Pjotr Alexejewitsch Kropotkin

Pjotr Kropotkin

Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin (russisch Пётр Алексеевич Кропоткин, wiss. Transliteration Pёtr Alekseevič Kropotkin) ( * 9. Dezember 1842 in Moskau; † 8. Februar 1921 in Dmitrow) war ein russischer Anarchist, Geograph und Schriftsteller.

Aufgrund seiner Abkunft aus dem russischen Hochadel und da er einer der prominentesten Anarchisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts war, war er bei denjenigen, die ihn kannten, als der anarchistische Fürst bekannt. Er hinterließ viele Schriften, darunter die revolutionäre Schrift Die Eroberung des Brotes und sein wissenschaftliches Werk Gegenseitige Hilfe in der Tier und Menschenwelt. Als gelernter Naturwissenschaftler versuchte Kropotkin eine den systematischen und wissenschaftlichen Kriterien standhaltende Theorie des Anarchismus zu entwerfen. Er gilt dabei auch als einer der Mitbegründer des kommunistischen Anarchismus. Er kämpfte für eine anarchistisch-kollektivistische Gesellschaft, die frei wäre von einer potenziell diktatorischen Regierung.

Biographie

Pjotr Kropotkin wurde als Sohn von Fürst Alexei Petrowitsch Kropotkin in Moskau geboren. Er war somit einer der Nachkommen der berühmten Rjurikiden. Seine Mutter, Tochter eines Generals in der russischen Armee, hatte für ihre Zeit ebenso bemerkenswert liberale Ansichten wie ein ausgesprochenes Interesse an Literatur. Sie starb jedoch an Tuberkulose, als Kropotkin gerade 4 Jahre alt war, und seine Kindheit war im weiteren geprägt durch den autoritären Vater und die Stiefmutter, die ihren Stiefkindern keine Gefühle entgegenbringen konnte. Liebe bekamen Pjotr und sein ein Jahr älterer Bruder Sascha (Alexander) nur von den Leibeigenen der Kropotkins.

1857 im Alter von fünfzehn Jahren trat Pjotr Kropotkin in die St. Petersburger Kadettenschule ein. Die Schule galt als Ausbildungsort, an dem der russische Hochadel seine Kinder auf zukünftige Karrieren in Militär und Verwaltung vorbereitete. Im Jahre 1862 beendete Kropotkin als einer der ersten seines Jahrgangs die Ausbildung.

Bis zum Verlassen der Schule 1862 folgte Kropotkin größtenteils seinen eigenen Interessen. Er beschäftigte sich intensiv mit den französischen Enzyklopädisten und französischer Geschichte, insbesondere mit der französischen Revolution. Die liberalen und republikanischen Tendenzen, die in jener Zeit in der russischen Oberschicht aufkamen, entgingen ihm ebensowenig. Auch vertiefte sich sein Interesse am Leben der russischen Landbewohner in dieser Zeit.

Kropotkin, Aufnahme Nadar

Nach seinem Eintritt in die russische Armee ließ sich Kropotkin, ungewöhnlich für seine gesellschaftliche Klasse, in ein sibirisches Kosakenregiment in der neu eroberten Amur-Region versetzen. Im Dienst unter dem liberalen General B. K. Kugel hatte Kropotkin die Möglichkeit sich mit weiterer sozialistischer Literatur auseinander zu setzen, da Kugel u.a. über eine komplette Sammlung der Werke von A.I. Herzen verfügte.

Außerdem nutzte Kropotkin die dort ziemlich ereignislose Zeit, um ausgedehnte geographische Forschungen anzustellen, die seinen Ruf als Naturwissenschaftler begründeten. Auch durch die gescheiterten Versuche, wirkliche Veränderungen der sibirischen Verwaltung durchzusetzen, kam Kropotkin zu der Überzeugung, dass wirkliche politische Veränderung innerhalb des oder durch den Staatsapparat nicht möglich wäre.

1867 kehrte Kropotkin nach St. Petersburg zurück. Er schrieb sich an der Universität St. Petersburg ein. Gleichzeitig wurde er Sekretär der Sektion für physikalische Geographie in der Russischen Geographischen Gesellschaft. In den darauf folgenden Jahren publizierte er wichtige Arbeiten über das Amur-Gebiet und über Gletscher-Ablagerungen in Finnland und Schweden. Als ihm jedoch die Russische Geographische Gesellschaft den Posten ihres Sekretär anbot, war in Kropotkin schon die Überzeugung gereift, dass es eher seine Pflicht wäre sein Wissen einzusetzen um dem leidenden Volk zu helfen. Er schloss sich lieber revolutionären Kreisen an.

1872 reiste Kropotkin in die Schweiz und wurde Mitglied der libertären Juraföderation in Neuchâtel. Dort nahm er endgültig seine anarchistischen Überzeugungen an und nach seiner Rückkehr nach Russland betätigte er sich intensiv an anarchistischer und nihilistischer Propaganda.

1874 wurde er verhaftet, konnte aber zwei Jahre später aus der Pjotr und Paul Festung in St. Petersburg fliehen. Nach unruhigen Zeiten zwischen London, Paris und der Schweiz wählte er 1878 seinen Wohnsitz in der Schweiz, wo er die Zeitung La Révolté der Jura-Föderation betreute und eigene Schriften veröffentlichte.

In den folgenden Jahren wurde er auf russischen Druck aus der Schweiz ausgewiesen und in Frankreich zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Öffentlicher Druck erreichte nach drei Jahren seine Freilassung und ermöglichte es Kropotkin sich in London niederzulassen, wo er das Leben eines Privatgelehrten führte. In Paris erschien nach wie vor seine Zeitschrift unter dem Titel "La Révolte", die darin enthaltenen Aufsätze faßte er 1892 in dem Buch „Die Eroberung des Brotes“ zusammen, auch sein wichtigstes theoretisches Werk „Gegenseitige Hilfe“ schrieb er dort, das eine Gegenthese zum Sozialdarwinismus seiner Zeit aufstellte. Anhand zahlreicher Beispiele aus Natur und Geschichte versuchte er nachzuweisen, dass die erfolgsreichste Strategie in der Evolution auf gegenseitiger Hilfe und Unterstützung und eben nicht auf dem Überleben des Stärksten beruhte. Außerdem schrieb er in London u.a. „Der Wohlstand für alle“, „Landwirtschaft, Industrie und Handwerk“, „Die französische Revolution“ und „Ethik.“ Er verfasste auch Artikel für „The Times“ und „Nature“ und fast alle Beiträge über Rußland in der „Encyclopedia Britannica.“ Schließlich gründete er auch die Zeitschrift „Freedom.“

1917 kehrte Kropotkin nach der Februarrevolution nach Russland zurück. Danach erklärte er, dass der russische Einsatz im Ersten Weltkrieg weitergeführt werden sollte. Lenin hatte stets die konsequente Beendigung der Kämpfe gefordert, womit er viele Anhänger unter der demoralisierten Bevölkerung gefunden hatte.

Die Bolschewisten versuchten nach ihrer Machtübernahme, den Einfluss des Freiheitsdenkers zu reduzieren; aufgrund seiner Popularität in der Arbeiterbewegung konnte er jedoch ein relativ freies Leben führen. Seine von mehreren zehntausend Menschen besuchte Beerdigung 1921 war die letzte Massenveranstaltung oppositioneller Kräfte in der Sowjetunion bis 1990. Viele Teilnehmer wurden extra für dieses Ereignis vorübergehend aus der Haft entlassen.

Kropotkin wurde für sein weites Wissen und die Güte seines Charakters von Freund und Feind gelobt. Er galt als Autorität über russische Naturkunde und hat viele Beiträge (darunter den über Anarchismus) für die Encyclopedia Britannica verfasst. Trotz seines stetigen Wirkens musste er aber auch mit ansehen, wie die Idee einer anarchistischen Revolution in seiner Zeit immer mehr an Bedeutung verlor.

Theorie des wissenschaftlichen Anarchismus

Gegenseitige Hilfe in der Tierwelt: Kropotkin entwirft mit Bezug auf die Naturwissenschaft des Darwinismus seine Idee des wissenschaftlichen Anarchismus. Er setzt mit einer einheitlichen Methodologie (wie beinahe alle Wissenschaftler seiner Zeit) das Wachstum der Menschheit mit dem zielgerichteten Wachstum einer sich entfaltenden Blume voraus, die nach höchster Komplexität strebt, denn Blumen und Menschen sind ein Teil einer biologischen Natur in den Rahmenbedingungen der Chemie, die sich in den Rahmenbedingungen der Physik und der Naturgesetze abspielt, die in den Rahmenbedingungen des Kosmos gelten, so die Wissenschaftstheorie zur damaligen Zeit.

Er sammelt, von einfachen Tierarten aufsteigend, Informationen über arterhaltende Eigenschaften bei staatenbildenden Ameisen und Bienen und nicht staatenbildenden Insekten, bei Vögeln und schließlich bei Säugetieren. Gemeinsame Jagdstrategien, die Aufzucht von Jungtieren, gegenseitiger Schutz in Ansammlungen, Herden und Rudeln, die Sorge um kranke Artgenossen und die rituelle Konfliktvermeidung innerhalb einer Art weisen auf die Geselligkeit und nicht auf den Kampf ums Dasein als Antrieb zur Evolution hin. Die konstante Größe einer Tierart wird eher durch Klimaschwankungen und Krankheiten und weniger durch Kampf verursacht, was Kropotkin mit Hinweis auf Büffel, Pferde und Raubtiere in Nordamerika nahe legt, die nicht unter Nahrungsknappheit leiden, sondern im Überfluss schwelgen. Dies widerspricht der Geltung des arithmetrischen Gesetzes (Malthus), von dem die Evoluionswissenschaftler seiner Zeit überzeugt sind: Während die Umwelt von einer Population nur linear erschlossen werden kann (und in der Zivilisation vom linearen Angebotswachstum des Marktes ersetzt wird), wächst die Population selber exonentiell (nimmt die Nachfrage exponentiell zu), was zum innerartlichen Kampf ums Überleben führt verdammt. Dieses Natur- und Kulturgesetz sieht Kropotkin als widerlegt an. Es herrscht vielmehr eine Entwicklung zur Kooperation, selbst Raubtiere können bei der gemeinsamen Jagd mehr erbeuten, als die Summe der Beute von jagenden Einzelgängern ergibt. Der Hauptaspekt ist das Naturgesetz der gegenseitigen Hilfe als Ergebnis von Geselligkeit und Individualismus und nicht der Nebenaspekt des Kampfes ums Dasein unter dem Druck des arithmetrischen Gesetzes.

Gegenseitige Hilfe in der Menschenwelt: Clangesellschaften: Erst durch die gesellschaftliche Art und Weise der organisierten Bedürfnisbefriedigung von biologisch verankerten Bedürfnissen wird aus dem unbewussten Tier ein bewusster Mensch, der seine unmittelbare Umwelt geistig erfasst. Kopotkin setzt wie Marx ein Geschichtsgesetz voraus, dementsprechend sich Gesellschaften lediglich zeitlich verschoben von Entwicklungsstufe zu Entwicklungsstufe entwickeln. Für ihn sind die Zwischenphasen zwischen Urgemeinschaft, Sklavenhaltergesellschaft, Feudalgesellschaft und kapitalistischer Gesellschaft wichtiger, in denen die Formen der Institutionalisierung der gegenseitigen Hilfe entwickelt werden, die die einzelnen Gesellschaftsstufen überlagern.

Naturvölker sind auf der Basis ihres unreflektierten Erbes in Clans organisiert, in denen Gemeineigentum herrscht, die Beute geteilt wird, Individualismus unbekannt ist und die öffentliche Meinung die einzige Form von Gewalt ist. Die Zusammenarbeit, schon bei Vormenschen kein Nullsummenspiel, wird durch die Institutionalisierung von sozialen Regeln verbessert. Huxleys Interpretation der unzivilisierten Wilden, die Kannibalismus, Kindstötung und das Aussetzen von Greisen praktizieren, widerlegt er mit gegenteiligen Informationen über Kannibalismus als (religiös motivierter) Ausnahmefall, Kindstötung nur aus allerhöchster Not und dem freiwilligen Zurückbleiben von Greisen in Notzeiten, die nicht das Leben des ganzen Clans nicht aufs Spiel setzen wollen – ein Indiz für die tiefere Verwurzelung der sozialen Triebe als des Selbsterhaltungstriebs. Die Geschichte der Menschheit ist die Geschichte ihrer Institutionalisierung, der gesellschaftlichen Organisation der Bedürfnisbefriedigung.

Die Dorfmark der Barbaren: Sprachuntersuchungen und -vergleiche der Ethnologie belegen nach Kropotkin, dass aus der Clan-Gesellschaft die Dorfmark hervorgegangen ist. Klimatische Veränderungen ermöglichen Landwirtschaft und Viehzucht, die als höherorganisierte Produktionsform die Jagd als alleinige Lebensgrundlage abschafft. Die vergleichende Ethnologie weist auf die Beschränkung des Privateigentums auf persönliche Dinge und die öffentliche Gewalt der Institution der Volksversammlung (Thing) hin, in der, der Kraft des besseren Argumentes zufolge, gemeinsam und gleichberechtigt die Arbeitsbeiträge der einzelnen Mitglieder festgelegt werden. Das gesprochene Wort ist bindend, notfalls schlichten Vermittler.

Die Dorfmark bezieht sich auf ein festgelegtes Gebiet und kann bei gleichzeiitiger Ausdehnung der Gemeinschaft Völkerwanderer integrieren. Die Landwirtschaft erreicht eine Produktivität wie im 19. Jahrhundert, die Hausindustrien boomen, Dorfmarken venetzen sich zu Stämmen, und Stämme wachsen zu Völkern zusammen. Die Clangesellschaften hatten für ein höheres Maß an Geselligkeit und Individualismus im Vergleich zu den vorbewussten humanoiden Rudeln gesorgt und dadurch Platz für kreative Gemeinschaftsunternehmungen geschaffen, die Dorfmark sorgt für ein höheres Maß an Geselligkeit und Individualismus und Produktivität als die Clangesellschaften unnd schafft Platz ür die Bildung von Familien. Diese sind nicht, wie Huxley meint, vorbewusste Grundeinheiten, zu denen sich bewusstseinslose Wesen im Laufe der Evolution zusammen finden, die räuberisch andere Familien der eigenen Art beschleichen, dabei Bewusstsein entwickeln und erst im Laufe der Menschwerdung Clans, Stämme, Völker und Nationen bilden. Die Formen des Zusammenlebens in Clangesellschaften werden bei Kropotkin im Gegenteil erst sehr spät von Familienbildungen überlagert, hochkomplexen Einheiten, die die Geselligkeit und Individualität in dem Sinne ausformen, dass die Gesellschaft optimal wachsen und mit Familien die Nischen schließt, die durch die komplexere Organisation entstanden sind. Eine hochentwickelte Form der Dorfmark stellt das Städtebündnis im antiken Griechenland mit dem Aufschwung des Handwerks, der Künste und der Wissenschaften durch das Mehr an Möglichkeiten zur freien, schöpferischen Arbeit dar. Schutzverpflichtungen gegenüber ihren Mitgliedern außerhalb des eigenen Gebietes wie bspw. für Händler deuten schon auf die späteren Gilden hin.

Die Dorfmark trägt allerdings auch den Keim zur Entwicklung der Sklavenhaltergesellschaft in sich, denn durch die Vorratshaltung entsteht ein Reichtum, der Räuber lockt. Durch die Aufgabenteilung, die sich herausbildet, entstehen Kriegshäuptlinge, die ihre Macht missbrauchen, Reichtum anhäufen und erst Kriegsgefangene und später Verschuldete aus der eigenen Dorfmark versklaven.

Die Gilden: Da das Gewohnheitsrecht verschiedener Dorfmarken voneinander abweicht, entsteht ein Bedarf an Vermittlung bei übergreifenden Konflikten, was zur Entwicklung einer eigenständigen Exekutive führt, die für viele Dorfmarken zuständig ist. Unter der Sklavenhaltergesellschaft (Sklaven sind unmotiviert) und der Feudalgesellschaft (Bauern sind motivierter, sie arbeiten trotz Steuer- und Fronlast selbstbestimmt) kommt es zunächst zu einem Rückschritt im Prozess der Institutionalisierung. Erst in den mittelalterlichen Städten entfaltet sich nach Beseitigung der feudalen Herrschaft das soziale Leben. Ein einheitliches Denken und Handeln zum Erhalt und zur Weiterentwicklung der Initiative bei der zunehmenden Arbeitsteilung wird durch die Bildung von Gilden optimiert (freie Menschen sind am motiviertesten, sie zahlen gerne Steuern für ihr Gemeinwesen).

Die allgemeinverbindlichen Institutionen der Clangesellschaften waren durch die Institutionen der Dorfmark überlagert worden, die Institutionen der Dorfmark, die in den einzelnen Stadtvierteln noch erhalten geblieben war, werden nun durch die Institutionen der Gilden, Zünfte und entstehenden Gewerke überlagert. Gilden sind selbstverwaltet und haben eine eigene Gerichtsbarkeit, alle Mitglieder sind gleichberechtigt, sie entstehen in allen Lebensbereichen, ob als Bettler-, Handwerker- oder Händlergilden, auch als Vereinbarungen auf Zeit. Jede Gilde verwirklicht ein brüderliches Ideal und tritt bspw. als gemeinsamer Käufer der Rohstoffe und Werkzeuge und als gemeinsamer Verkäufer der von ihnen hergestellten Produkte auf. Die Mitglieder arbeiten für ihre Gilde und nicht für einen anonymen Markt. Als politische Macht haben sie ein erhebliches Mehr an Freiheiten verwirklicht und beispielsweise die 48-Stunden-Woche und den Halbfeiertag am Samstag als alte mittelalterliche Institutionen durchsetzt – Stadtluft macht frei. Die Institutionalisierung der Gilden schafft in kürzerer Zeit mehr Reichtum, befriedigt die Bedürfnisse nach Geselligkeit und Individualismus intensiver und institutionalisiert das Prinzip der gegenseitigen Hilfe den gewachsenen Ansprüchen entsprechend komplexer als die Dorfmark.

Staatenbildung und Initiativenraub: Innere Widersprüche schwächen die freien Städte, denn man legt zuviel Wert auf den Handel, beutet die Bauern aus, unterscheidet zwischen einfachen Einwohnern und honorigen Bürgern. Der fehlende Anspruch auf Gleichheit schwächt die Kooperations- und Verteidigungsbereitschaft gegen die Bildung von Zentralstaaten, die einst selber aus Städtebündnissen hervorgegangen waren. Diese zerstören die Netzwerke gegenseitiger Hilfe, indem sie den Gemeinbesitz privatisieren und die Gilden verbieten, um nur keinen Staat im Staate entstehen zu lassen. Selbst Protestanten, die sich, das Ideal der Brüderlichkeit vor Augen, gegen das scholastisch verkrustete Gottesgnadentum der Herrschaft gewendet hatten, werden von der Staatenbildung erfasst und ihrer Initiative beraubt, die tief verwurzelte Gemeinschaftlichkeit durch berechnendes Verhalten ersetzt. Die Staatsbildung ist wie schon die Sklavenhalter- und die Feudalgesellschaft ein Rückschritt des Institutionalisierungsprozesses.

Die Zentralstaaten erzeugen durch ihre Hierarchisierung den Konkurrenzkampf und steigern damit den Egoismus, der sich der Gesamtverantwortung aus Eigeninteresse entzieht. Während es in der Dorfmark eine Schande wäre, zu essen, ohne dreimal zu fragen, ob noch jemand anderes Hunger hat, muss der moderne Bürger nur noch seine Steuern zahlen und dezent mit den Schultern zucken, sobald er Not sieht.

Traditionen gegenseitiger Hilfe: Bis in die zweite Hälfte des vorletzten Jahrhunderts haben sich in einigen ländlichen Gemeinden noch Prinzipien der Dorfmark halten können. Genossenschaften und Syndikate zum gemeinschaftlichen Erwerb von Dünger oder zur Finanzierung einer Wasserpumpe für alle entsprachen als moderne Mittel den Bedürfnissen nach Geselligkeit und Individualismus. Je mehr sich solche Netzwerke freier Verbände zu allen möglichen wirtschaftlichen Zwecken auch in den Städten verbreiten, desto mehr verliert der Staat an Macht, prophezeit Kropotkin. Im Deutschland seiner Zeit lobt er die Kegelbrüder, deren Mitglieder zwar nichts als die Liebe zum Kegeln gemeinsam haben, bei denen aber das Prinzip der gegenseitigen Hilfe erhalten blieb bzw. neu erfunden wurde, und den Fröbelverein, der das System der Kindergärten einführte.

Die Befriedigung von Geselligkeit und Individualität, die mit dem Aufkommen von Familien innerhalb des Clans begann, wird das Entstehen neuer Institutionen begünstigen, die im Laufe der Zeit ihre Aktivitäten weltweit ausdehnen und Nischen schaffen werden für die Entstehung von Nachbarschaftshilfen, Freundschaften und Darlehen. Die Fortschrittlichkeit einer Organisationsform wie der Clans, der Dorfmarken, der Gilden, der Vereinigungen und der Genossenschaften lässt sich von ihrem Beitrag zur Entwicklung der Zivilisation ableiten.

Großindustrie und Kleinunternehmen: Kropotkin sieht im Unterschied zu Marx im Entwicklungsgesetz der Konzentration des Kapitals zur Entwicklung der Massenindustrie große Chancen für die Entstehung von Zulieferer-, Weiterverarbeitungs- und Transportunternehmen. Baumwollspinnereien erzeugen bspw. eine Nachfrage an Spulen, der erst mit Handarbeit und später mit Hilfe einfacher Maschinen befriedigt wird. Sie überleben trotz längerer Arbeitszeiten und schlechterer Arbeitsbedingungen als Großunternehmen, weil viele Menschen die Arbeit in der Klitsche der Maloche im Großunternehmen vorziehen, um ihrem Bedürfnis nach Geselligkeit und individueller Kreativität gerechter zu werden. Durch die flexibleren Strukturen sind Kleinunternehmen innovativer, können technische Neuerungen schneller aufnehmen, ihre Produktvielfalt ist größer und sie können sich an den Wandel der Umwelt flexibler anpassen.

Großunternehmen sind eigentlich nur Ansammlungen besonderer Industrien unter einer hierarchischen Leitung und dem exzessiven Diktat von Maschinen. Ihr Nachteil besteht in der mangelnden Flexibilität beim Wandel der Umwelt, den sie durch die von ihnen hervorgerufenen Über- oder Unterproduktionskrisen immens beschleunigen. Ihr Vorteil besteht beim verbilligten Einkauf von Rohmaterialien und dem effektiveren Warenverteilung. Diese Vorteile können durch die Bildung von Genossenschaften ausgeglichen werden, die bspw. wie im Sheffield des 19. Jahrhunderts gemeinsam eine Dampfmaschine kaufen und zur effektiveren Energieversorgung ihre Messerunternehmen um diese herum ansiedeln.

Schon vor über 100 Jahren bewiesen die schnellen Fortschritte Deutschlands, Italiens und Spaniens, dass mit dem zunehmenden technischen Fortschritt unterindustrialisierter Länder der jeweilige Absatzmärkte wegbrachen und ehemalige Absatzgebiete zu mächtigen Konkurrenten wurden. Die Entwicklung elektrischer Geräte wird laut Kropotkin Heimwerkerstätten in jedem Haushalt entstehen lassen, was dem Arbeiter eine freie Zeiteinteilung erlaubt, die Dezentralisierung und Initiative fördert, damit die Freiheit der einzelnen erweitert und zu einer gleichzeitigen Beschränkung des Welthandels auf das Nötigste führt.

Gemeineigentum und bedürfnisorientiertes Verteilungsprinzip: Das Prinzip der gegenseitigen Hilfe lässt sich seiner Meinung nach am besten in kleinen sozialen Einheiten verwirklichen, die dezentral und gleichberechtigt vernetzt sind. Ihre Funktionstüchtigkeit wird durch freie, jederzeit kündbare Vertragsverhältnisse ohne übergeordnete Instanzen angetrieben, weil die Freiwilligkeit die soziale Initative und Lust am freien Schöpfen stärkt.

Dies Prinzip einer freien Vereinbarung ohne übergeordnete Instanzen sah er im englischen Pendant zum DGzRS verwirklicht. Ebenso wurde die Verwaltung und der Ausbau des Schienennetzes zu seiner Zeit nicht von einer übergeordneten Instanz geregelt, sondern durch freie Vereinbarungen der zahlreichen Eisenbahngesellschaften, Briefe können ohne eine Weltpostbehörde zuverlässig verschickt werden, Börsenmakler halten sich an mündliche Vereinbarungen, um nicht ausgeschlossen zu werden. Die freien Vereinbarungen der Jägerclans, der Dorfmarken, der Gilden, Gewerkschaften und Genossenschaften finden ihre Fortsetzung in den freien Vereinbarungen der dezentral miteinander vernetzten Lebens- und Produktionseinheiten.

Die Forderung nach dem Gemeineigentum an Produktionsmitteln ergibt sich aus ökonomischer Sicht aus der chaotischen Produktionsweise des Kapitalismus und aus der Tatsache, dass man in einer Kollektivzivilisation nicht mehr die anteilige Leistung bei der Herstellung der Produkte feststellen kann, weil alles in Kollektivarbeit entstand und entsteht und seinen Ursprung sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart hat. Unter diesen Bedingungen ist der Konsum nicht mehr ein Luxus, sondern bedeutet auch die Wiederherstellung der Arbeitskraft, denn nur ein ausgeruhter Arbeiter garantiert den Lauf der Maschinen. Dadurch verschwindet der Unterschied zwischen Arbeit und Konsum, und ein noch so gerechter Lohn, der der erbrachten Arbeitsleistung entspricht, kann nicht mehr bestimmt werden. Auch der Wert eines Produktes kann nicht mehr wie in der Volkswirtschaftslehre von der in ihm enthaltenen Arbeit bestimmt werden, denn neben der Arbeitszeit, die im Produkt nicht mehr nachvollziehbar verkörpert ist, können auch die individuelle Arbeitsfähigkeit, der Erlebniswert, der Erschöpfungsfaktor und viele andere individuell unterschiedliche Einflüsse nicht mehr abgeschätzt werden. Man kann konsequenterweise den Wert eines Produktes nur noch aus dem Anteil an seiner Bedürfnisbefriedigung ableiten. Daraus ergibt sich die Forderung der bedürfnisorientierten Güterverteilung nach dem Prinzip: Jedem nach seinen Bedürfnissen.

Wenn alles allen gehört, entfällt der Grund für Vandalismus, Egoismus, Habgier, berechnendes Verhalten und Unterdrückung. Es könnte sehr viel Arbeitsenergie freigesetzt werden, die in der Bürokratie, der Polizei, dem Militär und dem Gesundheitswesen gebunden ist. Die Befriedigung des Bedürfnisses nach schöpferischer Arbeit wäre die Motivation für die freie Initiative und nicht der Wille nach einem hohen Lohn, der an die Stelle der Initiative die Berechnung setzt und dadurch die natürliche Sittlichkeit und Solidarität zerstört.

Das macht die Produktion für privaten Zwecke überflüssig, durch die sich der Zwang zur Arbeit bspw. zum Anhäufen von Eigentum zum Triumph über den Nächsten durchsetzen würde. Durch Gemeineigentum an Produktionsmitteln und die freie Verfügbarkeit eines jeden über die erzeugten Produkte würde sich das Verhältnis von Produktion und Konsum umdrehen, es müssten keine Bedürfnisse mehr künstlich produziert werden. Umgekehrt wären vorhandene natürliche Bedürfnisse der Ausgangspunkt für die Produktion, und die im Produktionszweig der Bedürfnisproduktion gebundene Arbeitsenergie könnte sich ebenfalls frei entfalten. Da die Produktivkraft dem arithmetrischen Gesetz zum Trotz immer schneller als der Bedarf wächst, werden tendenziell immer mehr Güter umsonst benutzt wie bspw. die Infrastruktur, Brücken, Straßen oder Parkanlagen.

Logische Folgerung ist die Aufhebung der Arbeitsteilung, die die Arbeit unerträglich macht, die Intelligenz abstumpft und die Initiative und die schöpferische Erfindungsgabe zerstört. Die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit verantwortet die Entwicklung von technischen Neuerungen, deren Nutzen erst anschließend von der Wissenschaft geklärt werden muss, analog zur Produktion und Bedürfnisproduktion. Eine neue Form der Ausbildung soll die Ablehnung der Arbeitsteilung widerspiegeln und Grundlagen und Fähigkeiten zum Erkennen und Beurteilen von Problemstellungen zur Entwicklung einer emotionalen Einstellung zur schöpferischen Arbeit vermitteln. Dank des technischen Fortschritts werden anstrengende, eintönige und unangenehme Arbeiten verschwinden und von Haushaltsmaschinen, Zentralheizungen und den öffentlichen Nahverkehr übernommen werden, und die Arbeit wird zu einer schöpferischen Tätigkeit und durch die Initiative zur gegenseitigen Hilfe motiviert. Geeignete Vorbilder können den Übergang zur anarchistischen Lebensweise beschleunigen.

Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätte mit diesen Maßnahmen Wohlstand für alle mit einem Recht auf vier bis fünf Stunden tägliche Arbeitszeit ermöglicht, so Kropotkins optimistische Annahme. Ohne freiwillige Arbeit kann keine Gesellschaft überleben, die Menschen werden vollversorgt darum bitten, Arbeiten zu dürfen. Die anarchistische Gesellschatsform mit dem Gemeineigentum an Produktionsmitteln und der bedürfnis- und nicht leistungsorientierten Verteilung der gemeinschaftlich hergestellten Produkte ist den feudalistischen und kapitalistischen Gesellschaftsformen überlegen und nimmt diesen die Existenzgrundlage, weil sie eine bedürfnisgerechte Ordnung ohne Herrschaft bedeutet, die die Voraussetzung für Freiheit ist.

Kritik

Historischer Hintergrund: Im Russland seiner Zeit war die politische Macht im Sinne des mittelalterlichen byzantinischen Caesaropapismus geregelt, in dem der Adel nach strikten Weisungen von oben aus der Ständepyramide in der Bürokratie oder im Militär eingesetzt wurde. Korruption und Willkür aufgrund von Armut hatten einen unerträglichen Normalzustand etabliert, der im Jahre 1825 zum gescheiterten Dekabristenaufstand mit dem Vorbild eines aufgeklärten Absolutismus im Sinne Preußens geführt hatte. Zar Nikolaus der I. stellte die Ruhe und Ordnung mit dem Aufbau eines Polizeistaates wieder her, worauf das russische Bildungsbürgertum mit noch mehr Mißtrauen und Respektverlust vor jeglicher Autorität reagierte, weil die Lebensverhältnisse für die unteren und mittleren Ränge noch schlimmer geworden waren. Mit inbrünstiger Gläubigkeit wandten sich viele unzufriedene Intellektuelle vom geistigen Dogma der Kirche und des Zaren ab und ersetzten es durch das materielle Dogma der Wissenschaften. Sie sahen als Alternative zum bestehenden zaristischen Reich eine dezentral organisierte Gesellschaft, die auf der Grundlage der russischen Dorfgemeinschaft des MIR, in welcher die Bauern gemeinschaftlich über die Verteilung von Land, Gütern und Steuerbelastungen entschieden, aufgebaut werden sollte (der Mir wurde von der Inntelligencija sehr idealistisch bewertet, denn kaum jemand hatte wirklichen Kontakt zur bäuerlichen Gesellschaft). Die historische Entwicklung interpretierten sie, begeistert von der hegelschen und marxistischen Gesellschaftswissenschaft, als einen einheitlichen Prozess in den Rahmenbedingungen einer einheitlichen Naturwissenschaft, die sich als einheitliche Gesetzmäßigkeit auf die Gesellschaft übertragen ließ. Tschernitschewski hatte eine auf Liebe und nicht auf Konkurrenz gegründete Wirtschaftstheorie entworfen, Herzen und Belinski hatten von Saint-Simon und Fourier die Vorstellung der permanenten gesellschaftlichen Bewegung übernommen, von der sich ein Naturrecht ableiten ließ, das statt auf Lohnarbeit auf die schöpferische freie Arbeit als Antrieb für den gesellschaftlichen Fortschritt setzte. Viele Mitglieder der Intelligencija gingen von einem Entwicklungsgesetz aus, in dem die Freiheit der Persönlichkeit als Voraussetzung für Bewegung, Bewegung als Voraussetzung für Fortschritt, und Fortschritt als Voraussetzung für den Endzustand des Sozialismus als naturgesetzliches Ergebnis der Bewegung geshen wurde. Diese wissenschaftsgläubigen Überlegungen sind grundlegend für den Gedanken des Anarchismus.

Der Begriff "Anarchie" bedeutete bei Homer noch sachneutral „Ohne Heerführer“, bei Platon ist die Anarchie eine Ausgeburt der Demokratie, die die Polis unregierbar macht, Erasmus von Rotterdam verwendet den Begriff „Anarchie“ als Gegengewicht zur „Tyrannis“, beides Entartungen des Staates, und während der Französischen Revolution beschimpft man Frühsozialisten, die die Gleichheit des Eigentums anstreben, als Anarchisten. Schon 40 Jahre später gibt Proudhon, der die Freiheit von staatlicher Willkür anstrebt, dem Schmähwort eine positive Deutung. Bakunin entwickelt wenig später die Idee des Negativen, das der Herrschaft von Anarchisten absolut entgegengesetzt wird und entwickelt als Methode die Propaganda durch die Tat. Nach der Zerschlagung der Pariser Kommune beginnen manche Anarchisten ganz praktisch im individuellen Terror eine Widerstandsform zu sehen. Zu nennen ist vor allem der Netschajewismus, dem der in Sibirien zum gläubigen Christen mutierte ehemalige Narodnik Dostojewski in seinem Roman „Die Dämonen“ ein kritisches Denkmal setzt. Kropotkin gilt als Gegenpol dieser terroristischen Kreativität der Destruktion, die u.a. auch Tolstoj und Plechanow ablehnen.

Wissenschaftsmonismus: Kropotkins Wissenschaftsgläubigkeit und die Wahl der physikalisch begründeten induktiv-deduktiven Methodologie zur Verbesserung der Sozialphysik in der Bevölkerung ist vor diesem Hintergrund leicht nachzuvollziehen. Doch seine Fixierung auf diese eine wissenschaftliche Vorgehensweise ließ ihn nicht erkennen, dass er selber der Flexibilität nicht gerecht wird, die er in sämtlichen Bereichen für sämtliche Institutionen fordert. So hinterfragt er nicht die Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, die den Rahmen für seine Methodologie bildet und erkennt nicht, dass diese ebenfalls einer Evolution unterliegen. Er gleicht darin Quantenphysikern, die Paradoxien der Relativitätstheorie erkennen und dieser theoretisch keine Allgemeingültigkeit unterstellen, sie aber trotzdem von ihren Relativierungen ausnehmen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf, ein Kritikpunkt von Deutsch an Weinberg aus dem Bereich der Physik. Ähnliches lässt sich von Vertretern der Ethnosoziologie sagen, die zwar die Begrenztheit des Wissensverständnisses im westlichen Kulturkreis erkennen und im Vergleich mit dem Wissensverständnis anderer Kulturen kritisieren, aber doch nicht so weit gehen, sich vom westlichen Wissens- und Wissenschaftsverständnis zu lösen und dies radikal in Frage zu staellen. So stellt zwar Kropotkin viele unhinterfragte Voraussetzungen der damaligen Evolutions- und Gesellschaftswissenschaft in Frage und widerlegt sie innerhalb des Wissenschaftssystems, bleibt aber grundsätzlich dem Wissenschaftsverständnis seiner Zeit verhaftet und gleicht hierin einem dogmatischen Nichtdogmatiker.

Fast alle Punkte belegt Kropotkin sehr ausführlich und deduziert sie sogar mathematisch. Er setzt selbst autoritär fest, wie der Anarchismus bis in die letzte Faser der Institutionalisierung zu organisieren sei. Dabei versteckt er sich, ganz autoritätsfürchtig, hinter den wissenschaftlichen Autoritäten seiner Zeit wie Charles Darwin, um seine libertäre Theorie unangreifbar zu machen. Dem Interessenten bleibt nichts anderes übrig, als sich der einzig richtigen Form einer zukünftigen Gesellschaft unterzuordnen. Das steht im Widerspruch zu den anarchistischen Prinzipien der Kritikfähigkeit, Eigenverantwortung und Selbstbestimmung. Sowohl der libertäre Inhalt als auch der Methodenmonismus dient nicht der Förderung libertären Denkens, das ihm als Voraussetzung für eine freie schöpferische Ideenfindung gilt.

Obwohl sein Buch „Gegenseitige Hilfe im Tierreich“ als einseitige Erwiderung zum einseitigen Sozialdarwinismus geplant war und keinen strengen wissenschaftlichen Anspruch erhob, beruft er sich immer wieder auf die dort gemachten Feststellungen. Darüber hinaus übernimmt er modische wissenschaftliche Sensationen seiner Zeit, um seiner Theorie mehr Gewicht zu geben.

Analytische Unschärfe: Auch innerhalb seines Gedankengebäudes ist er nicht konsequent vorgegangen. Er spricht von Geselligkeitstrieb, dem Drang nach Gemeinschaftlichkit, von Individualismus, Freiheitlichkeit, und es ist nicht festzustellen, dass diese unklare Verwendung von Begriffen einer wissenschaftlichen Klassifizierung folgt. Auch die von ihm benannten Entwicklungsmechanismen und Tendenzen sind unscharf beschrieben. Sein Erkennntnisinteresse bleibt auf die gegenseitige Hilfe als Synthese von Geselligkeit und Individualismus beschränkt, die Informationen, die er induktiv gewinnt, entsprechen ausschließlich der Bestätigung dieser Sicht. Zum Beispiel sucht er alle geschichtlichen Fakten zusammen, die seinem Bild von den Gilden entsprechen, und sobald er dies mit einer Fülle von Beispielen scheinbar bewiesen (Verifikation) hat, überträgt er es auf alle Phänomene, die ihm wichtig erscheinen. Viele Freiiheitseinschränkungen durch die Gesetze der Gilden und Zünfte (z.B. Heiratsrecht) übersieht er.

Sein Fortschrittsoptimismus zeigt sich in seiner Forderung, durch entsprechende Erziehung und Ausbildung die innere Motivation so zu fördern, dass sie als einziger Arbeitsanreiz ausreicht. Er möchte, dass die Menschen das tun wollen, was sie seiner anarchistischen Ideologie entsprechend auch tun sollen. Jeder Mensch, der anarchistische Zwänge nicht als Selbstzwänge verinnerlicht, wird ausgeschlossen. Diese Kritik wird von seinem Freund Errico Malatesta geteilt, der ihm viel Empathie, aber keine kritische Distanz zu seinen Untersuchungsgegenständen zubilligt. Kropotkins Vorwurf an die Wissenschaft, sie gehe von technischen Neuerungen aus, die sie erst nachträglich theoretisch erkläre und legitimiere, kann man auch ihm selber machen, der von einer anarchistischen Utopie ausgehend erst nachträglich den Anarchismus in die Natur des Menschen pflanzt. Die induktive Methode dient der Rechtfertigung, die deduktive Methode ihrer Unangreifbarkeit. Bei ihm ist der Wunsch der Vater des Gedankens.

Traditionelles Wissenschaftsverständnis: Diese Vorwürfe sind ihm nicht alleine anzulasten. Gesellschaftswissenschaft war im 19. Jahrhundert sehr ideologiebelastet. Bei aller Kritik sollte man nicht übersehen, dass Kropotkin den wissenschaftlichen Konformismus seiner Zeit mit ihren eigenen Methoden schlug, mit dem biologischen Teil von „Gegenseitige Hilfe in der Tierwelt“ die gängige Art des Sozialdarwinismus als menschenfeindliche Ideologie entlarvte, die die soziale Ungleichheit als Ursprung der Chancenungleichheit negiert, die Auslese nach den Regeln einer starr geschichteten Welt festlegt und zur Rechtfertigung einen naturgesetzlichen Trend zur Perfektion in einer einheitlichen Entwicklung vom Niederen zum Höheren unterstellt, das im entfalteten Raubtierkapitalismus seine Blüte findet. Kropotkin geht hingegen von der Entfaltung einer heilen Welt aus, denn der sozialdarwinistische Trend zur Rechtfertigunng gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten ist eben nicht sein Trend.

So erkennt er die Fehlinterpretationen des Sozialdarwinismus als Ergebnisse von Analogieschlüssen, die nach gesellschaftlichen Entsprechungen zu biologischen Erscheinungen suchen und dabei biologische Erscheinungen finden, mit denen sie die gesellschaftlichen Entsprechungen rechtfertigen. Er erkennt die inhumane Stoßrichtung des Sozialdarwinismus, der seine höchste Entfaltung in der Rechtfertigung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit im Faschismus finden sollte, und setzt den unzulässigen Analogiebildungen seine optimistischen Analogiebildungen entgegen.

Geradezu genial sind seine Überlegungen vom Umschlagen der Wertbestimmung anhand der in einem Produkt verkörperten Arbeit in eine Wertbestimmung im voll entwickelten Kapitalismus, die durch die bedürfnisorientierte Nachfrage erfolgt, vom Verwischen von Arbeit und Freizeit (Produktion und Reproduktion), von der zunehmenden Ununterscheidbarkeit von Privat- und Gemeineigentum, der Entstehung von Kleinunternehmen der Zuliefererbranchen durch die Konzentration des Kapitals zu Großunternehmen, der Verwandlung bisheriger Absatzgebiete in erbitterte Konkurrenten, da Wissen tendenziell frei ist, und das allmähliche Sterben der Großunternehmen durch fehlende Flexibilität. Bis auf den letzten Unterpunkt kommt Ulrich Beck in seinem Buch "Risikogesellschat" zu ähnlichen Ergebnissen.

Rezeption auf politischer Ebene: Kropotkins Forderung nach bedürfnisorientierter Güterverteilung bei gleichzeitigem Gemeinbesitz an Produktionsmitteln wird von Nikita Chruschtschow auf dem 22. Parteitag der KPdSU (1961) geteilt, ohne ihn namentlich zu erwähnen. Chruschtschow ging davon aus, dass in den siebziger bis achtziger Jahren eine sowjetische Überflussgesellschaft entstehen würde, in der die Güter einer bedürfnisorientierten Verteilung zugeführt werden können, allerdings unter dem Bestehen eines starken Staatsaparates, der das Gemeineigentum an Produktionsmitteln garantiert (was in Wirklichkeit hieß: Der Staat war der Besitzer der Produktionsmittel). Immerhin deutet er ein Absterben des Staates in ferner Zukunft an – er sollte Recht behalten, doch anders, als er dachte.

Auch die Überlegungen zur sozialen Marktwirtschaft in den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren in der BRD überschneiden sich mit Kropotkins Überlegungen. Ludwig Erhardts Vorstellungen zur Schaffung von Wohlstand für alle in einer sozialen Marktwirtschaft haben eine ähnlche Zielsetzung, wie sie Kropotkin entworfen hatte. Der Weg zum Ziel unterschied sich allerdings: Ludwig Erhardt, ein Student von Franz Oppenheimer, setzt auf den Wettbewerb, Kropotkin auf die allmähliche Expropriation der Expropriateure, der Großunternehmen, durch die Kontrolle eines frei ausgehandelten Standards an Arbeitsrechten und –bedingungen. Das macht die Initiative durch gegenseitige Hilfe auf überschaubaren und nicht anonymen Märkten möglich und erzeugt durch die Beseitigung von Hierarchien ein Wirtschaftswachstum, so Kropotkin. Erhardt meint, dass die zu verteilenden Stücke von einer wachsenden Torte des Wirtschaftswachstums größer sind als die Stücke einer schrumpfenden, die im Klassenkampf herausgeschunden werden. Auch die Tolerierung von Großunternehmen unter der strikten Kontrolle des Bundeskartellamtes ist vergleichbar.

Kropotkin nimmt die Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und zu Beginn des 21. Jahrhunderts voraus. Die Wachstumsschrumpfung in den industrialisierten Ländern England und Frankreich, vorausgesagt und anhand des wirtschaftlichen Erfolgs des Deutschen Reiches belegt, das immer weniger Waren importierte, zwingt geradezu zur Entwicklung von Initiative auf genossenschaftlicher Basis (dies sah Kropotkin schon für China voraus, das auf dem Weltmarkt zu einer Konkurrenz werden würde). Mit den durch die industrielle Revolution geschaffenen Maschinen und Instrumenten wird bei einem gleichzeitigen Rückgang der Mobilität die Entwicklung von Flexibilität und Kreativität zunehmen müssen. Eine dezentrale Organisation der einzelnen Gemeinden, Kommunen, Länder, Bundesrepubliken, überstaatlichen und globalen Einheiten ist durch die moderne Kommunikationsmedien gegeben. Es entsteht so eine Vielfältigkeit an Bereichen, die nicht hierarchisch, sondern metahierarchisch organisiert sind, föderativ und nicht staatlich, meint Kropotkin. Komparative Kostenvorteile werden in Zukunft eher auf der Ebene des Transportweges als auf der Produktionsebene zum Tragen kommen – der Wein aus dem eigenen Gewächshaus und die Wolle von den eigenen Schafen werden – in Anlehnung an und Abgrenzung zu David Ricardo – sowohl in Schottland als auch in Portugal effektiver zu gewinnen sein als durch den internationalen Handel, wenn der Barrel Öl erst einmal 500 Euro kosten wird. Unter diesem Gesichtspunkt sind seine Vorhersagen nicht ganz abwegig.

Man sollte Kropotkin als Kind seiner Zeit sehen, das dem Altruismus zum Durchbruch verhelfen und ganz einfach die Welt so gestalten wollte, dass alle Menschen, auch die Leibeigenen seines Elternhauses, glücklich und frei in ihr und mit ihr leben können. Ähnlichkeiten zur Philosophie Albert Schweitzers sind nicht von der Hand zu weisen, wenn man folgendes Fazit liest, das Kropotkin am Ende seines Buches „Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt“ zieht. Großen Dank an die Herausgeber der Homepage www.kropotkin.de, ohne deren Existenz dieser Artikel nicht in diesem Umfang hätte geschrieben werden können.

Zitat

Jedesmal indessen, wo man daran ging, zu diesem alten Prinzip (der gegenseitigen hilfe, Anm. d. Verf.) zurückzukehren, wurde seine Grundidee erweitert. Vom Clan dehnte es sich zur Völkerschaft aus, zum Bund der Völkerschaften, zum Volk und schließlich – wenigstens im Ideal – zur ganzen Menschheit. Zugleich wurde es auch veredelt. Im ursprünglichen Buddhismus, im Urchristentum, in den Schriften mancher muselmännischen Lehrer, in den ersten Schriften der Reformation und besonders in den ethischen und philosophischen Bewegungen des letzten Jahrhunderts und unserer eigenen Zeit, setzt sich der völlige Verzicht auf die Idee der Rache oder Vergeltung – Gut um Gut und Übel um Übel – immer kräftiger durch. Die höhere Vorstellung: „Keine Rache für Übeltaten“ und freiwillig mehr zu geben, als man von seinen Nächsten zu erhalten erwartet, wird als das wahre Moralprinzip verkündigt – als ein Prinzip, das wertvoller ist als der Grundsatz des gleichen Maßes oder die Gerechtigkeit, und das geeigneter ist, Glück zu schaffen. Und der Mensch wird aufgefordert, sich in seinen Handlungen nicht bloß durch die Liebe leiten zu lassen, die sich immer nur auf Personen, bestenfalls auf den Stamm bezieht, sondern durch das Bewusstsein seiner Einheit mit jedem Menschen. In der Betätigung gegenseitiger Hilfe, die wir bis an die ersten Anfänge der Entwicklung verfolgen können, finden wir also den positiven und unzweifelhaften Ursprung unserer Moralvorstellungen; und wir können behaupten, dass in dem ethischen Fortschritt des Menschen der gegenseitige Beistand - nicht gegenseitiger Kampf - den Hauptanteil gehabt hat. In seiner umfassenden Betätigung - auch in unserer Zeit - erblicken wir die beste Bürgschaft für eine noch stolzere Entwicklung des Menschengeschlechts. (Fürst Peter Kropotkin: Gegenseitige Hilfe in der Tier – und Menschenwelt, Verlag von Theod. Thomas, Leipzig, 1908, S. 274f)

Siehe auch: Utopischer Sozialismus

Werke

Literatur

  • Gudrun Goes (Hrsg.): Nicht Narren, nicht Heilige. Erinnerungen russischer Volkstümler. Reclam, Leipzig 1984
Wikisource: Peter Kropotkin – Quellen und Volltexte
  • Umfangreiche Seite über Kropotkin: www.kropotkin.de
  • J.F.Harrison: 'Bookchin und Kropotkin. Gemeinsame Ideen und Organisationsvorstellungen'[1]]
  • Kropotkins Biographie in russischer Sprache: [2]