Sachverhalt

Ein Sachverhalt bezeichnet eine Lage, in der sich Gegenstände eines beliebigen Interesses (angeblich) zueinander befinden. Der Begriff wird im Deutschen unabhängig vom Begriff Tatsache verwendet. In der Philosophie und in der Rechtswissenschaft erlaubt es das Begriffspaar, Aussagen erst einmal unabhängig von ihrer Überprüfung anzunehmen. Aussagen zu Sachverhalten können sich bei einer Überprüfung (wissenschaftlich: Verifikation) als wahr (der Fall) oder unwahr (nicht der Fall) erweisen.

In der Rechtswissenschaft erlaubt es der Begriff des Sachverhalts, Aussagen erst einmal zu sammeln und als Aussagen der Beteiligten stehenzulassen. In der Philosophie hat der Begriff seit Ludwig Wittgenstein Bedeutung in einer erkenntnistheoretischen Erwägung dazu, weshalb und inwiefern Aussagen Erkenntnisse abbilden können, „sinnvoll“ werden.

Aussagenlogik

Die Grenzen sinnvoll formulierter Sachverhalte zeigte Ludwig Wittgenstein 1922 im Tractatus Logico-Philosophicus auf. Sie liegen dort, wo Unklarheit darüber besteht, unter welchen Bedingungen man einen Sachverhalt als Tatsache einstufen wird. Der Bereich der Sachverhalte ist damit nicht durch die Naturgesetze bestimmt. Dass der Kölner Dom 37 km hoch ist, formuliert einen Sachverhalt (auch wenn es nach den Naturgesetzen unmöglich sein sollte, ein Bauwerk dieser Höhe zu errichten). Die Formulierung kann als sinnvoll eingestuft werden, da wir eine Vorstellung davon haben, was der Fall sein müsste, wenn sie wahr wäre (dann müssten die Türme in die Stratosphäre reichen …); wir können nach den bestehenden Vereinbarungen darüber, was mit Sätzen wie „… ist 37 km hoch“ notiert ist, in einer Messung der Turmhöhen entscheiden, ob dies der Fall ist oder nicht. Nach Wittgenstein ist diese Angleichung an die Realität notwendig, um eine Tatsache festzustellen. Nach der Messung steht der Sachverhalt nun als eine Tatsache fest, und zwar das der Dom 157,38 m hoch ist.

Wittgensteins Analyse des Sprachgebrauchs erlaubte einige logische Feststellungen: Die Menge der Sachverhalte ist größer als die der Tatsachen, sie bindet sich nicht an Naturgesetze und auch nicht an vorherige Beobachtungen. Wohl aber impliziert ein Sachverhalt eine theoretische Überprüfbarkeit der mit ihm getroffenen Aussage. Im selben Moment ließen sich die Grenzen sinnvoller Aussagen von Sachverhalten definieren: Aussagen, bei denen unklar ist, was der Fall sein soll, wenn sie wahr sind, sind unverständlich formuliert und insofern sinnlos. Aussagen zu Kausalität und ethische Leitsätze haben ebenso wenig abbildenden Charakter. Als Realität abbildende Aussagen sind sie streng genommen sinnlos.

Die Beweisführung kann hier nur knapp angerissen werden: Wir können sagen, dass ein Turm fällt, wenn das Lot von seinem Schwerpunkt außerhalb seiner Standfläche weist, und wir können hieraus eine wenn-dann-Aussage formulieren: In unseren Beobachtungen fällt der Turm immer dann, wenn das Lot nicht mehr über der Standfläche hängt. Es ist dagegen unklar, welchen inhaltlichen Mehrwert die Aussage hat, der Turm falle, weil das Lot nicht mehr über der Standfläche hänge. Es ist kein Versuch denkbar, mit dem wir beweisen, dass die immer-dann-Aussage falsch ist und die weil-Aussage dagegen korrekt ist.

Moralische Imperative wie, „Du sollst nicht töten“ entziehen sich ähnlich der Überprüfung als Sachverhalte. Wohl lässt sich nachweisen, dass der formulierte Satz ein Imperativ des Dekalogs ist – das ist ein Sachverhalt und erweist sich bei Überprüfung anhand zirkulierender Bibelausgaben als eine Tatsache. Es lässt sich dagegen nicht sagen, was jeweils anderes der Fall sein soll, wenn der Satz in seiner Aussage wahr oder unwahr ist.

Die gesamte Erwägung hatte Bedeutung in der philosophischen Frage, ob eine Sprache denkbar sei, in der wir die gesamte Welt erfassen (soweit sie für uns erfassbar ist). Wittgenstein bejahte diese Frage im Verweis darauf, dass wir Beliebiges, was wir erfassen, als einen Sachverhalt formulieren können, von dem wir feststellen, dass er sich als gegeben erweist („die Welt ist alles, was der Fall ist“, lautete die prägnante Formulierung). Die Untersuchung zeigte gleichzeitig, dass der Bereich der Aussagen weitaus größer ist und mit der Frage nach sinnvoller, wissenschaftlich tragfähiger, Abbildung der Realität nicht abgedeckt wird. Siehe hierzu eingehender auch den Artikel Abbild.

Rechtswissenschaft

In der Rechtswissenschaft ist ein Sachverhalt die Gesamtheit aller juristisch relevanten Tatsachen. Innerhalb von Verfahrensentscheidungen eines Gerichts (Beschlüssen, Urteilen) oder verbindlichen Äußerungen eines Rechtsanwaltes (Gutachten, Schriftsätze) ist er der selektierte Teil der in einer Akte gesammelten Fakten eines Falles, bei einem erstinstanzlichen Urteil z. B. sein Tatbestand. Er bildet die Grundlage der Beurteilung des Falles und ist von dessen rechtlicher Bewertung auch äußerlich deutlich zu trennen.

Bei der Erarbeitung eines Sachverhalts, etwa anhand von aktenersichtlichen Zeugenaussagen, Polizeiberichten etc. dürfen keine wesentlichen Umstände weggelassen oder hinzugefügt werden. Der Fehler von Jurastudenten, in einer Sachverhaltsdarstellung Aussagen zu machen, die sich nicht aus mitgeteilten Tatsachen ergeben, sondern aus eigener Interpretation, heißt unter Prüfern „Sachverhaltsquetsche“.

Die grundlegende Fragestellung zu einem Sachverhalt bezeichnet man als Kardinalfrage. Anhand ihrer ermittelt ein geübter Jurist schnellstmöglich: wer will was von wem woraus?

Literatur