Polyvagal-Theorie

Die Polyvagal-Theorie ist eine Sammlung von wissenschaftlich nicht erwiesenen evolutionsbiologischen, neurowissenschaftlichen und psychologischen Konzepten, die sich auf die Rolle des Nervus vagus in der Regulation von Emotionen, sozialen Zusammenhängen und bei der Angstreaktion beziehen. Stephen Porges untersuchte das Erleben von Sicherheit und Verbundenheit in Bezug auf das Phänomen Erstarrung/Immobilität. Die Theorie versucht die Emotionsregulation in Zusammenhang mit den Reaktionsmustern Angststarre und Tragestarre zu erklären. Er prägte den Begriff Neurozeption (als Gegensatz zur Perzeption)[1] für die ständige Prüfung der Umgebung auf Gefahren. Laut Porges aktiviert das autonome Nervensystem (ANS) je nach Einschätzung der Umgebung automatisch und nicht mental steuerbar entweder den Zustand Sicherheit/Entspannung, Kampf/Flucht oder einen dritten, die Schreckstarre als ein weiteres Verteidigungs- bzw. Überlebenssystem.[2]

Theorie

Erstmals präsentierte Porges die Polyvagal-Theorie in seiner Präsidentschaftsrede vor der Society of Psychophysiological Research in Atlanta am 8. Oktober 1994. Ein Jahr später wurde der Vortrag in der Zeitschrift Psychophysiology veröffentlicht.[3] Die Theorie postuliert ein drittes Reaktionsmuster des ANS, neben An- und Entspannung. Sie versucht zu erklären, wie sich das primitive autonome Nervensystem der Wirbeltiere über den Prozess der Evolution in das autonome Nervensystem der Säugetiere weiterentwickelte.[4]

Das autonome Nervensystem ANS schwingt zwischen hohen und niedrigen Erregungszuständen. Dafür bedient es sich zweier Subsysteme. Das parasympathische Nervensystem und sein größter Nerv, der paarige Vagusnerv, steuern ruhige Regenerationsvorgänge. Das sympathische Nervensystem steht für Aktivierung. Porges beschreibt das ANS nicht in lediglich zwei gegliederte Äste, sondern unterscheidet in seinem parasympathischen Anteil ein in der Evolution der Wirbeltiere phylogenetisch älteres dorsales, nicht myelinisiertes von einem jüngeren, myelinisierten ventralem System:

Das ANS ist nicht verhältnismäßig oder vernünftig. Es wägt seine Reaktion (siehe auch Reiz-Reaktions-Modell) nicht lange ab, wenn es ums Überleben geht. Wenn das ANS dauerhaft aktiviert ist und der Dynamikbereich hochaktiviert bleibt, dann ist der körperliche Stress anhaltend mit allen daraus resultierenden gesundheitlichen Nachteilen. Befindet sich der Mensch zu oft in dem nur für absolute Notfälle vorgesehenen Immobilitätsmodus oder im dysregulierten Dynamikbereich, treten Fettleibigkeit, Diabetes mellitus, Herzerkrankungen, sowie psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angstzustände, sowie die damit verbundenen Drogenproblematiken deutlich häufiger auf. Beeinträchtigt würden auch die höheren kognitiven Funktionen, wie das Treffen von Entscheidungen, das Lösen von Problemen, sowie das Regulieren von Emotionen.

Die Theorie betont die Bedeutung des physiologischen Zustands bei psychischen Störungen und leitet Strategien ab zur Beeinflussung der Aktivierungsmuster des ANS. Der Name „Autonomes Nervensystem“ rührt von der Annahme, es gebe keine Einflussmöglichkeit. Porges begründet seine Theorie mit Beobachtungen sowohl aus der Evolutionsbiologie als auch aus der Neurologie.

Hierarchie

Drei Organisationsprinzipien sind laut Porges zu unterscheiden. Das ANS reagiert in drei Reaktionsmustern, die in Folge aktiviert werden. Die Funktionen folgen einer phylogenetischen Hierarchie, bei der die primitivsten Systeme nur aktiviert werden, wenn die weiter entwickelten Funktionen versagen. Der physiologische Zustand bestimmt die Bandbreite des Verhaltens und folglich die psychologische Erfahrung. Bei Säugetieren dienen die Äste des „vagalen Komplexes“ unterschiedlichen evolutionären Stressreaktionen: Der primitivere Zweig soll Immobilisierungsverhalten hervorrufen. Diese Nervenbahnen regulieren Zustände und bestimmen sowohl das emotionale wie soziale Verhalten.

Neurozeption

Porges prägte den Begriff Neurozeption. Er bezeichnet die Fähigkeit des ANS – automatisch und ohne bewusste Wahrnehmung – die Umgebung laufend darauf zu prüfen, ob sie sicher, bedrohlich oder lebensgefährlich ist. Je nach Einschätzung, aktiviert das ANS einen der drei Zustände, Sicherheit (der „ventrale Vaguskomplex“ ist aktiv), Kampf/Flucht (der Sympathikus ist aktiv) oder Schreckstarre (Stupor) (der „dorsale Vaguskomplex“ ist aktiv). Anders als bei der Wahrnehmung (Perzeption) ist es hier ein Erkennen ohne Gewahrsein, ausgelöst durch einen Reiz wie Gefahr.[8]

Rezeption

Seine Erkenntnisse über das ANS fanden Berücksichtigung u. a. in der modernen Therapie von Bindungstraumata und werden von Trauma-Therapeuten wie Stephen Gilligan, Jeffrey M. Schwartz, Marianne Bentzen und Ulrich F. Lanius[9] angewandt. Auch Peter Levine und Gunther Schmidt beziehen seit Jahrzehnten seine Theorie in ihre Arbeit ein.[10]

Kritik

Die Existenz des in der Polyvagal-Theorie postulierten „vagalen Systems“ ist widerlegt.[11] Die neuroanatomische Verortung dieses Systems sowie diverse behauptete körperliche Einflüsse gelten wissenschaftlich als unplausibel.[11] Auch die in der Polyvagal-Theorie postulierte Sonderrolle von Säugetieren in Bezug auf den Vagusnerv und seine Physiologie gilt als wissenschaftlich nicht stichhaltig.[11]

Paul Grossman vom Universitätsspital stellt fest, dass die Forschung den neurobiologischen Grundannahmen widerspricht. Es sei daher höchste Zeit, den Wert der Ideen von Stephen Porges kritisch zu hinterfragen.[12] Auch in der Deutschen Zeitschrift für Osteopathie[13] wird auf die widersprechenden neurologischen Forschungsergebnisse hingewiesen. Die Wortwahl „polyvagal“ sei eine „irreführende Fehlbezeichnung“.

Literatur

  • Stephen W. Porges: Orienting in a defensive world: Mammalian modifications of our evolutionary heritage. A Polyvagal Theory. In: Psychophysiology 1995, Band 32, Nummer 4, S. 301–318 doi:10.1111/j.1469-8986.1995.tb01213.x.
  • S. W. Porges: The polyvagal perspective. In: Biological psychology. Band 74, Nummer 2, Februar 2007, S. 116–143, doi:10.1016/j.biopsycho.2006.06.009, PMID 17049418, PMC 1868418 (freier Volltext) (Review).
  • Stephen W. Porges: Polyvagal Theory: A biobehavioral journey to sociality. In: Comprehensive psychoneuroendocrinology 2021, Band 7, Nummer , S. 100069 doi:10.1016/j.cpnec.2021.100069.
  • Stephen Porges: Die Polyvagal-Theorie: Neurophysiologische Grundlagen der Therapie. Emotionen, Bindung, Kommunikation & ihre Entstehung. 2. Auflage. Junfermann Verlag, 2010, ISBN 978-3-87387-754-2.

Einzelnachweise

  1. Mathias Thimm: Der Polyvagal-Kreis, abgerufen am 28. Februar 2022
  2. Social Engagement and Attachment Annals of the New York Academy of Sciences Volume 1008, Ausgabe 1, abgerufen am 8. Juli 2022
  3. S. W. Porges: Orienting in a defensive world: mammalian modifications of our evolutionary heritage. A Polyvagal Theory. In: Psychophysiology. Band 32, Nummer 4, Juli 1995, S. 301–318, doi:10.1111/j.1469-8986.1995.tb01213.x, PMID 7652107 (Review).
  4. Nicole Franke-Gricksch: Eine kurze Einführung in die Polyvagal-Theorie, abgerufen am 28. Februar 2022
  5. Der kraniale Nervus vagus innerviert die Eingeweide bis etwa der Flexura coli sinistra. Abwärts hiervon wird die Innervation des Parasympathikus durch das Sakralmark fortgeführt. Dessen Nervenfasern treten gemeinsam mit den Rami ventrales des Plexus sacralis durch die Foramina sacralia anteriora in das kleine Becken, Pelvis minor ein. Sie werden dann als Nervi splanchnici pelvici (parasimpatici) bezeichnet. Es sind präganglionären Nervenfasern die von den Seitenhörnern der Rückenmarkssegmente S2–S4 zu den parasympathischen Ganglien ziehen. Hier erfahren sie ihre Umschaltung auf ein postganglionäres Neuron. Siehe Bernhard Tillmann, Gian Töndury, Karl Zilles (Hrsg.), Rauber & Kopsch: Anatomie des Menschen: Lehrbuch und Atlas. Georg Thieme, Stuttgart 1988, ISBN 978-3-13-111121-0, S. 365 f.
  6. Stephen Porges: The polyvagal theory: New insights into adaptive reactions of the autonomic nervous system. Cleve Clin J Med. 2009 Apr; 76(Suppl 2): S. 86–S90, doi:10.3949/ccjm.76.s2.17, PMC 3108032 (freier Volltext), hier S. 3–4
  7. Jochen Peichl: Die inneren Trauma-Landschaften. Borderline, Ego-State-Täter-Introjekt. 2. Auflage, Schattauer, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-7945-2935-3, S. 197–199; 202
  8. Stephen W. Porges: The polyvagal theory: New insights into adaptive reactions of the autonomic nervous system. In: Cleveland Clinic Journal of Medicine. Band 76, Supplement 2, April 2009, ISSN 1939-2869, S. S86–S90, doi:10.3949/ccjm.76.s2.17, PMID 19376991, PMC 3108032 (freier Volltext).
  9. Ruth Lanius, Jenna E Boyd, Margaret C Mckinnon, Andrew Nicholson, Paul A Frewen, Eric Vermetten, Rakesh Jetly, David Spiegel: A Review of the Neurobiological Basis of Trauma-Related Dissociation and Its Relation to Cannabinoid- and Opioid-Mediated Stress Response: a Transdiagnostic, Translational Approach Springer 2018, Current Psychiatry Reports 20(12):118
  10. Peter A. Levine & Stephen Porges: SE und Neuronale Abläufe (englisch/deutsch) DVD, Auditorium Netzwerk, Müllheim-Baden
  11. a b c Edwin W Taylor, Tobias Wang, Cleo A C Leite: An overview of the phylogeny of cardiorespiratory control in vertebrates with some reflections on the ‘Polyvagal Theory’. In: Biological Psychology 2022, Band , Nummer , S. 108382 doi:10.1016/j.biopsycho.2022.108382.
  12. After 20 years of "polyvagal" hypotheses, is there any direct evidence for the first 3 premises that form the foundation of the polyvagal conjectures? Abgerufen am 9. Februar 2022 (englisch).
  13. Deutsche Zeitschrift für Osteopathie. Heft 19, 2021, S. 34ff, abgerufen am 18. September 2021, DOI:10.1055/a-1345-6051, siehe auch https://www.osteopathie-liem.de/blog/kritik-an-der-polyvagaltheorie/