Pjotr Alexejewitsch Kropotkin

Kropotkin, Aufnahme Nadar

Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (russisch Пётр Алексеевич Кропоткин, wiss. Transliteration Pёtr Alekseevič Kropotkin; * 9. Dezember 1842 in Moskau; † 8. Februar 1921 in Dmitrow) war ein russischer Anarchist, Geograph und Schriftsteller.

Aufgrund seiner Abkunft aus dem russischen Hochadel und da er einer der prominentesten Anarchisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war, war er bei denjenigen, die ihn kannten, als der anarchistische Fürst bekannt. Er hinterließ viele Schriften, darunter die revolutionäre Schrift Die Eroberung des Brotes und sein wissenschaftliches Werk Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt. Als gelernter Naturwissenschaftler versuchte Kropotkin eine den systematischen und wissenschaftlichen Kriterien standhaltende Theorie des Anarchismus zu entwerfen. Er gilt dabei auch als einer der Mitbegründer des kommunistischen Anarchismus. Er kämpfte für eine anarchistisch-kollektivistische Gesellschaft, die frei wäre von einer potenziell diktatorischen Regierung.

Biographie

Pjotr Kropotkin wurde als Sohn von Fürst Alexei Petrowitsch Kropotkin in Moskau geboren. Er war somit einer der Nachkommen der berühmten Rjurikiden. Seine Mutter, Tochter eines Generals in der russischen Armee, hatte für ihre Zeit ebenso bemerkenswert liberale Ansichten wie ein ausgesprochenes Interesse an Literatur. Sie starb jedoch an Tuberkulose, als Kropotkin gerade 4 Jahre alt war, und seine Kindheit war im weiteren geprägt durch den autoritären Vater und die Stiefmutter, die ihren Stiefkindern keine Gefühle entgegenbringen konnte. Liebe bekamen Pjotr und sein ein Jahr älterer Bruder Sascha (Alexander) nur von den Leibeigenen der Kropotkins.

1857 im Alter von fünfzehn Jahren trat Pjotr Kropotkin in die St. Petersburger Kadettenschule ein. Die Schule galt als Ausbildungsort, an dem der russische Hochadel seine Kinder auf zukünftige Karrieren in Militär und Verwaltung vorbereitete. Im Jahre 1862 beendete Kropotkin als einer der ersten seines Jahrgangs die Ausbildung.

Bis zum Verlassen der Schule 1862 folgte Kropotkin größtenteils seinen eigenen Interessen. Er beschäftigte sich intensiv mit den französischen Enzyklopädisten und französischer Geschichte, insbesondere mit der französischen Revolution. Die liberalen und republikanischen Tendenzen, die in jener Zeit in der russischen Oberschicht aufkamen, entgingen ihm ebenso wenig. Auch vertiefte sich sein Interesse am Leben der russischen Landbewohner in dieser Zeit.

Nach seinem Eintritt in die russische Armee ließ sich Kropotkin, ungewöhnlich für seine gesellschaftliche Klasse, in ein sibirisches Kosakenregiment in der neu eroberten Amur-Region versetzen. Im Dienst unter dem liberalen General B. K. Kugel hatte Kropotkin die Möglichkeit sich mit weiterer sozialistischer Literatur auseinanderzusetzen, da Kugel u.a. über eine komplette Sammlung der Werke von A.I. Herzen verfügte.

Außerdem nutzte Kropotkin die dort ziemlich ereignislose Zeit, um ausgedehnte geographische Forschungen anzustellen, die seinen Ruf als Naturwissenschaftler begründeten. Auch durch die gescheiterten Versuche, wirkliche Veränderungen der sibirischen Verwaltung durchzusetzen, kam Kropotkin zu der Überzeugung, dass wirkliche politische Veränderung innerhalb des oder durch den Staatsapparat nicht möglich wäre.

1867 kehrte Kropotkin nach St. Petersburg zurück. Er schrieb sich an der Universität St. Petersburg ein. Gleichzeitig wurde er Sekretär der Sektion für physische Geographie in der Russischen Geographischen Gesellschaft. In den darauf folgenden Jahren publizierte er wichtige Arbeiten über das Amur-Gebiet und über Gletscher-Ablagerungen in Finnland und Schweden. Als ihm jedoch die Russische Geographische Gesellschaft den Posten ihres Sekretär anbot, war in Kropotkin schon die Überzeugung gereift, dass es eher seine Pflicht wäre sein Wissen einzusetzen um dem leidenden Volk zu helfen. Er schloss sich lieber revolutionären Kreisen an.

1872 reiste Kropotkin in die Schweiz und wurde Mitglied der libertären Juraföderation in Neuchâtel. Dort nahm er endgültig seine anarchistischen Überzeugungen an und nach seiner Rückkehr nach Russland betätigte er sich intensiv an anarchistischer und nihilistischer Propaganda.

1874 wurde er verhaftet, konnte aber zwei Jahre später aus der Peter-und-Paul-Festung in St. Petersburg fliehen. Nach unruhigen Zeiten zwischen London, Paris und der Schweiz wählte er 1878 seinen Wohnsitz in der Schweiz, wo er die Zeitung La Révolté der Jura-Föderation betreute und eigene Schriften veröffentlichte.

In den folgenden Jahren wurde er auf russischen Druck aus der Schweiz ausgewiesen und in Frankreich zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Öffentlicher Druck erreichte nach drei Jahren seine Freilassung und ermöglichte es Kropotkin sich in London niederzulassen, wo er das Leben eines Privatgelehrten führte. In Paris erschien nach wie vor seine Zeitschrift unter dem Titel "La Révolte", die darin enthaltenen Aufsätze fasste er 1892 in dem Buch „Die Eroberung des Brotes“ zusammen, auch sein wichtigstes theoretisches Werk „Gegenseitige Hilfe“ schrieb er dort, das eine Gegenthese zum Sozialdarwinismus seiner Zeit aufstellte. Anhand zahlreicher Beispiele aus Natur und Geschichte versuchte er nachzuweisen, dass die erfolgsreichste Strategie in der Evolution auf gegenseitiger Hilfe und Unterstützung und eben nicht auf dem Überleben des Stärksten beruhte. Außerdem schrieb er in London u.a. „Der Wohlstand für alle“, „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk“, „Die französische Revolution“ und „Ethik.“ Er verfasste auch Artikel für „The Times“ und „Nature“ und fast alle Beiträge über Rußland in der „Encyclopedia Britannica.“ Schließlich gründete er auch die Zeitschrift „Freedom“ und den Verlag Freedom Press.

1917 kehrte Kropotkin nach der Februarrevolution nach Russland zurück. Danach erklärte er, dass der russische Einsatz im Ersten Weltkrieg weitergeführt werden sollte. Lenin hatte stets die konsequente Beendigung der Kämpfe gefordert, womit er viele Anhänger unter der demoralisierten Bevölkerung gefunden hatte.

Die Bolschewisten versuchten nach ihrer Machtübernahme, den Einfluss des Freiheitsdenkers zu reduzieren; aufgrund seiner Popularität in der Arbeiterbewegung konnte er jedoch ein relativ freies Leben führen. Seine von mehreren zehntausend Menschen besuchte Beerdigung 1921 war die letzte Massenveranstaltung oppositioneller Kräfte in der Sowjetunion bis 1990. Viele Teilnehmer wurden extra für dieses Ereignis vorübergehend aus der Haft entlassen.

Kropotkin wurde für sein weites Wissen und die Güte seines Charakters von Freund und Feind gelobt. Er galt als Autorität über russische Naturkunde und hat viele Beiträge (darunter den über Anarchismus) für die Encyclopedia Britannica verfasst. Trotz seines stetigen Wirkens musste er aber auch mit ansehen, wie die Idee einer anarchistischen Revolution in seiner Zeit immer mehr an Bedeutung verlor.

Theorie des wissenschaftlichen Anarchismus

Gegenseitige Hilfe in der Tierwelt

Kropotkin setzt mit einer einheitlichen Methodologie (wie sehr viele darwinistische Wissenschaftler seiner Zeit) das Wachstum der Menschheit mit dem zielgerichteten Wachstum einer sich entfaltenden Blume voraus, die nach höchster Komplexität strebt, denn Blumen und Menschen sind ein Teil einer biologischen Natur in den Rahmenbedingungen der Chemie, die sich in den Rahmenbedingungen der Physik und der Naturgesetze abspielt, die in den Rahmenbedingungen des Kosmos gelten, so die Wissenschaftstheorie zur damaligen Zeit.

Er sammelt, von einfachen Tierarten aufsteigend, Informationen über arterhaltende Eigenschaften bei staatenbildenden Ameisen und Bienen und nicht staatenbildenden Insekten, bei Vögeln und schließlich bei Säugetieren. Gemeinsame Jagdstrategien, die Aufzucht von Jungtieren, gegenseitiger Schutz in Ansammlungen, Herden und Rudeln, die Sorge um kranke Artgenossen und die rituelle Konfliktvermeidung innerhalb einer Art weisen auf die Geselligkeit und nicht auf den Kampf ums Dasein als Antrieb zur Evolution hin. Die konstante Größe einer Tierart wird eher durch Klimaschwankungen und Krankheiten und weniger durch den Kampf innerhalb einer Art ausgelöst, was Kropotkin mit Hinweis auf Büffel, Pferde und Raubtiere in Nordamerika belegt, die nicht unter Nahrungsknappheit leiden, sondern im Überfluss schwelgen. Dies widerspricht der Geltung des arithmetischen Gesetzes (Malthus), von dem die Evolutionswissenschaftler seiner Zeit überzeugt sind: Während die Umwelt von einer Population nur linear erschlossen werden kann (dies entspricht dem linearen Angebotswachstum des Marktes in der Zivilisation), wächst die Population selber exponentiell (nimmt die Nachfrage exponentiell zu), was zum innerartlichen Kampf ums Überleben führt. Dieses Naturgesetz (und seine Übertragung auf kapitalistische Gesellschaften als Kulturgesetz) sieht Kropotkin als Ausgeburt einer Rechtfertigungsideologie des Sozialdarwinismus. Er belegt, dass vielmehr eine Entwicklung zur Kooperation dominiert, selbst Raubtiere können bei der gemeinsamen Jagd mehr erbeuten, als die Summe der Beute von jagenden Einzelgängern ergibt. Der Hauptaspekt ist das Naturgesetz der gegenseitigen Hilfe als Ergebnis von Geselligkeit und Individualismus und nicht der Nebenaspekt des Kampfes ums Dasein unter dem Druck kurzfristiger Notzeiten.

Gegenseitige Hilfe in der Menschenwelt

Clangesellschaften: Erst durch die gesellschaftlich organisierte Bedürfnisbefriedigung von biologisch verankerten Bedürfnissen wird aus dem unbewussten Tier ein bewusster Mensch, der seine unmittelbare Umwelt geistig erfasst. Kropotkin setzt wie Marx ein Geschichtsgesetz voraus, nach dem sich Gesellschaften lediglich zeitlich verschoben von Entwicklungsstufe zu Entwicklungsstufe entwickeln. Für ihn sind die Zwischenphasen zwischen Urgemeinschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalgesellschaft und kapitalistischer Gesellschaft wichtiger, in denen die Formen der Institutionalisierung der gegenseitigen Hilfe entwickelt werden, die die einzelnen Gesellschaftsstufen überlagern.

Naturvölker sind auf der Basis ihres unreflektierten Erbes in Clans organisiert, in denen Gemeineigentum herrscht, die Beute geteilt wird, Individualismus unbekannt ist und die öffentliche Meinung die einzige Form von Gewalt ist. Die Zusammenarbeit, schon bei Vormenschen kein Nullsummenspiel, wird durch die Institutionalisierung von sozialen Regeln verbessert. Huxleys Interpretation der unzivilisierten Wilden, die Kannibalismus, Kindstötung und das Aussetzen von Greisen praktizieren, widerlegt er mit gegenteiligen Informationen über Kannibalismus als (religiös motivierter) Ausnahmefall, Kindstötung nur aus allerhöchster Not und dem freiwilligen Zurückbleiben von Greisen in Notzeiten, die nicht das Leben des ganzen Clans nicht aufs Spiel setzen wollen – ein Indiz für die tiefere Verwurzelung der sozialen Triebe als des Selbsterhaltungstriebs.

Familien sind nicht, wie Thomas Henry Huxley meint, vorbewusste Grundeinheiten, zu denen sich bewusstseinslose Wesen im Laufe der Evolution zusammen finden, die räuberisch andere Familien der eigenen Art beschleichen, dabei Bewusstsein entwickeln und erst im Laufe der Menschwerdung Clans, Stämme, Völker und Nationen bilden. Die Formen des Zusammenlebens in Clangesellschaften werden im Gegenteil erst sehr spät von Familienbildungen überlagert, hochkomplexen Einheiten, die die Geselligkeit und Individualität in dem Sinne ausformen, dass die Gesellschaft optimal wachsen und mit Familien die Nischen schließt, die durch die komplexere Organisation entstanden sind. Kropotkins Untersuchungen belegen eine stärkere menschliche Entwicklung vom Allgemeinen zum Besonderen, die in einem zweiten Schritt wieder auf das Allgemeine übertragen wird (Deduktion), in herkömmlichen Evolutionstheorien menschlicher Gesellschaften verläuft, so seine Kritik, die Entwicklung eher vom Besonderen zum Allgemeinen, wobei das Besondere, die tierische Aggressivität, immer wieder durchbricht (Induktion). In ihnen ist das "Böse" in der menschlichen Natur verwurzelt und nicht die Folge gesellschaftlicher Fehlentwicklungen.

Nach Kropotkin ist die Geschichte der Menschheit nicht die Geschichte ihrer Kämpfe, sondern die Geschichte ihrer Institutionalisierung, ihrer gesellschaftlichen Organisation der Bedürfnisbefriedigung. Die Clangesellschaften sorgen für ein höheres Maß an Geselligkeit und Individualismus im Vergleich zu den vorbewussten humanoiden Rudeln, die sich eins fühlten mit der sie umgebenden Natur (harmonischer Naturzustand, vgl. Erich Fromm) und schaffen Platz für die Entwicklung von Kreativität und freier schöpferischer Arbeit. Sie verwirklichen den harmonischen Urzustand auf einer höher entfalteten Stufe.

Die Dorfmark der Barbaren: Die Dorfmark sorgt für ein höheres Maß an Geselligkeit und Individualismus als die Clangesellschaften und erhöht die Produktivität durch eine Erweiterung des Betätigungsfeldes für schöpferische Arbeit. Sprachuntersuchungen und -vergleiche der Ethnologie belegen nach Kropotkin, dass aus der Clan-Gesellschaft die Dorfmark hervorgegangen ist. Klimatische Veränderungen ermöglichen Landwirtschaft und Viehzucht, die als höherorganisierte Produktionsform die Jagd als alleinige Lebensgrundlage abschafft. Die vergleichende Ethnologie weist auf die Beschränkung des Privateigentums auf persönliche Dinge und die öffentliche Gewalt der Institution der Volksversammlung (Thing) hin, in der, der Kraft des besseren Argumentes zufolge, gemeinsam und gleichberechtigt die Arbeitsbeiträge der einzelnen Mitglieder festgelegt werden. Das gesprochene Wort ist bindend, notfalls schlichten Vermittler. Die Dorfmark bezieht sich auf ein festgelegtes Gebiet und kann bei gleichzeitiger Ausdehnung der Gemeinschaft Völkerwanderer integrieren. Die Landwirtschaft erreicht eine Produktivität wie im 19. Jahrhundert, die Hausindustrien boomen, Dorfmarken vernetzen sich zu Stämmen, und Stämme wachsen zu Völkern zusammen. Eine hochentwickelte Form der Dorfmark stellt das Städtebündnis im antiken Griechenland mit dem Aufschwung des Handwerks, der Künste und der Wissenschaften durch das Mehr an Möglichkeiten zur freien, schöpferischen Arbeit dar. Schutzverpflichtungen gegenüber ihren Mitgliedern außerhalb des eigenen Gebietes wie bspw. für Händler deuten schon auf die späteren Gilden hin.

Die Dorfmark trägt allerdings auch den Keim zur Entwicklung der Sklavenhaltergesellschaft in sich, denn durch die Vorratshaltung entsteht ein Reichtum, der Räuber lockt. Durch die Aufgabenteilung, die sich herausbildet, entstehen Kriegshäuptlinge, die ihre Macht missbrauchen, Reichtum anhäufen und erst Kriegsgefangene und später Verschuldete aus der eigenen Dorfmark versklaven.

Die Gilden: Da das Gewohnheitsrecht verschiedener Dorfmarken voneinander abweicht, entsteht ein Bedarf an Vermittlung bei übergreifenden Konflikten, was zur Entwicklung einer eigenständigen Exekutive führt, die für viele Dorfmarken zuständig ist. Unter der Sklavenhaltergesellschaft (Sklaven sind unmotiviert) und der Feudalgesellschaft (Bauern sind motivierter, sie arbeiten trotz Steuer- und Fronlast selbstbestimmt) kommt es zunächst zu einem Rückschritt im Prozess der Institutionalisierung. Erst in den mittelalterlichen Städten entfaltet sich nach Beseitigung der feudalen Herrschaft das soziale Leben. Ein einheitliches Denken und Handeln zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der Initiative bei der zunehmenden Arbeitsteilung wird durch die Bildung von Gilden optimiert (freie Menschen sind am motiviertesten, sie zahlen gerne Steuern für ihr Gemeinwesen). Die allgemeinverbindlichen Institutionen der Clangesellschaften waren durch die Institutionen der Dorfmark überlagert worden, die Institutionen der Dorfmark, die in den einzelnen Stadtvierteln noch erhalten geblieben war, werden nun durch die Institutionen der Gilden, Zünfte und entstehenden Gewerke überlagert.

Gilden sind selbstverwaltet und haben eine eigene Gerichtsbarkeit, alle Mitglieder sind gleichberechtigt, sie entstehen in allen Lebensbereichen, ob als Bettler-, Handwerker- oder Händlergilden, auch als Vereinbarungen auf Zeit. Jede Gilde verwirklicht ein brüderliches Ideal und tritt bspw. als gemeinsamer Käufer der Rohstoffe und Werkzeuge und als gemeinsamer Verkäufer der von ihnen hergestellten Produkte auf. Die Mitglieder arbeiten für ihre Gilde und nicht für einen anonymen Markt. Als politische Macht haben sie ein erhebliches Mehr an Freiheiten verwirklicht und beispielsweise die 48-Stunden-Woche und den Halbfeiertag am Samstag als alte mittelalterliche Institutionen durchsetzt – Stadtluft macht frei. Die Institutionalisierung der Gilden schafft in kürzerer Zeit mehr Reichtum, befriedigt die Bedürfnisse nach Geselligkeit und Individualismus intensiver und institutionalisiert das Prinzip der gegenseitigen Hilfe den gewachsenen Ansprüchen entsprechend komplexer als die Dorfmark.

Staatenbildung und Initiativenraub: Innere Widersprüche schwächen die freien Städte, denn man legt zuviel Wert auf den Handel, beutet die Bauern aus, unterscheidet zwischen einfachen Einwohnern und honorigen Bürgern. Der fehlende Anspruch auf Gleichheit schwächt die Kooperations- und Verteidigungsbereitschaft gegen die Bildung von Zentralstaaten, die einst selber aus Städtebündnissen hervorgegangen waren. Diese zerstören die Netzwerke gegenseitiger Hilfe, indem sie den Gemeinbesitz privatisieren und die Gilden verbieten, um nur keinen Staat im Staate entstehen zu lassen. Selbst Protestanten, die sich, das Ideal der Brüderlichkeit vor Augen, gegen das scholastisch verkrustete Gottesgnadentum der Herrschaft gewendet hatten, werden von der Staatenbildung erfasst und ihrer Initiative beraubt, die tief verwurzelte Gemeinschaftlichkeit durch berechnendes Verhalten ersetzt. Die Staatsbildung ist wie schon die Sklavenhalter- und die Feudalgesellschaft ein Rückschritt des Institutionalisierungsprozesses, erzeugt durch ihre Hierarchisierung den Konkurrenzkampf und steigert damit den Egoismus, der sich der Gesamtverantwortung aus Eigeninteresse entzieht. Während es in der Dorfmark eine Schande wäre, zu essen, ohne dreimal zu fragen, ob noch jemand anderes Hunger hat, muss der moderne Bürger nur noch seine Steuern zahlen und dezent mit den Schultern zucken, sobald er Not sieht.

Traditionen gegenseitiger Hilfe: Bis in die zweite Hälfte des vorletzten Jahrhunderts haben sich in einigen ländlichen Gemeinden noch Prinzipien der Dorfmark halten können. Genossenschaften und Syndikate zum gemeinschaftlichen Erwerb von Dünger oder zur Finanzierung einer Wasserpumpe für alle entsprachen als moderne Mittel den Bedürfnissen nach Geselligkeit und Individualismus. Je mehr sich solche Netzwerke freier Verbände zu allen möglichen wirtschaftlichen Zwecken auch in den Städten verbreiten, desto mehr verliert der Staat an Macht, prophezeit Kropotkin. Im Deutschland seiner Zeit lobt er die Kegelbrüder, deren Mitglieder zwar nichts als die Liebe zum Kegeln gemeinsam haben, bei denen aber das Prinzip der gegenseitigen Hilfe erhalten blieb bzw. neu erfunden wurde, und den Fröbelverein, der das System der Kindergärten einführte.

Die Befriedigung von Geselligkeit und Individualität, die mit dem Aufkommen von Familien innerhalb des Clans begann, wird das Entstehen neuer Institutionen begünstigen, die im Laufe der Zeit ihre Aktivitäten weltweit ausdehnen und Nischen schaffen werden für die Entstehung von Nachbarschaftshilfen, Freundschaften und Darlehen. Die Fortschrittlichkeit einer Organisationsform wie der Clans, der Dorfmarken, der Gilden, der Vereinigungen und der Genossenschaften lässt sich von ihrem Beitrag zur Entwicklung der Zivilisation ableiten.

Großindustrie und Kleinunternehmen: Kropotkin sieht im Unterschied zu Marx im Entwicklungsgesetz der Konzentration des Kapitals zur Entwicklung der Massenindustrie große Chancen für die Entstehung von Zulieferer-, Weiterverarbeitungs- und Transportunternehmen. Baumwollspinnereien erzeugen bspw. eine Nachfrage an Spulen, der erst mit Handarbeit und später mit Hilfe einfacher Maschinen befriedigt wird. Sie überleben trotz längerer Arbeitszeiten und schlechterer Arbeitsbedingungen als Großunternehmen, weil viele Menschen die Arbeit in der Klitsche der Maloche im Großunternehmen vorziehen, um ihrem Bedürfnis nach Geselligkeit und individueller Kreativität gerechter zu werden. Durch die flexibleren Strukturen sind Kleinunternehmen innovativer, können technische Neuerungen schneller aufnehmen, ihre Produktvielfalt ist größer und sie können sich an den Wandel der Umwelt flexibler anpassen.

Großunternehmen sind eigentlich nur Ansammlungen besonderer Industrien unter einer hierarchischen Leitung und dem exzessiven Diktat von Maschinen. Ihr Nachteil besteht in der mangelnden Flexibilität beim Wandel der Umwelt, den sie durch die von ihnen hervorgerufenen Über- oder Unterproduktionskrisen immens beschleunigen. Ihr Vorteil besteht beim verbilligten Einkauf von Rohmaterialien und dem effektiveren Warenverteilung. Diese Vorteile können durch die Bildung von Genossenschaften ausgeglichen werden, die bspw. wie im Sheffield des 19. Jahrhunderts gemeinsam eine Dampfmaschine kaufen und zur effektiveren Energieversorgung ihre Messerunternehmen um diese herum ansiedeln.

Schon vor über 100 Jahren bewiesen die schnellen Fortschritte Deutschlands, Italiens und Spaniens, dass mit dem zunehmenden technischen Fortschritt unterindustrialisierter Länder die jeweiligen Absatzmärkte wegbrachen und ehemalige Absatzgebiete zu Konkurrenten wurden. Die Entwicklung elektrischer Geräte wird laut Kropotkin Heimwerkerstätten in jedem Haushalt entstehen lassen, was dem Arbeiter eine freie Zeiteinteilung erlaubt, die Dezentralisierung und Initiative fördert, damit die Freiheit der einzelnen erweitert und zu einer gleichzeitigen Beschränkung des Welthandels auf das Nötigste führt.

Gemeineigentum und bedürfnisorientiertes Verteilungsprinzip: Das Prinzip der gegenseitigen Hilfe lässt sich seiner Meinung nach am besten in kleinen sozialen Einheiten verwirklichen, die dezentral und gleichberechtigt vernetzt sind. Ihre Funktionstüchtigkeit wird durch freie, jederzeit kündbare Vertragsverhältnisse ohne übergeordnete Instanzen angetrieben, weil die Freiwilligkeit die soziale Initiative und Lust am freien Schöpfen stärkt.

Dies Prinzip einer freien Vereinbarung ohne übergeordnete Instanzen sah er im englischen Pendant zum DGzRS verwirklicht. Ebenso wurde die Verwaltung und der Ausbau des Schienennetzes zu seiner Zeit nicht von einer übergeordneten Instanz geregelt, sondern durch freie Vereinbarungen der zahlreichen Eisenbahngesellschaften, Briefe können ohne eine Weltpostbehörde zuverlässig verschickt werden, Börsenmakler halten sich an mündliche Vereinbarungen, um nicht ausgeschlossen zu werden. Die freien Vereinbarungen der Jägerclans, der Dorfmarken, der Gilden, Gewerkschaften und Genossenschaften finden ihre Fortsetzung in den freien Vereinbarungen der dezentral miteinander vernetzten Lebens- und Produktionseinheiten.

Die Forderung nach dem Gemeineigentum an Produktionsmitteln ergibt sich aus ökonomischer Sicht aus der chaotischen Produktionsweise des Kapitalismus und aus der Tatsache, dass man in einer Kollektivzivilisation nicht mehr die anteilige Leistung bei der Herstellung der Produkte feststellen kann, weil alles in Kollektivarbeit entstand und entsteht und seinen Ursprung sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart hat. Unter diesen Bedingungen ist der Konsum nicht mehr ein Luxus, sondern bedeutet auch die Wiederherstellung der Arbeitskraft, denn nur ein ausgeruhter Arbeiter garantiert den Lauf der Maschinen. Dadurch verschwindet der Unterschied zwischen Arbeit und Konsum, und ein noch so gerechter Lohn, der der erbrachten Arbeitsleistung entspricht, kann nicht mehr bestimmt werden. Auch der Wert eines Produktes kann nicht mehr wie in der Volkswirtschaftslehre von der in ihm enthaltenen Arbeit bestimmt werden, denn neben der Arbeitszeit, die im Produkt nicht mehr nachvollziehbar verkörpert ist, können auch die individuelle Arbeitsfähigkeit, der Erlebniswert, der Erschöpfungsfaktor und viele andere individuell unterschiedliche Einflüsse nicht mehr abgeschätzt werden. Man kann konsequenterweise den Wert eines Produktes nur noch aus dem Anteil an seiner Bedürfnisbefriedigung ableiten. Daraus ergibt sich die Forderung der bedürfnisorientierten Güterverteilung nach dem Prinzip: Jedem nach seinen Bedürfnissen.

Wenn alles allen gehört, entfällt der Grund für Vandalismus, Egoismus, Habgier, berechnendes Verhalten und Unterdrückung. Es könnte sehr viel Arbeitsenergie freigesetzt werden, die in der Bürokratie, der Polizei, dem Militär und dem Gesundheitswesen gebunden ist. Die Befriedigung des Bedürfnisses nach schöpferischer Arbeit wäre die Motivation für die freie Initiative und nicht der Wille nach einem hohen Lohn, der an die Stelle der Initiative die Berechnung setzt und dadurch die natürliche Sittlichkeit und Solidarität zerstört.

Das macht die Produktion für privaten Zwecke überflüssig, durch die sich der Zwang zur Arbeit bspw. zum Anhäufen von Eigentum zum Triumph über den Nächsten durchsetzen würde. Durch Gemeineigentum an Produktionsmitteln und die freie Verfügbarkeit eines jeden über die erzeugten Produkte würde sich das Verhältnis von Produktion und Konsum umdrehen, es müssten keine Bedürfnisse mehr künstlich produziert werden. Umgekehrt wären vorhandene natürliche Bedürfnisse der Ausgangspunkt für die Produktion, und die im Produktionszweig der Bedürfnisproduktion gebundene Arbeitsenergie könnte sich ebenfalls frei entfalten. Da die Produktivkraft dem arithmetischen Gesetz zum Trotz immer schneller als der Bedarf wächst, werden tendenziell immer mehr Güter umsonst benutzt wie bspw. die Infrastruktur, Brücken, Straßen oder Parkanlagen.

Logische Folgerung ist die Aufhebung der Arbeitsteilung, die die Arbeit unerträglich macht, die Intelligenz abstumpft und die Initiative und die schöpferische Erfindungsgabe zerstört. Die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit verantwortet die Entwicklung von technischen Neuerungen, deren Nutzen erst anschließend von der Wissenschaft geklärt werden muss, analog zur Produktion und Bedürfnisproduktion. Eine neue Form der Ausbildung soll die Ablehnung der Arbeitsteilung widerspiegeln und Grundlagen und Fähigkeiten zum Erkennen und Beurteilen von Problemstellungen zur Entwicklung einer emotionalen Einstellung zur schöpferischen Arbeit vermitteln. Dank des technischen Fortschritts werden anstrengende, eintönige und unangenehme Arbeiten verschwinden und von Haushaltsmaschinen, Zentralheizungen und den öffentlichen Nahverkehr übernommen werden, und die Arbeit wird zu einer schöpferischen Tätigkeit und durch die Initiative zur gegenseitigen Hilfe motiviert. Geeignete Vorbilder können den Übergang zur anarchistischen Lebensweise beschleunigen. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten diese Maßnahmen Wohlstand für alle mit einem Recht auf vier bis fünf Stunden tägliche Arbeitszeit ermöglicht, denn die anarchistische Gesellschaftsform mit dem Gemeineigentum an Produktionsmitteln und der bedürfnis- und nicht leistungsorientierten Verteilung der gemeinschaftlich hergestellten Produkte ist den feudalistischen und kapitalistischen Gesellschaftsformen überlegen und nimmt diesen die Existenzgrundlage, weil sie eine bedürfnisgerechte Ordnung ohne Herrschaft bedeutet, die die Voraussetzung für Freiheit ist und den harmonischen Urzustand, der in der Natur des Menschen angelegt ist, auf einer höheren Stufe entfaltet, so Kropotkins optimistische Annahmen.

Kritik

Historischer Hintergrund: Der Begriff "Anarchie" (anarchos) bedeutete bei Homer noch sachneutral „Ohne Heerführer“, bei Platon macht die Anarchie als Ausgeburt der Demokratie die Polis unregierbar, Erasmus von Rotterdam verwendet 1900 Jahre später den Begriff „Anarchie“ als Gegengewicht zur „Tyrannis“, beides Entartungen des Staates, und während der Französischen Revolution beschimpft man Frühsozialisten, die die Gleichheit des Eigentums anstreben, als Anarchisten. Schon 40 Jahre später gibt Proudhon, der die Freiheit von staatlicher Willkür anstrebt, dem Schmähwort eine positive Deutung. Bakunin entwickelt wenig später die Idee des Negativen, das der Herrschaft absolut entgegengesetzt wird, und ergänzt diese Idee mit der Methode der Propaganda durch die Tat. Nach der Zerschlagung der Pariser Kommune beginnen manche Anarchisten ganz praktisch im individuellen Terror eine Widerstandsform zu sehen. Zu nennen ist vor allem der Netschajewismus, dem der ehemalige Revolutionär Dostojewski in seinem Roman „Die Dämonen“ ein kritisches Denkmal setzt. Kropotkin gilt als Gegenpol dieser terroristischen Kreativität der Destruktion, die u.a. auch Tolstoj und Plechanow ablehnen.

Im Russland seiner Zeit war die politische Macht im Sinne des byzantinischen Caesaropapismus geregelt, in dem der Adel nach strikten Weisungen von oben aus der Ständepyramide in der Bürokratie oder im Militär eingesetzt wurde. Korruption und Willkür aufgrund von Armut hatten einen unerträglichen Normalzustand etabliert, der im Jahre 1825 zum gescheiterten Dekabristenaufstand geführt hatte. Zar Nikolaus I. hatte die Ordnung mit dem Aufbau eines Polizeistaates wieder hergestellt, worauf das russische Bildungsbürgertum mit noch mehr Misstrauen und Respektverlust reagierte. Mit inbrünstiger Gläubigkeit wandten sich viele unzufriedene Intellektuelle vom geistigen Dogma der Kirche und des Zaren ab und ersetzten es durch das materielle Dogma der Wissenschaften. Sie sahen als Alternative zum bestehenden zaristischen Reich eine dezentral organisierte Gesellschaft, die auf der Grundlage der russischen Dorfgemeinschaft des MIR, in welcher die Bauern gemeinschaftlich über die Verteilung von Land, Gütern und Steuerbelastungen entschieden, aufgebaut werden sollte (der Mir wurde von der Intelligencija wegen Kontaktmangel zum Bauernstand idealistisch überbewertet). Die historische Entwicklung interpretierten sie, begeistert von der hegelschen und marxistischen Gesellschaftswissenschaft, als einen einheitlichen Prozess in den Rahmenbedingungen einer einheitlichen Naturwissenschaft, die sich als einheitliche Gesetzmäßigkeit auf die Gesellschaft übertragen ließ. Tschernyschewski hatte eine auf Liebe und nicht auf Konkurrenz gegründete Wirtschaftstheorie entworfen, Herzen und Belinski hatten von Saint-Simon und Charles Fourier die Vorstellung der permanenten gesellschaftlichen Bewegung übernommen, von der sich ein Naturrecht ableiten ließ, das statt auf Lohnarbeit auf die schöpferische freie Arbeit als Antrieb für den gesellschaftlichen Fortschritt setzte. Die Freiheit der Persönlichkeit war danach die Voraussetzung für Bewegung, Bewegung die Voraussetzung für Fortschritt, und Fortschritt die Voraussetzung für den Endzustand des Sozialismus als naturgesetzliches Ergebnis der Bewegung. Diese wissenschaftsgläubigen Überlegungen sind auch grundlegend für den Anarchismus in Kopotkins Theorie.

Wissenschaftsmonismus: Kropotkins Wissenschaftsgläubigkeit und die Wahl der physikalisch begründeten induktiv-deduktiven Methodologie zur Untersuchung der biologischen und gesellschaftlichen Entwicklung ist vor diesem Hintergrund leicht nachzuvollziehen. Doch seine Fixierung auf diese eine wissenschaftliche Vorgehensweise ließ ihn nicht erkennen, dass er selber der Flexibilität nicht gerecht wird, die er in sämtlichen Bereichen für sämtliche Institutionen fordert. So hinterfragt er nicht die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, die den Rahmen für seine Methodologie bildet und erkennt nicht, dass diese ebenfalls einer Evolution unterliegt. Er erkennt zwar die Begrenztheit des Wissenschaftsverständnisses und kritisiert sie sehr detailliert, bleibt aber grundsätzlich dem Wissenschaftsverständnis seiner Zeit verhaftet und übersieht so, dass sich auch die Erkenntnistheorie evolutionär verändert. Er hält an seiner Art des Undogmatischseins sehr dogmatisch fest.

Fast alle Punkte, die er untersucht, belegt er sehr ausführlich und deduziert sie sogar mathematisch. Er setzt selbst autoritär fest, wie der Anarchismus bis in die letzte Faser der Institutionalisierung zu organisieren sei. Dabei versteckt er sich, ganz autoritätsfixiert, hinter den wissenschaftlichen Autoritäten seiner Zeit wie Darwin, den er in seinem Sine interpretiert, um seine libertäre Theorie unangreifbar zu machen. Dem Interessenten bleibt nichts anderes übrig, als sich der einzig richtigen Form einer zukünftigen Gesellschaft unterzuordnen. Das steht im Widerspruch zu den anarchistischen Prinzipien der Kritikfähigkeit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung. Sowohl der libertäre Inhalt als auch der Methodenmonismus dient nicht der Förderung libertären Denkens, das ihm als Voraussetzung für eine freie schöpferische Ideenfindung gilt.

Obwohl sein Buch „Gegenseitige Hilfe im Tierreich“ als einseitige Erwiderung zum einseitigen Sozialdarwinismus geplant war und keinen strengen wissenschaftlichen Anspruch erhob, beruft er sich immer wieder auf die dort gemachten Feststellungen. Darüber hinaus übernimmt er modische wissenschaftliche Sensationen seiner Zeit, um seiner Theorie mehr Gewicht zu geben.

Analytische Unschärfe: Auch innerhalb seines Gedankengebäudes ist er nicht konsequent vorgegangen. Er spricht von Geselligkeitstrieb, dem Drang nach Gemeinschaftlichkeit, von Individualismus, Freiheitlichkeit, und es ist nicht festzustellen, dass diese unklare Verwendung von Begriffen einer wissenschaftlichen Klassifizierung folgt. Sein Erkenntnisinteresse bleibt auf die gegenseitige Hilfe als Synthese von Geselligkeit und Individualismus beschränkt, die Informationen, die er induktiv gewinnt, entsprechen ausschließlich der Bestätigung dieser Sicht. Zum Beispiel sucht er alle geschichtlichen Fakten zusammen, die seinem Bild von den Gilden entsprechen, und sobald er dies mit einer Fülle von Beispielen scheinbar bewiesen (Verifikation) hat, überträgt er es auf alle Phänomene, die ihm wichtig erscheinen. Dabei übersieht er, dass Gilden und Zünfte auch Instrumente zur Unterdrückung und zur Freiheitseinschränkung für Mitglieder waren, die in der Hierarchie "unten" standen (z.B. Heiratsrecht).

Sein Fortschrittsoptimismus zeigt sich in seiner Forderung, durch entsprechende Erziehung und Ausbildung die innere Motivation so zu fördern, dass sie als einziger Arbeitsanreiz ausreicht. Er möchte, dass die Menschen das tun wollen, was sie seiner anarchistischen Idee entsprechend auch tun sollen. Diese Kritik wird von seinem Freund Errico Malatesta geteilt, der ihm viel Empathie, aber keine kritische Distanz zu seinen Untersuchungsgegenständen zubilligt. Kropotkins Vorwurf an die Wissenschaft, sie gehe von technischen Neuerungen aus, die sie erst nachträglich theoretisch erkläre und legitimiere, kann man auch ihm selber machen, der von einer anarchistischen Idee ausgehend erst nachträglich den Anarchismus in die Natur des Menschen pflanzt. Die induktive Methode dient dem Glauben an die aufgestellten Phänomene, die deduktive Methode ihrer Unangreifbarkeit.

Kritik des individualistischen Anarchismus: Einer der wichtigsten Verfechter des individualistischen Anarchismus ist Max Stirner, dessen Leben schon vor Kropotkins politischem Wirken endete. Dieser geht davon aus, dass die Aufklärung zwar den Glauben an ein Jenseits nur in der äußeren Welt widerlegt hat, nicht aber in der inneren. Die Innerlichkeit fühlt sich ewig und jenseits von der Welt (Tod), selbst Atheisten sind gläubige Menschen. Dieses „Jenseits in uns“ ist in etwa mit dem Über-Ich in der Psychoanalyse vergleichbar, das vom eigenen Gewissen quasi heilig gesprochen und nicht hinterfragt und überwunden wird, weil man in Ehrfurcht vor ihm erstarrt. Um auch diesen Teil der Materie zu verweltlichen, will ihn Stirner dem Bewusstsein zugänglich machen. Erst dann kann man als Eigner über die ganze Welt seinen eigenen, von jeder Erziehung freien Geist schaffen. Im Vergleich zwischen dem „Materialismus der Verhältnisse“ von Marx und Stirners „Materialismus des Geistes“ kann man eine neue Sicht über die Aufklärung gewinnen, die den eigenen Geist auf eine fremdbestimmt aufklärende Art aufklärt, also abklärt. Man erweitert so die substantielle Ideologiekritik, weil man erkennt, dass es keine angeborene Substanz gibt.

Kritik der Postmoderne: Ohne Substanz kein Subjekt, sondern nur ein zerrissener Elektronen-, Synapsen- und Hormonhaufen, der nicht ontologisch, sondern immer wieder neu in ständiger Auseinandersetzung mit der Umwelt konstruiert werden muss – quasi von einer Basis des „weder-nochs“, von der aus man die „entweder – oders“ in der Gesellschaft erkennt, wobei man sich selbst als ein „weder-noch“ erkennt, das bestimmte „entweder-oders“ erkennt. Man erkennt so die Arten von anonymisierter Gewalt, die dafür sorgen, dass man sich selbst im Zaum hält. Da man von ihr umgeben ist, nutzt man sie bewusst oder unbewusst als Selbstbehauptungsmittel, und das bedeutet Machtausübung. Es gibt kein außerhalb der Macht (Foucault), deshalb ist die Gegenüberstellung einer letztendlich guten Natur des Menschen und einem bösen Staat (in Umkehrung von Thomas Hobbes' Gedankenmodell), eine Gegenüberstellung und ein künstliches Konstrukt. Hier knüpft auch Friedrich Nietzsche mit seiner fröhlichen Wissenschaft und seiner Erkenntnis an, dass die Freiheit ein Zielzustand und ein ständiges Werden ist. Hier kann auch der Ursprung des Unterschieds von statischer und dynamischer Stabilität verortet werden (Systemtheorie). Und schließlich kann hier auch die Psychoanalyse anknüpfen, denn wo einmal ein „weder – noch“ war, dort soll einmal eine Persönlichkeit mit einem Ich stehen.

Das Gleiche gilt für Aggressivität und Altruismus (Helfersyndrom), Körper und Sexualität (Multisexualität), Agent und Prinzipal (Hegel), Natur und Kultur (nurture), weiblich und männlich (Rollen), öffentlich und privat (Intimität), geistig und materiell (Descartes). Die binäre Ordnung westlicher Denksysteme kann als binäre Ordnung westlicher Denksysteme erkannt und zugunsten einer multidimensionalen Ordnung hinterfragt und ggf. überwunden werden, in der für gleiche Sachverhalte unterschiedliche Regeln gelten, man denke an Paralellgesellschaften. Die Grenze zwischen innen und außen wird von einem selber verschoben, aufgelöst oder auch neu errichtet, und das immer wieder neu (Selbststimulation).

Traditionelles Wissenschaftsverständnis: Gesellschaftswissenschaft war also im 19. Jahrhundert sehr ideologiebelastet, der Wunsch war häufig der Vater des Gedankens, der dann als Beweis konstruiert wurde. Bei aller Kritik sollte man nicht übersehen, dass Kropotkin den wissenschaftlichen Konformismus seiner Zeit mit ihren eigenen Methoden schlug, mit dem biologischen Teil seines Werkes "Gegenseitige Hilfe“ die gängige Art des Sozialdarwinismus als menschenfeindliche Ideologie entlarvte, die die soziale Ungleichheit als Ursprung der Chancenungleichheit negiert, die Auslese nach den Regeln einer starr geschichteten Welt festlegt und zur Rechtfertigung einen naturgesetzlichen Trend zur Perfektion in einer einheitlichen Entwicklung vom Niederen zum Höheren unterstellt, der im entfalteten Raubtierkapitalismus seine Blüte findet. Kropotkin geht hingegen von der Entfaltung einer heilen Welt aus, denn der sozialdarwinistische Trend zur Rechtfertigung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten ist eben nicht sein Trend. So erkennt er die Fehlinterpretationen des Sozialdarwinismus als Ergebnisse von Analogieschlüssen, die nach gesellschaftlichen Entsprechungen zu biologischen Erscheinungen suchen und dabei biologische Erscheinungen finden, mit denen sie die gesellschaftlichen Entsprechungen rechtfertigen. Er erkennt die inhumane Stoßrichtung des Sozialdarwinismus, der seine höchste Entfaltung in der Rechtfertigung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Faschismus finden sollte, und setzt den unzulässigen Analogiebildungen seine optimistischen Analogiebildungen entgegen.

Gesellschaftswissenschaftlich aktuell sind seine Überlegungen vom Umschlagen der Wertbestimmung anhand der in einem Produkt verkörperten Arbeit in eine Wertbestimmung im voll entwickelten Kapitalismus, die durch die bedürfnisorientierte Nachfrage erfolgt, vom Verwischen von Arbeit und Freizeit (Produktion und Reproduktion), von der zunehmenden Ununterscheidbarkeit von Privat- und Gemeineigentum, der Entstehung von Kleinunternehmen der Zuliefererbranchen durch die Konzentration des Kapitals zu Großunternehmen, der Verwandlung bisheriger Absatzgebiete in ökonomische Konkurrenten durch Industriespionage und das allmähliche Sterben der Großunternehmen durch fehlende Flexibilität. Bis auf den letzten Unterpunkt kommt Ulrich Beck in seinem Buch "Risikogesellschat" zu ähnlichen Ergebnissen.

Vorhersagen und Ausblick.: Kropotkin nimmt die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts voraus. Die Wachstumsschrumpfung in den industrialisierten Ländern England und Frankreich, vorausgesagt und anhand des wirtschaftlichen Erfolgs des Deutschen Reiches belegt, das immer weniger Waren importierte (dies sah Kropotkin auch schon für China voraus, das auf dem Weltmarkt zu einer Konkurrenz werden würde), schafft Möglichkeiten zur Entwicklung von Initiative auf genossenschaftlicher Basis. Der Erhalt der Lebensqualität in Zeiten einer Wachstumsschrumpfung geht mit einer natürlichen Zunahme flexibler und kreativer Eigenschaften einher, eine dezentrale Organisation der einzelnen Gemeinden, Kommunen, Länder, Bundesrepubliken, überstaatlichen und globalen Einheiten ist durch die moderne Kommunikationsmedien gegeben, so dass eine Vielfältigkeit an Bereichen entsteht, die nicht hierarchisch, sondern metahierarchisch organisiert sind, föderativ und nicht staatlich, so könnte man Kropotkins Theorie auf die heutige Zeit übertragen.

Man sollte Kropotkin als Kind seiner Zeit sehen, das dem Altruismus zum Durchbruch verhelfen und ganz einfach die Welt so gestalten wollte, dass alle Menschen, auch die Leibeigenen seines Elternhauses, glücklich und frei in ihr und mit ihr leben können. Großen Dank an die Herausgeber der Homepage www.kropotkin.de, ohne deren Existenz dieser Artikel nicht in diesem Umfang hätte geschrieben werden können. Folgendes Fazit aus seinem Buch "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" erinnert an die Philosophie Albert Schweitzers:

Zitat

Jedesmal indessen, wo man daran ging, zu diesem alten Prinzip (der gegenseitigen Hilfe, Anm. d. Verf.) zurückzukehren, wurde seine Grundidee erweitert. Vom Clan dehnte es sich zur Völkerschaft aus, zum Bund der Völkerschaften, zum Volk und schließlich – wenigstens im Ideal – zur ganzen Menschheit. Zugleich wurde es auch veredelt. Im ursprünglichen Buddhismus, im Urchristentum, in den Schriften mancher muselmanischen Lehrer, in den ersten Schriften der Reformation und besonders in den ethischen und philosophischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts und unserer eigenen Zeit, setzt sich der völlige Verzicht auf die Idee der Rache oder Vergeltung – Gut um Gut und Übel um Übel – immer kräftiger durch. Die höhere Vorstellung: „Keine Rache für Übeltaten“ und freiwillig mehr zu geben, als man von seinen Nächsten zu erhalten erwartet, wird als das wahre Moralprinzip verkündigt – als ein Prinzip, das wertvoller ist als der Grundsatz des gleichen Maßes oder die Gerechtigkeit, und das geeigneter ist, Glück zu schaffen. Und der Mensch wird aufgefordert, sich in seinen Handlungen nicht bloß durch die Liebe leiten zu lassen, die sich immer nur auf Personen, bestenfalls auf den Stamm bezieht, sondern durch das Bewusstsein seiner Einheit mit jedem Menschen. In der Betätigung gegenseitiger Hilfe, die wir bis an die ersten Anfänge der Entwicklung verfolgen können, finden wir also den positiven und unzweifelhaften Ursprung unserer Moralvorstellungen; und wir können behaupten, dass in dem ethischen Fortschritt des Menschen der gegenseitige Beistand - nicht gegenseitiger Kampf - den Hauptanteil gehabt hat. In seiner umfassenden Betätigung - auch in unserer Zeit - erblicken wir die beste Bürgschaft für eine noch stolzere Entwicklung des Menschengeschlechts. [1]

Siehe auch: Utopischer Sozialismus

Werke

  • Die Eroberung des Brotes. Edition Anares, Bern 1989, ISBN 3-922209-08-4
  • Die französische Revolution. Trotzdem Verlag, Grafenau 1999, ISBN 3-931786-13-7
  • Gegenseitige Hilfe. Trotzdem-Verlag, Grafenau 1993, ISBN 3-922209-32-7
  • Memoiren eines Revolutionärs. Unrast-Verlag, Münster 2002
  • Der Anarchismus. Trotzdem-Verlag, Grafenau 1994, ISBN 3-922209-42-4
  • Die französische Revolution 1789-1793. Thomas-Verlag, Leipzig 1909
  • Die historische Rolle des Staates, 1896
  • Der moderne Staat, 1912

Einzelnachweise

  1. Fürst Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Tier – und Menschenwelt Verlag von Theod. Thomas, Leipzig, 1908, S. 274f

Literatur

  • Gudrun Goes (Hrsg.): Nicht Narren, nicht Heilige. Erinnerungen russischer Volkstümler. Reclam, Leipzig 1984
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