Stéphane Hessel

Stéphane Hessel in der Fernsehsendung Kölner Treff (2012)

Stéphane Frédéric Hessel (* 20. Oktober 1917 in Berlin; † 27. Februar 2013[1] in Paris) war ein französischer Résistance-Kämpfer, Überlebender des Konzentrationslagers Buchenwald, Diplomat, Lyriker, Essayist und politischer Aktivist.[2]

Hessel wurde nach seiner KZ-Haft 1946 Büroleiter des UN-Vize-Generalsekretärs Henri Laugier. In dieser Funktion war er bei Sitzungen der neu geschaffenen UN-Menschenrechtskommission präsent. Laut verschiedener Medienberichte war er in diesem Zusammenhang an der Erstellung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN redaktionell beteiligt, wobei er sich selbst jedoch eher als passiven Zeugen dieser Ereignisse beschrieb.[3] Hessel blieb bis 1951 bei der UNO, danach war er im französischen Außenministerium in Paris tätig. Dann wurde er Mitarbeiter von Pierre Mendès-France und lebte nach dessen Fall für einige Jahre in Vietnam. 1962 gründete er in Frankreich die Vereinigung für die Ausbildung von afrikanischen und madagassischen Arbeitnehmern.

Große Aufmerksamkeit erregte 2010 Hessels Essay Empört Euch!, in dem er harsche Kritik an verschiedenen aktuellen politischen Entwicklungen übt und zum Widerstand aufruft. Die Protestbewegung in Spanien gegen die Folgen der Finanzkrise, die entsprechenden griechischen, französischen und portugiesischen sozialen Protestbewegungen sowie die Occupy-Bewegung[4] berufen sich teilweise auf ihn.[5]

Leben

Stéphane Hessel wurde 1917 als Stefan Hessel in Berlin geboren.[6] Seine Eltern waren der deutsche Schriftsteller Franz Hessel, der aus einer assimilierten jüdischen Bankiersfamilie stammte, und die aus einer deutschen protestantischen Familie stammende Journalistin Helen Grund. Sein Bruder Ulrich wurde 1914 geboren. 1924 zog die Familie nach Paris, seit 1937[7][8] war Stéphane Hessel französischer Staatsbürger.

Stéphane Hessel bei einer Versammlung der Europe Écologie am 10. März 2010
Das Grab auf dem Friedhof Montparnasse

Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde Hessel als Offizier der französischen Armee zunächst von den deutschen Truppen festgenommen, ihm gelang aber über Südfrankreich, Marokko und Portugal die Flucht nach London.[9] Hessel schloss sich im Mai 1941 der französischen Résistance an und wurde daraufhin mit einem Lastensegler in Frankreich abgesetzt. Im Juli 1944 wurde er von der Gestapo in Paris verhaftet, gefoltert und in das Konzentrationslager Buchenwald deportiert. Der als Spion zum Tode verurteilte Hessel überlebte nur, weil der Kapo Arthur Dietzsch ihm die Identität des kurz zuvor verstorbenen Gefangenen Michel Boitel verschaffte. Dessen Leichnam wurde verbrannt, während Hessel unter falschem Namen in das Außenlager Rottleberode und später nach Mittelbau-Dora überstellt wurde, wo u. a. die von Wernher von Braun entwickelten V2-Raketen von KZ-Häftlingen gebaut wurden.[10][11] In Buchenwald lernte er den Schriftsteller Eugen Kogon[12] kennen, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband.

Am 6. April 1945 gelang ihm die Flucht aus dem Zug auf dem Weg nach Bergen-Belsen.[10][7]

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurde Hessel 1946 Büroleiter des UN-Vize-Generalsekretärs Henri Laugier. Während dieser Jahre in New York war Hessel Zeuge der Arbeiten der neu geschaffenen Menschenrechtskommission und war auch bei den UNO-Generalversammlungen zugegen. Entgegen anderslautenden Presseberichten war er jedoch weder Mitglied der Kommission noch Verfasser oder Unterzeichner der Erklärung.[13][3][14] Anschließend bereiste er im Auftrag der UNO und des französischen Außenministeriums die Welt, trieb die Entkolonialisierung voran und vermittelte in Konflikten.

Entwicklungshilfe, Demokratie und Menschenrechte gehören zu den Themen, die Hessel besonders am Herzen lagen und für die er bis zuletzt kämpfte. 1962 gründete er in Frankreich die Vereinigung für die Ausbildung von afrikanischen und madagassischen Arbeitnehmern (Association de formation des travailleurs africains et malgaches, AFTAM), die sich für die Rechte von Afrikanern einsetzt, außerdem war er Mitglied der französischen Sektion der Nationalen Menschenrechtskommission. Vom französischen Staat erhielt er den Titel „Ambassadeur de France“.

Nach den Terroranschlägen am 11. September 2001 erregte Hessel Aufsehen, als er das „Collegium international“ zur Verhinderung eines Kriegs zwischen den Zivilisationen mitbegründete. Dabei forderte er auch die Regierung Israels zu einer anderen Politik auf („Dass Juden ihrerseits Kriegsverbrechen begehen können, ist unerträglich.“) und schloss sich der Forderung nach einem Boykott israelischer Produkte an.[9]

Anlässlich der im März 2009 kurz bevorstehenden Durban-Review-Konferenz sprach er von Fortschritten bei der Verwirklichung der universellen Menschenrechtsdeklaration, da Kolonialismus, Totalitarismus oder Militärregime in mehreren Ländern ihr Ende nähmen. Zugleich warnte er vor Einschränkungen der Rede- und Meinungsfreiheit durch die Gefahr von Medienmonopolen, Übermacht von Konzernen und insbesondere das Bestreben größerer Religionen, die Kritik an der Religion zu unterbinden. Er sprach sich somit gegen ein Verbot der religiösen Diffamierung aus. Die Probleme seien durch Dialog zwischen den größeren Kulturen und Zivilisationen zu lösen.[15]

In seinem Buch Empört Euch! aus dem Jahr 2010, das bis zum Januar 2011 bereits mehr als 900.000 Mal gedruckt worden war,[16] spricht er sich für die Wiederbelebung der Werte der Résistance aus.[17] Er kritisiert im Buch außerdem den Finanzkapitalismus, die Behandlung von Minderheiten wie den Roma oder sogenannten illegalen Einwanderern, plädiert für Gewaltlosigkeit und sieht eine Lösung des Konflikts im Nahen Osten als für die Befriedung weiterer Konflikte elementar an.[9] 2011 wurde er mit dem Prix de l’Académie de Berlin ausgezeichnet.[18]

Stéphane Hessel lebte mit seiner zweiten Frau Christiane Hessel-Chabry in Paris.[7] Er liegt auf dem Cimetière Montparnasse begraben.

Der Israelisch-Palästinensische Konflikt

Hessel ist oft als Kritiker der Politik des Staates Israel, besonders der militärischen Besatzung und des Siedlungsbaus in den palästinensischen Gebieten, hervorgetreten. Am 20. Januar 2011 äußerte sich Hessel in der FAZ zum Israelisch-Palästinensischen Konflikt, indem er ihn am Ende eines längeren Essays zur inneren Verfassung der Konzentrationslager mit der deutschen Besetzung Frankreichs verglich:

„Die durchlässige deutsche Besatzungspolitik gestattete noch am Ende des Krieges eine offene Kulturpolitik. Man durfte in Paris Stücke von Jean-Paul Sartre aufführen oder Juliette Gréco hören. Wenn ich einen kühnen Vergleich als Betroffener wagen darf, so behaupte ich: Die deutsche Besatzung war, wenn man sie zum Beispiel mit der heutigen Besetzung von Palästina durch die Israelis vergleicht, eine relativ harmlose, von Ausnahmen wie den Verhaftungen, Internierungen und Erschießungen, auch vom Raub der Kunstschätze abgesehen. Das war alles schrecklich. Aber es handelte sich um eine Besatzungspolitik, die positiv wirken wollte und deshalb uns Widerstandskämpfern die Arbeit so schwermachte.“[19]

Dieser Aussage widersprach Jonathan Hayoun, Präsident der Vereinigung jüdischer Studenten in Frankreich, am 11. Juli 2012 im Nouvel Observateur unter der Überschrift Hessel und die „harmlose“ deutsche Besetzung. Er kritisiert, dass Hessel von einer „Geschmeidigkeit“ der Okkupation sprach,[20] die „positiv wirken wollte“[21] und „ziemlich harmlos“[22] gewesen sei. Hessel stellt für Hayoun beide Verwaltungen auf eine Stufe; die Deportationen von Juden und Résistants würde er ausblenden. Der jüdische Staat sei für Hessel der Feind. Die Gesamtheit aller Zionisten sei schuld an allen Übeln; der Nazismus sei nicht so schlimm, wenn es Theater gab.[23] Hessel antwortete in derselben Ausgabe unter dem Titel: Die „harmlose“ Nazi-Besetzung: Israel kritisieren, ist das Antisemitismus?[24] Er steht im Kern zu seinen Aussagen und wirft Hayoun vor, ihn missverstanden zu haben: Er habe nur die Besatzung Frankreichs mit der israelischen Besatzung der palästinensischen Gebiete verglichen, dies sei nicht mit den Verbrechen des Nationalsozialismus als Ganzes oder mit einer Verharmlosung des Holocaust zu verwechseln. Er findet außerdem im Abstand seine Wortwahl zu aufgeregt: Meine Ausdrücke waren vielleicht vorschnell, fix hingeschrieben, zu blitzartig.[24]

Schriften (Auswahl)

  • deutsch: Ô ma mémoire. Gedichte, die mir unentbehrlich sind. Übersetzt von Michael Kogon. Grupello, Düsseldorf 2010, ISBN 978-3-89978-124-3.

Preise (Auswahl)

Literatur

Interviews

Film

  • Der Diplomat – Stéphane Hessel, Dokumentarfilm über Hessel, 1995, Deutschland, Starost Film Verleih & Vertrieb, 80 min.[30][31]
Commons: Stéphane Hessel – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Interviews

Fernsehsendungen

Einzelnachweise und Anmerkungen

  1. Stéphane Hessel im Alter von 95 Jahren gestorben. Zeit Online, 27. Februar 2013, abgerufen am 27. Februar 2013.
  2. Stefan Simons: Zum Tode Stéphane Hessels: Ein Leben lang links. Spiegel Online, 27. Februar 2013
  3. a b Vorlage:"-fr Hessel: La Déclaration des droits de l’homme, témoin de l’audace de l’époque. Centre d’Actualités de l’ONU, 10 décembre 2008 un.org.
  4. „That is why I am so happy about what happens these days in Wall Street, because they’re indeed very peaceful. They are not throwing any bombs or any stones, but they’re there determined to see that their values are to be respected.“ Democracy Now! am 10. Oktober 2011: Stéphane Hessel on Occupy Wall Street: Find the Time for Outrage When Your Values Are Not Respected. Abgerufen am 23. Oktober 2011 (englisch).
  5. Indignados en la calle. In: El Pais, 17. Mai 2011 (spanisch). Abgerufen am 21. Mai 2011: „El pasado domingo, las principales ciudades españolas fueron escenario de manifestaciones convocadas en la estela del panfleto publicado por el francés Stéphane Hessel, ¡Indignaos!“ (auf Deutsch: „Am vergangenen Sonntag waren die wichtigsten spanischen Städte Schauplatz von Demonstrationen, die sich auf das Pamphlet des Franzosen Stéphane Hessel ‚Empört Euch!‘ beriefen.“)
  6. Moritz Reininghaus: Diplomat des Lebens und der Poesie. In: Jüdische Zeitung (Berlin) auf j-zeit.de, Januar 2011; Porträt
  7. a b c Julia Jüttner: Der glückliche Lebenskünstler. Spiegel Online, 7. Mai 2009.
  8. a b Robert Bosch Stiftung: Pressemitteilung vom 5. Oktober 2011. Abgerufen am 10. Juni 2012.
  9. a b c Jürg Altwegg: Bestseller Empörung. In: FAZ, 6. Januar 2011, abgerufen am 7. Oktober 2012.
  10. a b Stéphane Hessel: Wie ich Buchenwald und andere Lager überlebte. In: FAZ, 21. Januar 2011, S. 35.
  11. „Drei Offiziere kamen mit dem Leben davon“. In: Die Zeit, 1/1960.
  12. Eugen Kogon beschreibt das Schicksal Hessels in Buchenwald ausführlich im Kapitel „Exekution alliierter Fallschirmspringer und Geheimagenten.“ seines Buches Der SS-Staat (Taschenbuchausgabe, Heyne-Sachbuch, ISBN 3-453-00671-2, S. 266–274).
  13. Manfred Flügge: Stéphane Hessel, ein glücklicher Rebell, Aufbau Verlag, Berlin, 2012, ISBN 978-3-351-02744-5. S. 107.
  14. lemonde.fr.
  15. Simon Bradley: Menschenrechtsanwalt Stéphane Hessel sieht Redefreiheit in Gefahr. In Swissinfo, 11. März 2009 (Interview).
  16. Jakob Augstein: Sarrazin-Debatte: Im Land der Niedertracht. Spiegel Online, 13. Januar 2011.
  17. Political essay by 93-year-old tops Christmas bestseller list in France. In: The Guardian, 26. Dezember 2010
  18. Stéphane Hessel erhält den „Prix de l’Academie“. In: Zürcher Unterländer, Schweizerische Depeschenagentur am 29. November 2011
  19. Der letzte Satz ist, wie sich aus dem Kontext ergibt, so gemeint: Durch die von ihm behauptete Art „weicher Besetzung“ gab es für Franzosen weniger Motivation zum offenen oder gar bewaffneten Widerstand gegen die Deutschen. Wie ich Buchenwald und andere Lager überlebte. In: faz.net, 20. Januar 2011; abgerufen 7. Oktober 2012
  20. Hayoun wörtlich: suplesse; Hessel dagegen, der perfekt Deutsch spricht, verwendete das Wort „durchlässig“, siehe Zitat oben
  21. Hayoun: voulait agir positivement
  22. Hayoun: relativement inoffensive
  23. Jonathan Hayoun: Stéphane Hessel et l’occupation nazie «inoffensive»: quel indigné est-il vraiment? In: Le Nouvel Observateur, 11. Juli 2012 (französisch).
  24. a b Stéphane Hessel: Occupation nazie «inoffensive»: critiquer Israël, est-ce de l’antisémitisme? In: Le Nouvel Observateur, 11. Juli 2012 (französisch).
  25. Stefan Simons: Genug empört, jetzt wird gehandelt! Spiegel Online, 9. März 2011, abgerufen am 9. März 2011.
  26. UNESCO/Bilbao Prize - Laureates
  27. Pressemitteilung Weimarer Dreieck
  28. Bestseller-Autor Hessel erhält Kulturpreis. In: Saarbrücker Zeitung, 25. Januar 2012, Kultur, S. B4
  29. Seid umschlungen, Phagozyten. In Paris wird Stéphane Hessel mit dem „Prix Mychkine“ geehrt. In: Die Welt, 1. Februar 2012
  30. Der Diplomat bei Starost Film, von Antje Starost, Hans Helmut Grotjahn, Manfred Flügge Deutschland 1995, 80 Min
  31. The Diplomat. Kritik an diesem Film, Ken Eisner in Variety vom 23. Oktober 1995 (englisch), abgerufen am 4. September 2012.