Der Flügel

Der Flügel ist eine als völkisch, nationalistisch[1] und neofaschistisch[2] eingestufte Gruppierung innerhalb der Partei Alternative für Deutschland. Er wird, Stand 2019, von etwa 40 Prozent der AfD-Mitglieder unterstützt und wohlwollend von der Parteiführung geduldet.[3]

Der Flügel wurde im Januar 2019 vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall für rechtsextremistische Bestrebungen eingestuft,[4] da das „propagierte Politikkonzept […] auf Ausgrenzung, Verächtlichmachung und weitgehende Rechtlosstellung von Ausländern, Migranten, insbesondere Muslimen, und politisch Andersdenkenden gerichtet“ sei.[5] Die Behörde rechnet der Gruppierung rund 7000 Mitglieder zu.[6] Die Führung knüpft nach Einschätzung von Extremismusforschern bewusst an den rechtsextremistischen und nationalsozialistischen Sprachgebrauch an.[7] Der Flügel gilt als Sammelbecken radikaler Kräfte innerhalb der Partei und als Hausmacht des Vorsitzenden der AfD Thüringen Björn Höcke.[8] Auf dem AfD-Parteitag Ende November 2019 in Braunschweig wurden zahlreiche „Flügel“-kritische AfDler aus ihren Ämtern gewählt; die Mitglieder des Flügels Stephan Brandner, Andreas Kalbitz und Stephan Protschka wurden in den AfD-Bundesvorstand gewählt.[9]

Parteiinterne Gruppierung

Die Organisation gilt als Rechtsaußengruppierung in der AfD. Geführt wurde der Flügel seit der Gründung 2015 bis 2018 von einer Doppelspitze aus Björn Höcke und dem Vorsitzenden der AfD Sachsen-Anhalt André Poggenburg; seit dem Austritt von Poggenburg aus der Organisation ist Höcke alleiniger Vorsitzender. Zu den weiteren Führungsfiguren gehören unter anderem Andreas Kalbitz und Hans-Thomas Tillschneider.[10] Mit der von Götz Kubitschek verfassten „Erfurter Resolution“ versuchte der Flügel 2015, die AfD gegen Bernd Lucke, den ursprünglichen Gründer der Partei und damals maßgeblichen, mit Abstand medienpräsentesten der drei Parteivorsitzenden, auf einen nationalkonservativen Kurs zu bringen. Dies trug maßgeblich zur Niederlage Luckes bei der Wiederwahl des künftig einköpfigen Parteivorsitzes gegen Frauke Petry bei. Lucke hatte die Partei auf einen einheitlicheren inhaltlichen Kurs bringen und Rechtsaußen-Kräfte bedeutungslos machen wollen, was der Flügel so verhindern konnte.[11][12]

Mitte 2017 rechnete man dem Flügel bereits ein Drittel der AfD zu und machte ihn für die weitere Rechtsentwicklung der Partei verantwortlich,[13] und im Januar 2019 schätzte Parteichef Alexander Gauland die parteiinterne Unterstützung für den Flügel auf bis zu vierzig Prozent.[14] Der Flügel veranstaltet Treffen am Kyffhäuserdenkmal bzw. in der Nähe davon („Kyffhäusertreffen“). Man wolle sich daran erinnern, wer man sei und woher man komme.[15] Laut Medienberichten war der Flügel im Führungsstreit der AfD zwischen Frauke Petry, Alexander Gauland und Jörg Meuthen involviert. Dies wurde in der Partei im Hinblick auf eine Spaltung mit Sorge gesehen.[16] Als Gegenbewegung formierte sich 2017 in der AfD eine Interessengemeinschaft, die sich Alternative Mitte nennt.[17]

Poggenburg wurde 2018 gezwungen, den Flügel zu verlassen: Nachdem die Führungsspitze der Strömung ihm bei einem vertraulichen Treffen im August 2018 seinen Ausschluss deutlich gemacht hatte, weil sie mutmaßte, dass er es gewagt hätte, mit gemäßigten Vertretern der Alternativen Mitte zu kooperieren, und dies als Ursache für die überraschende Abwahl mehrerer prominenter Flügel-Vertreter aus dem AfD-Landesvorstand ansah, sollte er stillschweigend aus dem Flügel ausscheiden, ohne die Öffentlichkeit darüber zu informieren. Poggenburg schrieb dennoch eine Woche später in einem Brief an „Mitstreiter und Flügler“ über das Ende der Doppelspitze Höcke-Poggenburg, kritisierte die Entwicklung des Flügels zu Gunsten von „ganz persönliche[n] Interessen“ und stellte seinen Ausschluss wie einen selbstbestimmten Rückzug dar.[18][10] 2019 trat er wegen der ihm drohenden Blockierung für Parteiämter auch aus der AfD aus.

Konservativ! e. V.

Als Rechtsträger für den Flügel tritt der Verein Konservativ! e. V. auf. Er wurde nach Angaben der AfD Thüringen von „Freunden des Flügels“ gegründet, um Veranstaltungen der parteiinternen Gruppe zu organisieren. Der Verein wird demnach vom Thüringer MdB Jürgen Pohl geleitet. Ebenfalls im Vorstand des Vereins ist der frühere Vize-Bundesschatzmeister Frank Pasemann. Der Vorsitzende des Flügels Björn Höcke schrieb in seiner Weihnachtsmail 2018, wer den „Flügel unterstützen wolle, solle an den Verein Konservativ! spenden.“ Bundessprecher Alexander Gauland kritisierte laut Bild am Sonntag diesen Aufruf aus Sorge, dass solche Zuwendungen als illegale Parteispenden gewertet werden könnten.[19]

Politische Einordnung

Politikwissenschaft

Hajo Funke schrieb in seiner im September 2016 erschienenen Studie,[20] radikale Kräfte in der AfD hätten seit dem Sommer 2015 die Zügel in der Hand. Nichts gehe ohne den radikalen „Flügel“. Er sei mächtiger denn je und stets dazu bereit, offizielle Repräsentanten der AfD vor sich herzutreiben.[21] Steffen Kailitz sieht durch das abgelehnte NPD-Verbotsverfahren mehr Spielraum dafür, da die Gruppierung nun wisse, dass sie selbst bei einer Radikalisierung nicht verboten würde.[22] Laut Alexander Häusler gibt es eine unfreiwillige Arbeitsteilung in der AfD, wobei Höcke und der Flügel das offen rechtsradikale Milieu insbesondere in Ostdeutschland bedienen.[23] Der AfD als Gesamtpartei ermöglicht dies nach Marcel Lewandowsky eine „Anschlußfähigkeit im rechtsextremen Lager“.[1] Nach Ansicht von Armin Pfahl-Traughber stellt sich die Extremismusfrage für den Flügel oder die „Patriotische Plattform“ kaum noch, könnten dort doch eindeutige Positionen und Tendenzen ausgemacht werden.[24]

Journalismus

In einem Beitrag in der Wochenzeitung Die Zeit beschrieb Mely Kiyak den Flügel Anfang 2017 als ein „Sammelbecken für alles, was rechts von rechts steht; Pegida, Identitäre, Burschenschaften, Patriotische Plattform und viele mehr“.[25] Patrick Gensing schrieb im Februar 2017 in einer Analyse, der Flügel spreche sich offen für eine Kooperation mit der Identitären Bewegung aus, sehe die AfD als parlamentarischen Arm einer nationalistischen Bewegung und sammle rechte Ideologen, die eine nationalistische Fundamentalopposition gegen die „Altparteien“ propagierten und von einer nationalen Revolution träumten. Die AfD sei dabei lediglich Mittel zum Zweck.[26] Johann Osel (SZ) zufolge geht es dem Flügel „nicht um ein rechtskonservatives Gegengewicht innerhalb des Systems, weil die Union einstige Positionen aufgegeben“ habe, und auch nicht um Koalitionen. Man spiele „nur auf Sieg, auf die Mehrheit – um alles radikal umzukrempeln“, da man „ein anderes Land“ wolle.[27] Laut Henry Stern (Augsburger Allgemeine) ist es das Ziel des Flügels, „den bestehenden liberalen Verfassungsstaat aus[zu]hebeln und durch einen national durchfärbten Populismus [zu] ersetzen, der selbst für Rechtsextremisten à la NPD offen ist“.[28]

Bewertung durch den Verfassungsschutz

Das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) hat am 15. Januar 2019 die Gesamtpartei AfD zu einem „Prüffall“[29] und die Sammlungsbewegung „Der Flügel“ sowie die Jugendorganisation der AfD (Junge Alternative) zu „Verdachtsfällen“ erklärt.

„Es liegen auch hier hinreichend gewichtige Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich um eine extremistische Bestrebung handelt. Das propagierte Politikkonzept ist auf Ausgrenzung, Verächtlichmachung und weitgehende Rechtlosstellung von Ausländern, Migranten, insbesondere Muslimen, und politisch Andersdenkenden gerichtet. Es verletzt die Menschenwürdegarantie sowie das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip. Die Relativierung des historischen Nationalsozialismus zieht sich zudem wie ein roter Faden durch die Aussagen der „Flügel“-Vertreter. Einzelne Mitglieder des „Flügels“ weisen nach Informationen des BfV zudem Bezüge zu bereits extremistisch eingestuften Organisationen auf.“

Pressemitteilung des BfV vom 15. Januar 2019

Im Oktober 2019 äußerte Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang gegenüber dem Spiegel, der Flügel werde „immer extremistischer“.[30][31]

Die Verdachtsfallbearbeitung ermöglicht eine personenbezogene Auswertung und die Speicherung von personenbezogenen Daten durch den Verfassungsschutz. Dieser kann auch nachrichtendienstliche Mittel einsetzen.[5]

Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz hat den Flügel und die JA am 22. Januar 2019 zu Beobachtungsobjekten erklärt,[32] was der Einordnung als „Verdachtsfall“ entspricht.[33] Die Kategorie „Verdachtsfall“ gibt es in Bayern nicht.[34]

Gegen die Beobachtung ihrer Jugendorganisation und des "Flügels" durch das BfV hat die AfD im Januar 2020 eine Klage vor dem Verwaltungsgericht Köln eingereicht.[35]

Einzelnachweise

  1. a b Marcel Lewandowsky: Alternative für Deutschland. In: Frank Decker, Viola Neu (Hrsg.): Handbuch der deutschen Parteien. 3. Auflage. Springer VS, Wiesbaden 2018, OCLC 1002248818, S. 168.
  2. Vincenzo Capodici im Gespräch mit Matthias Quent: «Die AfD wird als rechtsradikale Partei gewählt». In: Basler Zeitung, 2. September 2019, abgerufen am 28. Januar 2020.
  3. Tilman Steffen: Übernimmt der Flügel? In: Die Zeit, 15. Juli 2019, abgerufen am 15. Juli 2019
  4. Frank Jansen: Verfassungsschutz stuft AfD als „Prüffall“ ein. In: Tagesspiegel. 15. Januar 2019.
  5. a b Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) gibt das Prüfergebnis zu der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD) bekannt (Memento vom 1. Februar 2019 im Internet Archive), verfassungsschutz.de, 15. Januar 2019, abgerufen am 30. Januar 2019.
  6. Frank Jansen: Auswertung des Verfassungsschutzes. Zahl der Rechtsextremisten steigt um ein Drittel, in: Der Tagesspiegel vom 16. Dezember 2019
  7. Höcke entzweit die AfD: „Peinlich, aggressiv, völkisch-national“, n-tv.de, 22. Oktober 2015;
    Maria Fiedler: Höcke-Rede in Dresden: „Völkische Deutung als normal etablieren“. Tagesspiegel, 21. Januar 2017. (Interview mit Extremismus-Forscher Steffen Kailitz)
  8. Höckes "Flügel" kämpft um Einfluss in der AfD. n-tv.de, 22. Januar 2019, abgerufen am 30. Januar 2019.
  9. spiegel.de 1. Dezember 2019: Scharfmacher an vorderster Front
  10. a b Rechter Flügel wirft Rechtsaußen Poggenburg raus auf Spiegel Online, 10. August 2018, abgerufen 16. Juni 2019
  11. Erfurter Resolution: Drei AfD-Abgeordnete stellen sich gegen Höcke. Thüringer Allgemeine, 19. März 2015, abgerufen am 21. Januar 2017.
  12. Götz Kubitschek – der Stratege der Neuen Rechten auf tagesspiegel.de, 8. September 2018, abgerufen 15. Juni 2019
  13. „Alternative Mitte“: In der AfD wächst ein zartes Pflänzchen der Mäßigung. Die Welt, abgerufen am 23. Juli 2017.
  14. Jörg Köpke: AfD-Ärger bei Maischberger: „Ich fürchte, Herr Gauland ist Rassist“, In: Ostsee-Zeitung, 24. Januar 2019, abgerufen am 30. Mai 2019.
  15. Vom Schmuddelkind zum Schattenchef: Wie Höcke fast unbemerkt die AfD kontrolliert. Focus Online, abgerufen am 12. Februar 2017.
  16. Streit in der AfD: Petrys Déjà-vu, seitenverkehrt. Thüringer Allgemeine, abgerufen am 11. April 2017.
    Til Huber: Petrys Warnschuss nach Rechtsaußen. Münchner Merkur, 30. März 2017, abgerufen am 30. Mai 2019.
  17. Kontra Höcke-Gauland: „Alternative Mitte“ in der AfD Thüringen gegründet, thüringen24.de, 2. September 2017
  18. Bruch mit Björn Höcke André Poggenburg verlässt den „Flügel“, Mitteldeutsche Zeitung, 6. August 2018.
  19. AfD-Spitze stößt sich an Spendensammlung von Höckes „Flügel“. MDR, abgerufen am 20. Januar 2019.
    Björn Höcke unter Verdacht: Droht der AfD der nächste Parteispenden-Skandal? In: Märkische Allgemeine. Abgerufen am 20. Januar 2019.
  20. als Buch erschienen unter dem Titel Von Wutbürgern und Brandstiftern: AfD – Pegida – Gewaltnetze (Verlag für Berlin-Brandenburg, ISBN 978-3-945256-64-0)
  21. Politologe ergründet Radikalisierung der AfD. n-tv.de, 9. September 2016, abgerufen am 5. Februar 2018.
  22. Maria Fiedler: Verzicht auf NPD-Verbot gibt AfD Spielraum. Tagesspiegel, 17. Januar 2017, abgerufen am 25. Januar 2017.
  23. Sabine Am Orde: Rechtsextremismusexperte über die AfD: „Eine Art politisches Chamäleon“. taz, 1. Februar 2017, abgerufen am 12. Februar 2017.
  24. Armin Pfahl-Traughber: Immer mehr extrem. In: Blick nach Rechts. 7. März 2017, abgerufen am 16. März 2017.
  25. Mely Kiyak: Ein total anderes Deutschland. In: Die Zeit. 25. Januar 2017, abgerufen am 25. Januar 2017.
  26. Analyse zur AfD: Kommt die Alternative zur Alternative? (Memento vom 20. Februar 2017 im Internet Archive), tagesschau.de, 13. Februar 2017, abgerufen am 19. Februar 2017.
  27. Johann Osel: Sie wollen ein anderes Land. www.sueddeutsche.de, 15. September 2019
  28. Henry Stern: Die Bayern-AfD bleibt auf Kurs nach ganz Rechtsaußen. www.augsburger-allgemeine.de, 15. September 2019
  29. Verfassungsschutz erklärt AfD bundesweit zum Prüffall. Spiegel Online, 15. Januar 2019, abgerufen am 15. Januar 2019.
  30. Wolf Wiedmann-Schmidt: Verfassungsschutz-Chef sieht AfD-Rechtsaußen „immer extremistischer“. www.spiegel.de, 18. Oktober 2019
  31. Jost Müller-Neuhof: Höcke knickt ein: Verfassungsschutz darf AfD-„Flügel“ als „immer extremistischer“ bezeichnen. www.tagesspiegel.de, 13. November 2019
  32. Verfassungsschutz beobachtet Junge Alternative und «Flügel». Die Welt, 23. Januar 2019, abgerufen am 30. Januar 2019.
  33. Glossar der Verfassungsschutzbehörden. Landesamt für Verfassungsschutz Bremen, abgerufen am 15. Januar 2019.
  34. Verfassungsschutz Bayern beobachtet AfD-"Flügel". Bayerischer Rundfunk, 23. Januar 2019, abgerufen am 6. Februar 2019.
  35. Sabine am Orde: AfD klagt gegen Beobachtung. taz, 13. Januar 2020, abgerufen am 13. Januar 2020.