reformation, Beck 2016, Seite 9</ref></center>


== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==
<references />
<references />

[[Kategorie:Reformation (Deutschland)]]
[[Kategorie:Theologische Kontroverse]]

Aktuelle Version vom 6. August 2022, 10:32 Uhr

Als Reformationsdeutungs-Streit wird die Zuspitzung des seit längerem schwelenden Dissenses über Verständnis, Deutung sowie historische Einordnung der Reformation unter den evangelischen Theologen bezeichnet.

Die Anfänge sind, damals eher schwelend, zwischen dem Heidelberger Theologen Gottfried Seebaß und dem Göttinger Bernd Moeller zu verorten. In der folgenden Forschergeneration wird der Konflikt mittlerweile offen zwischen ihren Schülern ausgetragen, wobei Kritik mit polemischer Schärfe vor allem vom Göttinger Theologen Thomas Kaufmann gegen den heute in Yale lehrenden Volker Leppin vorgetragen wurde.[1] So können mehrere Publikationen von Kaufmann als Ausweitung des Streits um die Deutungshoheit über die Reformation gewertet werden.

Standpunkte

Volker Leppin

Leppin stellt in seiner erstmals 2006 erschienenen Luther-Biographie das Handeln und Denken Luthers in die Tradition des Mittelalters, dessen geistiges Kind der Reformator gewesen sei. Dabei werden vor allem die mystischen Wurzeln beleuchtet und Verbindungen zu der Lehre von Johannes Tauler sowie Parallelen zu seinem Lehrmeister Johann von Staupitz gezogen.[2] 2016 präzisierte und verschärfte Leppin, damals Professor in Tübingen, sein Verständnis von Luthers „mystischen Wurzeln“ in seinem Werk „Die fremde Reformation: Luthers mystische Wurzeln“.[3]

Die von Leppin als Gegenentwurf zum klassischen Reformationsverständnis entfaltete Deutung wird von ihm selbst als „Transformation“ mittelalterlicher Elemente durch Luther bezeichnet.[4] Von Leppin wird Luthers Wirken nicht, wie in der traditionellen Lesart, als scharfer Bruch mit dem Mittelalter gedeutet, sondern vielmehr die Kontinuität betont. In letzter Konsequenz wird geschlussfolgert, dass die Kraft, durch die die Reformation ihre Geschwindigkeit aufnahm, weniger aus Luthers Wirken und mehr aus der bereits bestehenden „Spannungsenergie“ des Spätmittelalters geschöpft worden sei.

Als Spannungsfelder werden dabei folgende Polaritäten genannt:

  • Äußerlichkeit – Innerlichkeit
  • Zentralität – Dezentralität
  • Klerus – Laienengagement

„Spannungsenergie“ wurde laut Leppin vor allem dadurch aufgebaut, dass die damalige Kirche Äußerlichkeit mit Bußwerken als auch Zentralität mit dem Vatikan identifizierte und Laienengagement strikt unterband.

Moeller/Kaufmann

Das Göttinger Gegenstück zur „Transformationsthese“ ist die klassische „Umbruchsthese“, bei der ein radikaler Bruch Luthers mit dem Mittelalter in all seiner Konsequenz postuliert wird. Dadurch wird die Reformation als Umbruch des Mittelalters zur Frühen Neuzeit gedeutet und Martin Luther selbst als großer Reformator und entscheidender, innovativer Akteur verstanden. Aus dieser Warte wirft Kaufmann Leppin vor, Luther durch die Transformationsthese zu schrumpfen: „… zum Schrumpfgermanen taugt er nicht.“[5]

Kaufmanns Umbruchsthese wird vor allem in seiner eigenen Luther-Biographie entfaltet.[6]

Austragung des Streits

Schwelte der Streit lange ausschließlich im akademischen Rahmen und führte lediglich zu Debatten und Zerwürfnissen allein im universitären Kontext, so erreichte die grundlegende Spaltung der kirchengeschichtlichen Fachwelt in dieser Frage 2016 auch die breitere Öffentlichkeit. Denn daran, wie man die Reformation begreift, hängt für manche Protestanten bis heute wesentlich das kulturelle Selbstverständnis.[7]

In Hinblick auf das damals bevorstehende 500-Jährige Lutherjubiläum 2017 weitete sich die zunächst rein akademische Debatte zu einem Kampf um die Deutungshoheit der Reformation aus. Die EKD bezog bisher keine Stellung.

Bezeichnend in der Streitführung ist die sofortige, heftige Reaktion Kaufmanns auf jegliche transformationsthesen-freundliche Publikation. So bezeichnet er bereits in seiner Rezension zu Leppins 2006 erschienenen Luther-Biographie[8] das Werk als „wissenschaftlich ungenügend“ und „selbst den Laien enttäuschend“.[9] Da Kaufmann nicht wusste, dass der ihm persönlich noch unbekannte Leppin als eher heiter gestimmt gilt, nannte er ihn einen „tragischen Tübinger Ritter“.[5]

Gekontert wurde dies von Tübinger Seite allerdings nicht direkt und nicht mit solcher Polemik. Die indirekten Spitzen gen Göttingen sind aber wohlplaziert. So beginnt das Vorwort von Leppins „Die fremde Reformation“ mit einem Seitenhieb auf den vermeintlich heroisierenden Effekt der „Umbruchsthese“ auf die Person Martin Luther und parodiert diesen in Anlehnung an Joh 1,1: „Am Anfang war … Luther? Wohl kaum – und der Reformator Martin Luther selbst hätte dies schon gar nicht behaupten wollen.“[10]

Einzelnachweise

  1. Thomas Kaufmann: Bücher zum Lutherjahr: Ein Gespenst namens Protestantismus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 27. März 2016 (faz.net).
  2. Volker Leppin: Martin Luther. Darmstadt 2006.
  3. Volker Leppin: Die fremde Reformation: Luthers mystische Wurzeln. C. H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-69081-5.
  4. Volker Leppin: Die fremde Reformation: Luthers mystische Wurzeln. C. H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-69081-5, S. 117–135.
  5. a b Thomas Kaufmann: Bücher zum Lutherjahr: Ein Gespenst namens Protestantismus. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. 27. März 2016, S. 2 (faz.net).
  6. Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation. Verlag der Weltreligionen, Frankfurt am Main / Leipzig 2009, ISBN 978-3-458-71024-0.
  7. Dirk Pilz: Allmähliche Plötzlichkeit. In: Frankfurter Rundschau. 2016 (fr.de – Volker Leppin über Martin Luther).
  8. Volker Leppin: Martin Luther. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2006, ISBN 3-89678-576-1.
  9. Archiv für Reformationsgeschichte (Hrsg.): Literaturbericht. 36, 2007, S. 17–19.
  10. Volker Leppin: Die fremde Reformation: Luthers mystische Wurzeln. C. H. Beck, München 2016, ISBN 978-3-406-69081-5, S. 9.