Benutzer:Nerd/Test

Fördern Debatten wie #MeToo diese Angst?

Die Debatte ist jedenfalls symptomatisch für unser verändertes Verhältnis zur Sexualität. In der Moderne galt der Sex als etwas Grossartiges, Beglückendes und Befreiendes, das möglichst allen ohne Angst und Schuldgefühl zugänglich gemacht werden sollte. Viele empfanden sich auf dem Weg dahin. In der Postmoderne dagegen, etwa seit den 1990er Jahren, wird der Sex, wie der Sexualwissenschafter Volkmar Sigusch bemerkt, vorwiegend als Ort des Missbrauchs, der Ungleichheit und Aggression empfunden.

Ist denn die Sexualität jemals angstfrei gewesen?

Auch in der Moderne war der Sex freilich nie unproblematisch. Aber er war ein Problem der Idealität: Verhalte ich mich frei genug? Oder zu unanständig? Das sind, schematisch gesprochen, Probleme mit dem Über-Ich, Probleme der Schuld. In der Postmoderne dagegen wird der Sex zu einem Problem des Ich: Könnte es sein, dass ich etwas Obszönes, Belästigendes bin? Daraus entsteht Angst und Scham.

Die Nachfrage nach Therapieplätzen steigt, es ist kein Tabu mehr, seine Ängste behandeln zu lassen. Ein Ausdruck der Angstkultur?

Das kann man wohl sagen. Viele Psychoanalytiker und Psychotherapeuten berichten, dass ihre Patienten seit etwa zwei Jahrzehnten deutlich veränderte Leidensformen zeigen. Wo früher neurotische Symptome vorherrschten, zeigen sich jetzt vermehrt Essstörungen, Depressionen, Burnouts, Ängste, Phobien, Aufmerksamkeitsdefizit- oder Hyperaktivitätssyndrome.

Und früher, weshalb ging man zum Psychiater?

Früher litten Menschen eher unter innerpsychischen Konflikten – etwa, weil sie sich bestimmte Dinge wünschten, die sie sich selbst andererseits versagen wollten und deretwegen sie sich unbewusst schuldig fühlten. Jetzt empfinden sie sich anscheinend eher als ganze Person peinlich oder haben Angst, so wahrgenommen zu werden. Vielleicht könnte man sagen, dass anstelle von «Schuldpathologien» heute eher «Schampathologien» vorherrschend sind. Die Schuld verhält sich zur Scham so wie die Furcht zur Angst.

Wie meinen Sie das?

Bei Angst und Scham muss immer etwas weg. Man will fliehen oder völlig von der Bildfläche verschwinden, im Boden versinken oder tot sein. Bei Furcht und Schuld hingegen muss immer etwas her: Schutzmassnahmen, Bewaffnung; Bussgeldzahlungen oder Kompensationsleistungen.

Ein Auslöser für Angst ist das Gefühl, nicht zu genügen, schlechter zu sein als andere, abgehängt zu werden. Das weckt Scham. Wie sind Angst und Scham miteinander verknüpft?

Scham ist lange Zeit als «soziale Angst» begriffen worden, also als Angst davor, von anderen missbilligt zu werden. Darum hielten Anthropologinnen wie Margaret Mead und Ruth Benedict die Scham für ein «aussengeleitetes», fremdbestimmtes Gefühl – im Gegensatz zur Schuld, die sie als «innengeleitet» begriffen; das heisst: als Wirkung der eigenen, inneren Stimme des Gewissens. Nun lässt sich aber leicht zeigen, dass dies ein Irrtum ist.

Scham

Einen Irrtum sieht Pfaller in der Behauptung der Anthropologie, bei der Scham gehe es um Anschuldigungen von Außen (auf die Meinung anderer gerichtet), bei der Schuld um welche von innen (Anordnung des eigenen Gewissen); diese stützt sich auf Margret Meads und fand in den 1930er Jahren breite Rezeption. Scham ist genauso innengeleitet wie die Schuld, sie stützt sich aber auf Äußerlichkeiten (Toilettefehler, Fleck auf dem Hemd). Bei Scham ist man ist auf ein Sein bezogen und ihre positive Wendung ist der Stolz (bei der Schuld die Würde). Die Scham ist selber schamhaft und sie verbirgt darum sich unter andern Masken (Prahlerei, krankhafter Ehrgeiz). Heute ist die Scham ein Distiktionsmerkmal. Die Scham ist einem selbst immer ein bisschen fremd, man kann sie eigentlich niemand Dritten auftragen. Die Scham bricht aus, wenn die Menschen nicht mehr so tun können, als hätten sie nichts gemerkt. Dieses Theater täuschte niemand wirklich, es hat keinen wirklichen Adressaten, sondern wird inszeniert für eine innerpsychische Beobachtungsinstanz; diese urteilt nur nach dem Augenschein („naiver Beobachter“, von Pfaller so genanntes „Unter-ich“). Dies ist ein wesentlicher Unterschied zum Überich, das auch unsere Absichten oder die nicht gemachten Handlungen kennt. Wenn, wie bei der Cancel-culture etwas weg muss, dann ist etwas Zuviel da. Ein Irrtum bei der Scham ist es wäre ein Abstand zum ideal, der nicht erreicht werden kann. Das Grundgefühl der Scham ist: ich bin ein Überfluss in der Gesellschaft, ich bin ein Zuviel.

Vortrag

Das Leid wurde nach oben verteilt und auch die Schuld an den Missständen


Der Kampf, der hier geführt wird, richtet sich gegen Marxisten, die es wagen die Klassenfrage zu stellen, gegen Feministinnen, die es wagen die Geschlechterfrage zu stellen und gegen bürgerliche Theoretiker die in der Tradition der Aufklärung stehen.

  1. Birgit Schmid Robert Pfaller: Wenn man die ganze Zeit nur damit beschäftigt ist, sich vor dem Tod zu schützen, hat man bald kein Leben mehr. NZZ, 3. Januar 2023, abgerufen am 11. März 2024.
  2. Klaus Nüchtern in FALTER 22/2022 vom 03.06.2022 (S. 25): "Scham ist eine Ressource der Solidarität". Abgerufen am 11. März 2024.
  3. Josef König: »Weil du es kannst, kann ich es nicht«. Abgerufen am 11. März 2024.