Doketismus

Der Doketismus (griechisch δοκεῖν dokein „scheinen“) ist eine Lehre, der die Auffassung zugrunde liegt, dass die Materie niedrig und böse sei, und die Christus nur einen Scheinleib zuerkennt.[1][2] So sei Jesus aus doketischer Sicht Gott geblieben, weil seine physische Existenz sein Wesen nicht berührt habe, er also nur zum Schein gelitten habe und gestorben sei. Die Menschheit und Geschichtlichkeit Christi wird damit im Doketismus aufgegeben.[2]

Die Ansicht verschiedener frühchristlicher Gruppen, dass alle Materie unrein sei, weshalb Christus keine Stoffgestalt annehmen könne, wurde schon in den Briefen des Ignatius von Antiochien (ca. 110 n. Chr.) bekämpft[3]. Später hat Irenäus, um ebenfalls dem Doketismus entgegenzuwirken, die apologetische Logos#Christentum-Christologie mit einer betonten Inkarnationstheologie verbunden.[4] Häufig wird auch vermutet, schon im 1. Johannesbrief (datiert zwischen Mitte des ersten Jahrhunderts bis 1. Jahrzehnt des 2. Jahrhunderts) sei Doketismus schon als Gegnerposition gegeben (1. Joh. 1,1-3 EU[5]; 1. Joh. 4,2-3 EU[1]), so die Positionen von Weigandt und Uebele. Als Quellen werden sowohl hellenistische Auffassungen, wie die Ideenlehre Platons, gesehen, die die Materie als minderwertig betrachteten, als auch der judenchristliche Monotheismus, der an der Menschwerdung und dem Leiden Gottes Anstoß nahm.

Der Doketismus ging später im Gnostizismus und Manichäismus auf. Da viele gnostische Lehren auch doketisch sind[5], nahm man lange an, dass der Doketismus aus der Gnosis entstanden oder gar mit ihr identisch sei.

Die römische Kirche verurteilte mit Tertullian den Doketismus[6], da sie gerade das Leiden und Sterben am Kreuz als zentralen Bestandteil ihres Erlösungsglaubens betrachtete.

Beispiele für Doketismus

  • Der Gnostiker Addru Cerdo (Κέρδων Kerdōn) vertritt die Auffassung, dass Christus nur als Trugbild (in phantasmate) in der Welt gewesen, nicht geboren sei und nur vermeintlich gelitten (quasi passum) habe.
  • Satornil lehrte, dass Christus ungeboren, unkörperlich und gestaltlos gewesen und nur scheinbar (putative) Mensch gewesen sei.
  • Markion meint, dass Christus als Mensch erschien, obwohl er kein Mensch war, und dass er weder Geburt noch Leiden wirklich auf sich genommen habe, sondern nur zum Schein.
  • Von Basilides (um 133) berichtet Irenäus von Lyon die Vorstellung, dass Simon von Cyrene die Gestalt Jesu angenommen und an dessen Stelle am Kreuz gestorben sei, während dieser selbst sich unsichtbar gemacht und als „unkörperliche Kraft“ (virtus incorporalis) zum Vater aufgestiegen sei.[7]
  • Valentinus schrieb: „Jesus aß und trank in einer besonderen Weise, ohne die Speisen wieder auszuscheiden. So groß war die Kraft seiner Fähigkeit, die Ausscheidung zurückzuhalten, dass die Speisen in ihm nicht verdarben, denn er selbst war unverderbbar und ohne Verfall.“
  • In einer anderen Form des Doketismus bediente sich nach Cerinthus der göttliche Christus eines gewöhnlichen Menschen (Jesus) als Medium, auf den er bei der Taufe im Jordan herabstieg („Du bist mein geliebter Sohn, ich habe dich heute gezeugt.“ Lk 3,22 EU), und den er vor dem Kreuzestod wieder verließ („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“).

Literatur

  • Norbert Brox: Doketismus – eine Problemanzeige; in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 95 (1984), S. 301–314 (W. Kohlhammer, Stuttgart Berlin Köln Mainz, ISSN 0044-2925)
  • Wichard v. Heyden: Doketismus und Inkarnation. Die Entstehung zweier gegensätzlicher Modelle von Christologie. Francke-Verlag, Tübingen 2014, ISBN 978-3-7720-8524-6.
  • Adolf Jülicher: Δοκηταί. In: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft (RE). Band V,1, Stuttgart 1903, Sp. 1268.
  • Winrich Löhr, Josef van Ess: Art. Doketismus I. Christentum II. Islam. In: RGG, 4. Aufl., Bd. 2.
  • Ulrich B. Müller: Die Menschwerdung des Gottessohnes. Frühchristliche Inkarnationsvorstellungen und die Anfänge des Doketismus; Stuttgarter Bibelstudien 140; Verl. Kath. Bibelwerk, Stuttgart 1990; ISBN 3-460-04401-2
  • Wolfram Uebele: „Viele Verführer sind in die Welt ausgegangen“. Die Gegner in den Briefen des Ignatius von Antiochien und in den Johannesbriefen; BWANT 151; Kohlhammer, Stuttgart/Berlin/Köln 2001; ISBN 3-17-016725-1
  • Benjamin Walker: Gnosis. Vom Wissen göttlicher Geheimnisse; Diederichs, München 1992; ISBN 3-424-01126-6
  • Peter Weigandt: Der Doketismus im Urchristentum und in der theologischen Entwicklung des zweiten Jahrhunderts. 2 Bde., Diss. Heidelberg 1961
Wiktionary: Doketismus – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. a b Doketismus. In: www.bibelwissenschaft.de. Deutsche Bibelgesellschaft, abgerufen am 16. Oktober 2019: „Vielmehr hat er [Jesus] sich – in der Taufe am Jordan – nur äußerlich und »zum Schein« (»Doketismus« kommt von dem griechischen Wort dokein = scheinen) mit einem Menschenleib verbunden, den er vor der Passion wieder verließ.“
  2. a b Johannes Hanselmann, Samuel Rothenberg, Uwe Swarat (Hrsg.): Fachwörterbuch Theologie. SCM R. Brockhaus, Wuppertal 1987, ISBN 3-417-24083-2, Doketismus, S. 44.
  3. Ignatius: Die sieben Briefe des Ignatius von Antiochien - 9. Kapitel Christus wahrer Mensch; seine und unsere Auferweckung von den Toten - Ignatius an die Trallianer -. In: Bibliothek der Kirchenväter. Griechische Patristik und orientalische Sprachen, abgerufen am 16. Oktober 2019: „1. Verstopfet daher eure Ohren, sobald euch einer Lehren bringt ohne Jesus Christus, der aus dem Geschlechte Davids, der aus Maria stammt, der wahrhaft geboren wurde, aß und trank, wahrhaft verfolgt wurde unter Pontius Pilatus, wahrhaft gekreuzigt wurde und starb vor den Augen derer, die im Himmel, auf der Erde und unter der Erde sind, 2. der auch wahrhaft auferweckt wurde von den Toten, da ihn sein Vater auferweckte; denn nach diesem Vorbild wird uns, die wir ihm glauben, sein Vater auch so auferwecken in Christus Jesus, ohne den wir das wahre Leben nicht haben.“
  4. Wolfhart Pannenberg. In: Religion in Geschichte und Gegenwart (RGG). 3. Auflage. Band 1, Mohr-Siebeck, Tübingen 1957, Sp. 1763. „Im Kampf gegen die Christologie der Gnosis (vor allem Valentins) und Marcions, die den Erlöser für die Dauer seines irdischen Wirkens mit einem seinem wahren Wesen fremd bleibenden und gleichzeitig der Fleischlichkeit baren Leibe nur bekleidet sein ließ (»Doketismus«), hat Irenäus die apologetische Logos-Christologie mit einer betonten Inkarnationstheologie verbunden.“
  5. a b Franz Lau: Christologie - 2. Die ersten Anfänge einer Lehre von Christus. In: Evangelisches Kirchen Lexikon. Band 1. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1961, S. 755–756: „Eine sog. doketische Christologie (Christus hat nur einen Scheinleib) ist gnostisch und wird meistens (vgl. 1Joh 1,1ff), aber nicht durchgehend abgewiesen.“
  6. Tertullian: Über den Leib Christi. (De carne Christi) - 9. Kapitel - Der Leib des Menschen kommt von der Erde. Ebenso war der Leib Christi und nicht aus himmlischen Stoffen gebildet. In: Bibliothek der Kirchenväter. Griechische Patristik und orientalische Sprachen, 220, abgerufen am 16. Oktober 2019: „Wie kann man mir überhaupt einen Leib als himmlisch bezeichnen, woran man keine Spur von etwas Himmlischem wahrnimmt? Wie kann man die irdische Beschaffenheit leugnen, da, wo man die klaren Beweise davon sieht? Es hungerte ihn — unter den Augen des Teufels, es dürstete ihn — in Gegenwart der Samariterin, er weinte — über Lazarus, er zagte — im Angesichte des Todes, denn das Fleisch, ruft er aus, ist schwach, und zuletzt vergoss er sein Blut.“
  7. Irenäus: Gegen die Häresien (Contra Haereses) - Erstes Buch - 24. Kapitel: Saturninus and Basilides - 4. In: Bibliothek der Kirchenväter. Griechische Patristik und orientalische Sprachen, 200, abgerufen am 16. Oktober 2019: „Wie aber der ungezeugte und unnennbare Vater ihre Verderbtheit sah, sandte er seinen eingeborenen Nous, der Christus genannt wird, um die, welche an ihn glauben würden, von der Herrschaft jener zu befreien, die die Welt gemacht haben. Er erschien auch ihren Völkern auf Erden als Mensch und vollendete die Kräfte. Aber er hat nicht gelitten, sondern ein gewisser Simon von Cyrene, den man zwang, für ihn das Kreuz zu tragen. Dieser wurde irrtümlich und unwissentlich gekreuzigt, nachdem er von ihm verwandelt war, so daß er für Jesus gehalten wurde. Jesus aber nahm die Gestalt des Simon an und lachte sie aus, indem er dabeistand. Er war ja die unkörperliche Kraft und der Nous des ungezeugten Vaters, deswegen konnte er sich nach Belieben verwandeln und stieg so wieder zu dem hinauf, der ihn gesandt hatte, indem er derer spottete, die ihn nicht halten konnten, und unsichtbar für alle war.“