Nerother Wandervogel

Der Nerother Wandervogel (NWV – Nerother Wandervogel – Bund zur Errichtung der Rheinischen Jugendburg e.V.) ist einer der letzten bestehenden Wandervogelbünde, die ihre Wurzeln in der historischen Jugendbewegung haben.

Der Nerother Wandervogel ist aristokratisch strukturiert. Der Bundesführer wird auf Lebenszeit gewählt. Er bildet aus Führern seines Vertrauens (den Bundesrittern) das Ritterkapitel. Gegliedert ist der Bund in autonome „Orden“, die wiederum aus einzelnen „Fähnlein“ bestehen. Der Ordensritter schafft sich seinen Orden und benennt ihn nach dessen besonderer Eigenart. Unter den Wandervogelbünden zeichnet den Nerother Bund aus, dass sich hier die "Orden" nicht nach geographischer Nähe gliedern, sondern dass sich einzelne Fähnlein dem Orden anschließen, zu dessen besonderer Eigenart sie sich hingezogen fühlen oder einen eigenen Orden gründen, um ihre besondere Eigenart leben zu können. (siehe "Aufruf zur Gründung des Nerother Bundes" in Kindt´s "Die bündische Zeit"). Der Nerother Wandervogel ist ein reiner Jungenbund im Geiste des Wandervogelgründers Karl Fischer, der 1930 Ehrenmitglied im Nerother Wandervogel wurde. Dass der Nerother Wandervogel ein reiner Jungenbund ist und das Bundesleben bewusst auf persönliche Zuneigung aufbaut, hat ihm zeitweise den Ruf eingebracht, nicht frei von Homoerotik zu sein.

Als geistige Grundlage gelten dem Nerother Wandervogel seine Weistümer – eine Sammlung von Werten und Erkenntnissen. Inhalt des Nerother Wandervogels sind unter anderem Wanderfahrten im In- und Ausland, Pflege von Volks- und eigenem Liedgut, Gruppenstunden, Laienspiel und Bauhütten an der Rheinischen Jugendburg.

Geschichte

1920 bis 1934: Gründung, Blüte und Verbot des Nerother Wandervogels

Gegründet wurde der Nerother Wandervogel von Robert Oelbermann am 27. März 1921 auf dem Drachenfels bei Busenberg/Pfalz. Erster Bundesführer war Robert Oelbermann. Bereits ein Jahr zuvor, in der Neujahrsnacht 1919/20, hatte Robert Oelbermann in der Höhle am Nerother Kopf, unweit des Dorfes Neroth in der Vulkaneifel mit sieben Getreuen aus dem Wandervogel E.V., den sogenannten Erznerommen, die Nerommenschar als Keimzelle des Nerother Bundes gegründet.

Neben einem traditionellen Wandervogelleben als reinem Jungenbund war es von Anfang an das Ziel des Nerother Wandervogels, eine eigene Jugendburg als „Denkmal für die gefallenen Wandervögel des (ersten) Weltkriegs“ zu erbauen. Dazu erwarb er 1922 die Burguine Waldeck im Hunsrück nahe dem Dorf Dorweiler. Für die Planung der Burg wurde der Architekt und Lebensreformer Karl Buschhüter gewonnen, mit dem Bau wurde noch 1922 begonnen. Sehr bald zeigte sich, dass die ursprüngliche Planung sowohl vom Umfang her wie auch aus Denkmalschutzgründen nicht umsetzbar war, das Bauprogramm wurde reduziert und auf die Burgwiese oberhalb der Ruine verlagert. 1926 wurde mit der Burg Grenzau bei Höhr-Grenzhausen eine zweite Jugendburg erworben.

Auf der Burg und in ihrer Umgebung begann ein reges Jungenleben und der Bund fand großen Zuspruch. Insbesondere durch seine in großem Maßstab durchgeführten Fahrten und die dabei gedrehten Filme von Karl Mohri erlangte der Nerother Wandervogel eine gewisse Berühmtheit in der Bündischen Jugend. Mohris Filme waren trotz des Verbots der Bündischen Jugend bis weit in die 1930er Jahre hinein im Verleih der Ufa. Vor 1933 lebte auch der Schriftsteller Werner Helwig für einige Zeit auf der Burg. Er war bis zu seinem Tod Mitglied im Nerother Wandervogel und schrieb mehrere Lieder und Bücher über den Bund und seine eigenen Erlebnisse als Wandervogel.

Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 wurde der Nerother Wandervogel zur Selbstauflösung gezwungen. Am 18. Juni 1933 wurde die Burg Waldeck von HJ, SA und SS besetzt. Daraufhin erklärte Karl Oelbermann, der seinen seit 1931 auf Weltfahrt befindlichen Bruder Robert als Bundesführer vertrat, am 22. Juni 1933 den Bund im Deutschen Reich für aufgelöst. Robert Oelbermann widerrief die Auflösung wenig später, musste aber nach seiner Rückkehr nach Deutschland erkennen, dass der Nerother Wandervogel aus Verantwortung gegenüber den jugendlichen Mitgliedern nicht auf Dauer in den Widerstand gegen das NS-Regime gehen konnte. Zum Jahreswechsel 1933/34 löste er den Nerother Wandervogel endgültig auf.

Dennoch blieben zahlreiche Gruppen illegal zusammen und trafen sich bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkriegs zu Heimabenden und Fahrten. An einigen Orten entstanden sogar neue Gruppen. Während dessen versuchte Robert Oelbermann, das Eigentum des Nerother Wandervogels vor dem Zugriff von HJ und Staat zu schützen. Dazu entstand 1934 die Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck, die sich aber schon 1935 unter staatlichem Druck wieder auflösen musste.

1936 wurde Robert Oelbermann wegen angeblicher Verstöße gegen den § 175 verhaftet, aufgrund erpresster Falschaussagen verurteilt und nach Verbüßung der Haft in so genannte Schutzhaft genommen. Sein Leidensweg führte ihn durch die Konzentrationslager Oranienburg, Sachsenhausen, Mauthausen und Dachau, wo er 1941 verstarb. Insgesamt wurden etwa 150 Nerother im Alter zwischen 13 und 40 Jahren verhaftet und im Gefängnis "Ulmer Höhe" in Düsseldorf 1936/37 zum Teil erheblich gefoltert, um Falschaussagen gegen Robert und Karl Oelbermann zu erpressen. Karl Oelbermann befand sich zu dieser Zeit in Südafrika auf Fahrt, unter anderem um gemeinsam mit einigen anderen Nerothern das Weiterbestehen des Nerother Wandervogels sicherzustellen.

1945 bis 1974: Wiederaufbau des Bundes und Grundstücksprozesse

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Wiedergründung des Nerother Wandervogels nach dem zweiten Weltkrieg

Sofort nach dem Ende des zweiten Weltkriegs sammelten sich alte Nerother Wandervögel und gründeten neue „Fähnlein“ und „Orden“. Zu erwähnen ist hier vor allem der Nerother Wandervogel im Saarland, der unter der Führung von Wilhelm Sell zu einer großen Gemeinschaft aus mehreren Orden wurde.

Der Rechtsanwalt Dr. Wally Plessner, der Robert Oelbermann 1936 verteidigt hatte, suchte nach 1945 mit einem Privatdetektiv die ehemaligen Gestapobeamten Hirtschulz und Schaefer. Der Gestapobeamte Heinemann war 1947 in den Niederlanden wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit hingerichtet worden. Die Gestapobeamten Hirtschulz und Schaefer wurden wegen Geständniserpressungen zu langjährigen Haftstrafen in Düsseldorf verurteilt. Die Arbeiten von Stefan Krolle haben die Person Robert Oelbermann rehabilitiert und die Verfolgungsstrategie der Düsseldorfer Gestapo vollständig entschlüsselt.

Robert Oelbermanns Zwillingsbruder Karl war während des zweiten Weltkriegs in Südafrika interniert. Er kehrte 1950 zurück und übernahm als neuer Bundesführer die Geschicke des Nerother Wandervogels. Neben der Burg Waldeck erwarb der Nerother Wandervogel mit der Burgruine Hohlenfels im Taunus für einige Jahre erneut eine zweite Jugendburg.

Gleichzeitig mit dem Wiederaufbau des Wandervogelbundes entstand auch die Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck neu. Zwischen ihr und dem Nerother Wandervogel begann Mitte der 1950er Jahre ein langjähriger Rechtsstreit um das Eigentum an zahlreichen Grundstücken im Umfeld der Burg, der sich auch an den verschiedenen Konzepten zu Jugendarbeit und -kultur entzündete. Die Prozesse wurden erst in den 1970er Jahren beendet, das umstrittene Gelände wurde der Arbeitsgemeinschaft zugesprochen. Die eigentliche Burg gehört weiterhin dem Nerother Wandervogel.

Wandervögel auf Alaskafahrt 2004

Ab 1972 wurde zunächst auf Gelände der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck und später neu auf dem direkt vor der Oberburg gelegenen Hang der „Ehrenhain der Deutschen Jugendbewegung“ angelegt, mit dem die Idee des „Denkmals für die gefallenen Wandervögel des (ersten) Weltkriegs“ neu aufgenommen und auf die gesamte Jugendbewegung ausgeweitet wurde. Heute finden sich dort etwa 30 Gedenksteine für Führer der Wandervogel-, Pfadfinder- und Jungenschaftsbünde, die vom Nerother Wandervogel gepflegt werden.

1974 starb Karl Oelbermann auf Burg Waldeck.

seit 1974: Interne Konflikte, Austritte und die Politik

1974 wurde Fritz-Martin Schulz nach heftigen internen Konflikten, die auch zum Austritt einiger Orden führten, zum neuen Bundesführer gewählt. Sein Führungsstil war in den folgenden Jahren wiederholt Anlass zu weiteren Auseinandersetzungen, die erneute Abspaltungen nach sich zogen, aber das Weiterbestehen des Bundes in ursprünglicher Form sicherstellten. Fritz-Martin Schulz führt den Bund bis heute.

Bekannt für seine Bundesführung sind die mehrwöchigen Schülerfahrten nach Amerika, der elitäre Anspruch bei der Auswahl der Jungen Qualität vor Quantität den Vorzug zu geben, sowie die Kritik von angeblicher Geldverschwendung und Vorteilsnahme bei etlichen Vertretern der Jugendpflege und diversen Bünden.

In den letzten Jahren werfen Kritiker dem Nerother Wandervogel vor, die politische Neutralität aufgegeben zu haben und rechts-konservative Positionen einzunehmen. Fritz-Martin Schulz gab unter anderem ein Interview in der Jungen Freiheit (siehe: Weblinks). Nach einem Bericht der taz (siehe Weblinks) soll Schulz in Rundbriefen des Nerother Wandervogels Ausländer als „nicht integrierbare Teile der Bevölkerung“ und Neonazis als „Medienpopanz“ bezeichnet haben.

Literatur

  • Werner Helwig: Die Blaue Blume des Wandervogels. Überarbeitete Neuausgabe. Deutscher Spurbuchverlag, Baunach 1998. ISBN 3-88778-208-9
  • Werner Kindt: Dokumentation der Jugendbewegung. Band 3: Die deutsche Jugendbewegung 1920 bis 1933. Die Bündische Zeit. Diederichs, Düsseldorf 1974. ISBN 3-424-00527-4
  • Stefan Krolle: Bündische Umtriebe: Geschichte des Nerother Wandervogels vor und unter dem NS-Staat; ein Jugendbund zwischen Konformität und Widerstand. 2. Auflage. Lit, Münster 1986. ISBN 3-88660-051-3
  • Stefan Krolle: Musisch-kulturelle Etappen der deutschen Jugendbewegung von 1919-1964. Lit, Münster 2004. ISBN 3-8258-7642-x
  • Nerohm (Fritz-Martin Schulz): Die letzten Wandervögel. 2. Auflage. Deutscher Spurbuchverlag, Baunach 2002. ISBN 3-88778-197-X
  • Norbert Schwarte, Stefan Krolle (Hrsg.): „Wer Nerother war, war vogelfrei:“ Dokumente zur Besetzung der Burg Waldeck und zur Auflösung des Nerother Wandervogels im Juni 1933. Puls 20, 2. überarbeitete und erweiterte Auflage. Verlag der Jugendbewegung, Stuttgart 2002. ISSN 0342-3328
  • Gerhard Ziemer: Der Wandervogel und Zum politischen Standort der historischen Jugendbewegung. Selbstverlag Nerother Wandervogel, Dorweiler 1984