Déjà-vu

Als Déjà-vu [deʒaˈvy] (französisch déjà vu ‚schon gesehen‘) wird eine Erinnerungstäuschung bezeichnet, bei der eine Person glaubt, ein gegenwärtiges Ereignis früher schon einmal erlebt zu haben.[1][2] Dabei scheinen – trotz eines starken Erinnerungsgefühls – Zeit, Ort und Kontext der „früheren“ Erfahrung ungewiss oder unmöglich.[3][4]

Weitere Bezeichnungen für diese qualitative Gedächtnisstörung (psychopathologische Bezeichnung) sind Erinnerungstäuschung[5] (Sander), identifizierende Erinnerungsfälschung[6] (Kraeppelin), Bekanntheitstäuschung, (gnostische) Erinnerungsillusion und Fausse reconnaissance [fos ʀəkɔnɛˈsɑ̃s] (französisch für ‚falsches Wiedererkennen‘).

Ein Déjà-vu tritt beim gesunden Menschen vereinzelt spontan, im Zustand der Erschöpfung oder bei Vergiftungen, aber auch in Träumen, gehäuft auf. Als Begleiterscheinung von Neurosen, Psychosen oder organischen Hirnerkrankungen, vor allem des Temporallappens, können Déjà-vus ebenfalls gehäuft auftreten. Nach Umfragen hatten 50 bis 90 Prozent aller Menschen mindestens einmal ein Déjà-vu, vergessen aber meist nach einer gewissen Zeit, wo und wann es zuletzt auftrat.

Das Gegenteil des Déjà-vus, das Gefühl von Fremdheit in einer vertrauten Umgebung, heißt Jamais-vu-Erlebnis [ʒamɛˈvy] (französisch für ‚nie gesehen‘) und kann unter ähnlichen Umständen auftreten.

Etymologie

1868 soll der deutsche Psychiater Julius Jensen die Bezeichnung Doppelwahrnehmung für Phänomene eingeführt haben, die heute auch als Déjà-vu bezeichnet werden.[7] Für Jensens Bezeichnung Doppelwahrnehmung soll Wilhelm Sander die Bezeichnung Erinnerungstäuschung vorgeschlagen haben.[8] Der französische Philosoph Émile Boirac soll das Wort Déjà-vu im Jahre 1876 verwendet haben[9] in seinem Buch L’Avenir des sciences psychiques (Die Zukunft der psychischen Wissenschaften). (→Liste geflügelter Worte)

Erklärungsansätze

Viele Wissenschaftler sehen in der Ergründung des Déjà-vus große Chancen. So könnte die Erforschung von Déjà-vus nicht nur erklären helfen, wie Gedächtnistäuschungen entstehen, sondern auch, wie es dem Gehirn überhaupt gelingt, ein kontinuierliches Abbild der Realität zu konstruieren. Entsprechend diesen Erwartungen liegen reichlich Studien und Erklärungsversuche vor, die einander zum Teil widersprechen:

Erklärung der geteilten Wahrnehmung

Nach dieser Erklärung kann ein Déjà-vu auftreten, wenn dieselbe (aktuelle) Sinneserfahrung in kurzer Abfolge zweimal hintereinander wahrgenommen wird. Die erste Wahrnehmung ist kurz, oberflächlich oder unter Ablenkung. Unmittelbar danach könnte die zweite Wahrnehmung bekannt erscheinen, weil sie auf natürliche Weise mit der ersten Erfahrung in Verbindung gebracht wird. Eine mögliche Ursache für diesen Mechanismus könnte sein, dass die erste Wahrnehmung nur eine schwache Verarbeitung erfährt, was bedeutet, dass nur einige oberflächliche physische Attribute aus dem Stimulus extrahiert werden.[10]

Gedächtnisbasierte Erklärung

Implizite Erinnerung

Das Gedächtnis (genauer recognition memory) ermöglicht es, zu erkennen, dass das aktuelle Ereignis oder die Aktivität schon einmal geschehen ist. Nach den Theorien der impliziten Erinnerungen erfolgt dies im Falle eines Déjà-Vus durch das implizite Gedächtnis (unterbewusst) und kann sowohl durch tatsächliche (vergessene) Erinnerungen als auch nicht-existente bzw. stark andersartige Erinnerungen verursacht werden.[3][11][12]

Somit können die Begegnungen mit den zugehörigen impliziten Assoziationen im zweiten Fall als Fehlfunktion des recognition memory betrachtet werden. Trotzdem werden Déjà-Vus häufig mit einer guten Gedächtnisfunktion in Verbindung gebracht.[13]

Kryptomnesie

Eine weitere mögliche Erklärung für das Phänomen des Déjà-vu ist das Auftreten von Kryptomnesie, bei der erlernte Informationen bereits vergessen wurden, bestimmte Teile des Wissens allerdings durch ähnliche Ereignisse wieder hervorgerufen werden können. Das daraus resultierende Gefühl der Vertrautheit erklären die Studien als Déjà-vu. In diesem Kontext wird häufig das Konzept der Erinnerung als Rekonstruktionsprozess bevorzugt, wonach jedes Zurückerinnern nur ein Aufruf der letzten Rekonstruktion ist. Ein Wiedererkennen (Déjà-vu) basiert auf einer möglichst großen Schnittmenge zwischen dem aktuell Erlebten und der im Gedächtnis gespeicherten Informationen. Diese Informationen tendieren aber dazu, über die Anzahl der Generationen an Rekonstruktionsversuchen so von dem eigentlichen Erlebnis abzuweichen, dass es scheint, als wäre eine solche Situation nie erlebt worden, auch wenn sie vertraut wirkt.[14]

Doppelte neurologische Verarbeitung

1964 schlug Robert Efron vom Veterans Hospital in Boston vor, dass ein Déjà-vu durch eine „doppelte neurologische Verarbeitung“ einer Erfahrung entsteht. Efron fand heraus, dass das Sortieren eingehender Signale im Temporallappen der linken Gehirnhälfte erfolgt. Die Signale einer Erfahrung treten jedoch vor der Verarbeitung zweimal in den Schläfenlappen ein, einmal von jeder Hemisphäre des Gehirns, normalerweise mit einer leichten Verzögerung von Millisekunden zwischen ihnen. Efron schlug vor, dass die beiden Signale als zwei getrennte Erfahrungen verarbeitet werden könnten, wenn sie gelegentlich nicht richtig synchronisiert würden, wobei die zweite ein Wiedererleben der ersten zu sein scheint.[15][16]

Déjà-vu in der Kunst

Literatur

Johann Wolfgang von Goethe schildert in seinem Buch „Dichtung und Wahrheit“ ein Erlebnis, welches einem Déjà-vu sehr nahekommt: Er ritt als junger Mann auf dem Rückweg von einer biografisch besonderen Situation durch eine Landschaft und sah sich für einen Moment selbst auf einem Pferd entgegen reiten, jedoch als älterer Mann und in anderen Kleidern (Präkognition). Einige Jahre später ritt er zufällig durch dieselbe Gegend und erinnerte sich plötzlich an das Erlebnis und bemerkte, dass er exakt die Kleider trug, wie bei dem inneren Bild, das er damals gesehen hatte.[17]

Film und Theater

In Folge 16 von Monty Python’s Flying Circus aus dem Jahr 1970 erlebt der Moderator einer Fernsehsendung über psychologische Phänomene, dargestellt von Michael Palin, eine Serie von Déjà-vus.

In dem Film Matrix deutet ein offensichtliches Déjà-vu auf eine Manipulation des simulierten Weltgefüges hin. (Szene bei 74:27 min., in der eine schwarze Katze zweimal eine Tür passiert und sich schüttelt.)

Weitere Filme mit Bezug zu Déjà vu bzw. entsprechendem Titel sind:

Von Ralph Wallner stammt ein Theaterstück mit dem Namen Breznknödl-Deschawü.

Bildende Kunst

2006 fand im Atelier Augarten in Wien eine Ausstellung unter dem Titel Déjà-vu statt. Sieben zeitgenössische Künstler nahmen zu dem Phänomen der geheimnisvollen Wiederkehr des Vergangenen Stellung. Zu sehen waren Arbeiten von Anna Gaskell, Isabell Heimerdinger, Constantin Luser, Jan Mancuska, Martina Steckholzer, David Thorpe und Clemens von Wedemeyer.

Musik

In der Musik gibt es u. a. folgende Darstellungen des Phänomens:

  • Die US-Rockband Crosby, Stills, Nash & Young veröffentlichte 1970 ihr Album Déjà Vu, dessen Titel auf dem gleichnamigen Stück von David Crosby beruht, das auf dem Album zu finden ist.
  • Die Deutschrockband Spliff brachte 1982 das Neue-Deutsche-Welle-Lied Déjà Vu heraus.
  • Das im Jahr 1986 veröffentlichte Album Somewhere in Time der britischen Band Iron Maiden enthält ein Lied mit Titel Deja-Vu.[18][19]
  • 1991 veröffentlichte Dieter Bohlen mit seiner Band Blue System eine Single und ein Album dieses Namens.
  • 1999 veröffentlichte Dave Rodgers das Lied Deja Vu, welches unter anderem durch den Anime Initial D, in dem es vorkam, größere Bekanntheit erlangte.
  • 2004 veröffentlichte John Fogerty das Album Deja Vu All Over Again, das den Titel Deja Vu (All Over Again) enthält.
  • 2006 veröffentlichte die R&B-Sängerin Beyoncé Knowles ein gleichnamiges Lied.
  • Eminem veröffentlicht 2009 den Song Deja vu auf seinem Album Relapse.
  • Von Hannes Kinder stammt das Lied Déjà-vu, das am 19. August 2013 als Single veröffentlicht wurde.[20]
  • Durch eine Kollaboration des australischen DJ und Produzenten Timmy Trumpet mit dem neuseeländischen Rapper Savage entstand 2017 ein Lied namens Deja Vu.[21]
  • Am 29. September 2017 veröffentlichte der deutsche Sänger Mike Singer ebenfalls eine Single namens Deja Vu.[22]
  • Am 1. April 2021 veröffentlichte Olivia Rodrigo ihre zweite Single deja vu.[23]

Siehe auch

Literatur

  • Ute Schönpflug: Art. Gedächtnistäuschung (Erinnerungstäuschung; frz. fausse mémoire, fausse reconnaissance; déjà vu) In: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3 (1974), Sp. 46–52.
  • Uwe Wolfradt: Déjà-vu-Erfahrungen: Theoretische Annahmen und empirische Befunde. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie. 2000, S. 359–376.
  • Ina Schmied-Knittel: Erinnerungen an die Zukunft. Inhalt, Struktur und Deutung von Déjà-vu-Erfahrungen. In: Eberhard Bauer; Michael Schetsche (Hrsg.): Alltägliche Wunder: Erfahrungen mit dem Übersinnlichen – Wissenschaftliche Befunde. Ergon, Würzburg 2003, ISBN 3-89913-311-0.
  • Peter Krapp: Deja Vu. Der Augenblick der Nachträglichkeit in der zeitgenössischen Kunst. Österreichische Galerie Belvedere, Wien 2005.
  • Thomas Trummer (Hrsg.): Déjà-vu. Der Augen-Blick der Nachträglichkeit in der zeitgenössischen Kunst. Mit Texten von Henri Bergson, Heike Maier, Gerhard Neumann, Peter Krapp, Beat Wyss und Thomas Trummer. Wien 2006, ISBN 3-85160-069-X.
Wiktionary: Déjà-vu – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. Alan S. Brown: A review of the déjà vu experience. In: Psychological Bulletin. Band 129, Nr. 3, 2003, ISSN 1939-1455, S. 394–413, doi:10.1037/0033-2909.129.3.394 (apa.org [abgerufen am 28. Januar 2023]).
  2. Akira R. O’Connor, Chris J. A. Moulin: Recognition Without Identification, Erroneous Familiarity, and Déjà Vu. In: Current Psychiatry Reports. Band 12, Nr. 3, Juni 2010, ISSN 1523-3812, S. 165–173, doi:10.1007/s11920-010-0119-5 (springer.com [abgerufen am 28. Januar 2023]).
  3. a b Alan S. Brown: The déjà vu experience. Psychology Press, New York 2004, ISBN 0-203-48544-0.
  4. "The Meaning of Déjà Vu", Eli Marcovitz, M.D. (1952). Psychoanalytic Quarterly, vol. 21, Seiten: 481–489
  5. Oswald Bumke: Die Diagnose Der Geisteskrankheiten. 1919, S. 70 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  6. H. Heimann: Déjà-vu. In: Christian Müller (Hrsg.): Lexikon der Psychiatrie. Gesammelte Abhandlungen der gebräuchlichsten psychiatrischen Begriffe. 2. Auflage. Springer, Berlin 1986, ISBN 978-3-642-87356-0, S. 143, doi:10.1007/978-3-642-87355-3 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  7. Jan Dirk Blom: A Dictionary of Hallucinations. Springer, New York 2010, ISBN 978-1-4419-1223-7, S. 156 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  8. Hermann Emminghaus: Allgemeine Psychopathologie zur Einführung in das Studium der Geistesstörungen. F. C. W. Vogel (Reprint Elibron Classics series), Leipzig 2005, ISBN 0-543-98658-6, S. 130 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche – Erstausgabe: 1878, Reprint).
  9. Theo R. Payk: Pathopsychologie. Vom Symptom zu Diagnose. Springer, Berlin 2002, ISBN 3-540-42621-3, S. 244 (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
  10. Brian H. Ross: The psychology of learning and motivation. Vol. 53. Academic, London 2010, ISBN 978-0-12-380906-3.
  11. Anne M. Cleary: Recognition Memory, Familiarity, and Déjà vu Experiences. In: Current Directions in Psychological Science. Band 17, Nr. 5, Oktober 2008, ISSN 0963-7214, S. 353–357, doi:10.1111/j.1467-8721.2008.00605.x (sagepub.com [abgerufen am 29. Mai 2022]).
  12. Anne M. Cleary: Recognition Memory, Familiarity, and Déjà vu Experiences. In: Current Directions in Psychological Science. Band 17, Nr. 5, Oktober 2008, ISSN 0963-7214, S. 353–357, doi:10.1111/j.1467-8721.2008.00605.x (sagepub.com [abgerufen am 29. Mai 2022]).
  13. Naoto Adachi, Takuya Adachi, Michihiro Kimura, Nozomi Akanuma, Yoshikazu Takekawa: Demographic and Psychological Features of Déjà Vu Experiences in a Nonclinical Japanese Population:. In: The Journal of Nervous and Mental Disease. Band 191, Nr. 4, April 2003, ISSN 0022-3018, S. 242–247, doi:10.1097/01.NMD.0000061149.26296.DC (lww.com [abgerufen am 29. Mai 2022]).
  14. Youngson, R.: Deja Vu. In: The Royal Society of Medicine Health Encyclopedia. Abgerufen am 29. Mai 2022.
  15. Robert Efron: Temporal Perception, Aphasia and Déjà Vu. In: Brain. Band 86, Nr. 3, 1. September 1963, ISSN 0006-8950, S. 403–424, doi:10.1093/brain/86.3.403.
  16. How Déjà Vu Works. 11. April 2006, abgerufen am 29. Mai 2022 (englisch).
  17. Johann Wolfgang von Goethe: Dichtung und Wahrheit. Dritter und vierter Teil im Projekt Gutenberg-DE: „Nun ritt ich auf dem Fußpfad gegen Drusenheim, und da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahnungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegenkommen, und zwar in einem Kleid, wie ich es nie getragen: Es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus diesem Traum aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, dass ich nach acht Jahren, in dem Kleid, das mir geträumt hatte, und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben Weg fand, um Friederike noch einmal zu besuchen. Es mag sich übrigens mit diesen Dingen wie es will verhalten, das wunderliche Trugbild gab mir in jenen Augenblicken des Scheidens einige Beruhigung.“
  18. Text von Lied "Deja-Vu" von Iron Maiden. lyricstranslate.com, abgerufen am 8. April 2022 (englisch).
  19. Liste der Lieder auf Album "Somewhere in Time" von Band "Iron Maiden". discogs.com, abgerufen am 8. April 2022 (englisch).
  20. Hannes Kinder – Déjà-vu auf YouTube
  21. Timmy Trumpet & Savage – Deja-Vu (Official Lyric Video) auf YouTube, abgerufen am 5. Mai 2020.
  22. Mike Singer – Deja Vu auf YouTube
  23. Olivia Rodrigo – deja vu auf YouTube