Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955

Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945–1955[1] ist ein 2019 erschienenes historisches Sachbuch von Harald Jähner über die Nachkriegszeit in Deutschland, das auf der Leipziger Buchmesse 2019 neben vier anderen Publikationen einen Preis in der Kategorie Sachbuch und Essay[2] bekam.

Übersicht

Jähner will mit seinem Buch erzählen, „wie aus Volksgenossen allmählich wieder Bürger wurden“, wie auf den Trümmern der Massengefolgschaft „zwei auf ihre Weise antifaschistische, vertrauenserweckende Gesellschaften entstehen konnten“, indem er sich nicht in historische Großereignisse, sondern in die „Herausforderungen und eigentümlichen Lebensstile der Nachkriegsjahre versenkt.“[3]

Der von einem Vor- und einem Nachwort gerahmte Haupttext ist in zehn Kapitel gegliedert, die Facetten des Alltagshandelns zu einer Mentalitätsgeschichte,[4] einer Kulturgeschichte[5] oder einem Stimmungsbild der deutschen Nachkriegsgeschichte[6] verdichten.

Der Text, an dem Jähner rund drei Jahre gearbeitet und für den er eine Vielzahl bekannter Quellen ausgewertet und zusammengetragen hat,[7] wird von einem halben Hundert Fotos und Reproduktionen begleitet, die den von Jähner oft zugespitzten Fokus illustrieren. Ein ausführlicher Anhang aus Anmerkungen, Literaturverzeichnis, Personenregister und Textnachweis unterstützt die Nachvollziehbarkeit.

Titel

Der Autor erläutert den Titel als Metapher für eine „Niemandszeit“, „in der ‚der Mensch dem Menschen zum Wolf‘[8] geworden war“ und sich „jeder nur um sich selbst oder sein Rudel kümmerte“.[9] Damit bezieht er sich auf das Leben in den Trümmern der Städte bei mangelhafter Versorgung mit dem Lebensnotwendigen und unter körperlicher Bedrohung durch die vielen Hungernden und auch moralisch Entwurzelten der unmittelbaren Nachkriegszeit.

Dennoch scheinen Titel und Text nicht aufeinander abgestimmt: Der Buchtitel lasse „an wilde Kämpfe und blutige Vergeltung denken“,[10] obwohl Jähner einen besonderen Akzent auf die verschiedenen und verschlungenen Wege einer neuen Gemeinschaftsbildung legt. Da die Entwicklungskeime einer neuen und vor allem bundesdeutschen Zivilisation im Vordergrund stehen, sei „diese Bezeichnung (...) natürlich deswegen äußerst unglücklich (...) Die Wolfszeit hat 1933 begonnen.“[11] Jähner unterminiert seinen Titel auch selbst: „Von Wolfszeit sprach man. (...) Aber stimmt das? War die Moral tatsächlich in Gänze in den Keller geschickt worden, zum Wegschauen in den Tiefschlaf?“[12] „Zahlreiche Befunde und Überlegungen, die er präsentiert, widersprechen sogar der vom Buchtitel evozierten These.“[13]

Inhalt

Jähner erzählt im ersten Kapitel von der zukunftsprägenden Kontrebande der Kontinuität faschistischer Eliten, der Verdrängung und den Vergewaltigungen, die mit dem Mythos eines unbelasteten Anfangs in der „Stunde Null“ nicht zusammenpassen. Er geht im zweiten Kapitel den Deutungen der Trümmerlandschaften nach, die für die einen die neue Offenheit auf einem Sandstrand der Zivilisation darstellten, so z. B. für die weit und um sich blickenden Architekten eine inspirierende Baufreiheit, und für die anderen die Reduktion des schönen ideologischen Scheins auf ihr immer noch fotogenes Wesen bedeuteten. Wiederholt gelingen ihm dabei prägnante Formulierungen wie die der im Aufräumen „gekehrten Hölle“, der Schuttberge als „Kriegsendmoränen“ und des „Trümmertourismus“.[14]

Er beschreibt im dritten Kapitel die Wanderungsbewegungen der etwa 40 Millionen Entwurzelten in Deutschland, der befreiten Gefangenen, der Obdachlosen, der Geflohenen und dauerhaft Vertriebenen, deren Aufeinandertreffen die Alliierten einen Bürgerkrieg befürchten ließ. Die Vertriebenen wertet er als modernisierendes Ferment der Gesellschaft, obgleich sich ein aggressiver Rassismus gegen die Zugezogenen, die „Pollacken“, wendete. Die Nation zerlegte sich in argwöhnische Volksgruppen: „Ein neuer Nationalismus ließ sich auf diesem zerstrittenen Fundament kaum bauen – kein schlechter Ausgangspunkt für die junge Demokratie.“[15]

In Aperçus wie diesem gelingt es Jähner, die langfristig positiven Wirkungen von problematischen Alltagserfahrungen zu erfassen. So erklärt er mit den bis zu zwei Millionen Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee auf der einen Seite und dem erstaunlich lässigen Auftreten von amerikanischen und britischen Armeeangehörigen auf der anderen, dieser attraktiven „Männlichkeit ohne Stress“, die stillen Vorbehalte gegenüber dem sowjetischen und die Affinität gegenüber dem kapitalistischen System.[16]

Einfühlsam beschreibt Jähner im fünften Kapitel das Elend der geschlagenen, halbverhungerten, kranken, verhaltensgestörten deutschen Männer, die aus Krieg und Gefangenschaft zurück, aber lange nicht nach Hause kamen. Als Verlierer des Kriegs und ihrer Familienrolle traten sie ihren Angehörigen als Ehemänner und Väter gegenüber und konnten die neue Selbständigkeit ihrer Frauen oft nur als Schamlosigkeit oder Ich-Bezogenheit verstehen.[17]

Raub, Plünderungen und Schwarzhandel führten, wie im sechsten Kapitel beschrieben, zu Kollisionen mit dem deutschen Ordnungssinn, mündeten in verharmlosenden Bezeichnungen („fringsen“ oder „organisieren“) und in aufgeregten Diskussionen über die neue Massenkriminalität der Petitessen, die ex negativo auf die völlige Ausblendung der deutschen Kriegsverbrechen verwies.[18] „Allein in Berlin wurde an sechzig Orten schwarz gehandelt“ und bis zur Hälfte der Warenzirkulation wurde in Berlin illegal abgewickelt – eine Staatsbürgerschule in Kommunikation, Menschenkenntnis und radikalisierter Markterfahrung.[19]

Die Analyse der Genese des Wirtschaftswunders[20] konzentriert Jähner im siebten Kapitel auf die Währungsreform und die beiden faszinierenden Fallgeschichten des VW-Werks in Wolfsburg und des ungleich kleineren Konzerns von Beate Uhse, deren Erfolg die Anstrengungen zur ethisch-moralischen Festigung der Bevölkerung nur noch dringlicher erscheinen ließ.[21]

Neben den alliierten Programmen zur ideologischen Neuorientierung Westdeutschlands in Zeitungen, Verlagen und Rundfunkhäusern (achtes Kapitel) bediente sich die US-Außenpolitik vor allem der abstrakten Kunst aus politischen Gründen (neuntes Kapitel). Das Dekorative wurde Politik: Die vielgestaltigen Abstraktionen symbolisierten die Freiheit des Individuums, die Modernität und Vitalität des Kapitalismus – um so mehr, als im Ostblock der „sozialistische Realismus“ ab 1947 zunehmend von oben dekretiert wurde.[22] Mit großem Gespür für die Elemente einer antikommunistischen, „westlichen“ Identität unterstützte die CIA verdeckt Künstler mit Stipendien, Autorenhonorierung und Ausstellungen, wodurch die neue Ästhetik schnell tonangebend wurde. So auch das Alltagsdesign mit Mustertapeten, Nierentischen und Tütenlampen – das Private war politisch.

Schließlich wendet sich Jähner im zehnten Kapitel der verbreiteten Verdrängung der Verantwortung für deutsche Kriegsverbrechen und den Holocaust zu, eine empörende, „schwer erträgliche Anmaßung“; aber mit Hermann Lübbe, Norbert Frei und Egon Bahr urteilt Jähner, dass dieses Beschweigen letztlich geholfen habe, die sechs Millionen NSDAP-Mitglieder, die zwölf Millionen Vertriebenen und das Heer der Mitläufer mit der Demokratie zu versöhnen.[23]

Lob und Kritik

Die Rezensenten stimmen nahezu alle im Lob der Geschichtserzählung überein, der griffigen Formulierungen und fesselnden Sequenzen, der klugen Metaphern und dem stillen Humor, der heranzoomenden biografischen Miniaturen und der verallgemeinernden Pointen.[24]

Kritisch vermerkt wird die Fokussierung auf Westdeutschland bzw. die BRD, die weitgehende Aussparung des größeren politischen Rahmens und der präjudizierenden Einflüsse der westlichen Alliierten, der Teilung Deutschlands sowie die einseitige Quellenauswahl aus dem urbanen Milieu.[25] Weltpolitik finde fast nicht statt, sodass in der Wolfszeit aufs Neue der „Münchhausen-Mythos“ des deutschen Wirtschaftswunders belebt werde.[26]

In dieser Verengung des Blicks leitet Jähner aus der alltäglichen Parallelität von Lebensmittelmarken und Schwarzmarkt die Loyalität zur Sozialen Marktwirtschaft her[27] – kein Wort über die klassenkämpferischen Sozialstaatsursprünge beim Stinnes-Legien-Abkommen nach dem Ersten Weltkrieg und die Forderung einer Verstaatlichung der Montanindustrie nach dem Zweiten, die ihren sozialistischen Schatten auch auf das Ahlener Programm der CDU von 1947 geworfen hat.

Auf ähnliche Weise wird der Währungsreform von 1948 ein „egalitäres Moment“ zugeschrieben, da „alle gemeinsam wie beim Monopoly auf ‚Los‘“ gestellt worden seien[28] – obwohl nach der Ausgabe des gleichen  Kopfgeldes für alle das Bargeld, die Sparguthaben, Reichsbankkonten, Verbindlichkeiten, Aktien und anderes sozial unausgewogen in sehr unterschiedlichen Relationen zwischen 1:0,065 und 1:1 auf die neue Währung umgestellt wurden.

Bei genauem Lesen bemerkt man zudem einen besonderen Subtext: „Den Autor treiben nicht nur die Jahre 1945 – 1955 um, sondern auch die um 1968.“[29] Die Nachkriegsjahre werden immer wieder auch erzählt, um gegen eine vermeintliche Überheblichkeit der 68er zu argumentieren.[30] Ihnen wird das „Krisengeschick“ der Elterngeneration entgegengestellt, die in den chaotischen Anfangsjahren die „Mühen der Berge“ bewältigt und eine moderne Industriegesellschaft mit demokratischen Strukturen aufgebaut habe.[31]

Weblinks

Frank Bösch, Anarchie des Anfangs, in: Süddeutsche Zeitung am 19. Februar 2019, zuletzt abgerufen am 2. April 2021 [2]

Gerrit, „Harald Jähner. Wolfszeit“, in: Zeilensprünge. Blog für Literarisches am 28.  März 2019, zuletzt abgerufen am 2. April 2021 [3]

Sigrid Grün, Rezension: Harald Jähner: Wolfszeit, in: Kultur Ostbayern am 19. Mai 2019, zuletzt abgerufen am 2. April 2021 [4]

Ulrich Gutmair, „Wolfszeit“ von Harald Jähner, in: taz am 23. März 2019, zuletzt abgerufen am 2. April 2021 [5]

Hans-Peter Heekerens, Harald Jähner: Wolfszeit, in: social.net. Das Netz für die Sozialwirtschaft am 13. Juni 2019, zuletzt abgerufen am 2. April 2021 [6]

Holger Heimann, Das Lachen im Elend, in: Deutschlandfunk Kultur am 2. März 2019, zuletzt abgerufen am 2. April 2021 [7]

Johannes Hucke, Buchkritik Woche 5: Wolfszeit, in: johannes-hucke.de am 22. Juni 2019, zuletzt abgerufen am 2. April 2021 [8]

Melanie Longerich, Wolfszeit – Ein Tanz über dem Schlund, in: Deutschlandfunk am 8. April 2019, zuletzt abgerufen am 2. April 2021 [9]

Thomas E. Schmidt, Auferstanden aus Ruinen, in: Zeit Online am 29. März 2019, zuletzt abgerufen am 2. April 2021 [10]

Christian Schröder, Die Euphorie des Anfangs, in: Der Tagesspiegel am 27. März 2019, zuletzt abgerufen am 2. April 2021 [11]

Hans Woller, Harald Jähner: Wolfszeit, in: sehepunkte. Rezensionsjournal für die Geschichtswissenschaften am 15. Mai 2019, zuletzt abgerufen am  2. April 2021 [12]

Einzelnachweise

  1. Harald Jähner: Wolfszeit. Deutschland und die Deutschen 1945 - 1955. 11. Auflage. Rowohlt / Berlin Verlag, Berlin 2020, ISBN 978-3-7371-0013-7.
  2. Liste der Preisträger der Leipziger Buchmesse [1]
  3. Jähner, Wolfszeit, S. 10, 13, 396 ff.
  4. Bösch, Longerich, Schröder. Siehe Weblinks.
  5. Gerrit, Gutmair. Siehe Weblinks.
  6. Heimann, siehe Weblinks.
  7. Bösch, Heekerens, Longerich. Siehe Weblinks. Für Schmidt gehören die von Jähner gefundenen Zitate zum Spannendsten des Buches.
  8. Thomas Hobbes formulierte sein „homo homini lupus est“ im Leviathan zur Legitimierung der Diktatur eines absolutistischen Monarchen durch den permanenten Bürgerkrieg.
  9. Jähner, Wolfszeit, S. 10, 185, 204, 225, 235, 247.
  10. Bösch, siehe Weblinks.
  11. Gerrit, siehe Weblinks.
  12. Jähner, Wolfszeit, S. 225.
  13. Woller (siehe Weblinks).
  14. Jähner, Wolfszeit, S. 33, 42, 47.
  15. Jähner, Wolfszeit, S. 103, 109. Mit seiner Sensibilität für Übergänge oder Zwischenzeiten erwähnt er den dekorativen Charakter der ästhetischen Nachkriegsmoderne und die zunächst noch utopische Balance der Displaced Objects in den Bildern von Willi Baumeister. Wolfszeit, S. 352 f.
  16. Jähner, Wolfszeit, S. 184 ff. Die Ergebnisse dieser Fähigkeit zu prägnanten Bemerkungen bezeichnet Gutmair (siehe Weblinks) als „steile Thesen“. Zu diesen gehört auch die Bemerkung Jähners (Wolfszeit, S. 220), der Kalte Krieg sei wegen der Werbung der großen Siegermächte um die Zustimmung der deutschen Bevölkerung in ihren Besatzungszonen „ein Glücksfall“ gewesen. Oder die, dass die deutsche Demokratisierung ohne die empörende Persilschein-Entnazifizierung „nicht denkbar“ gewesen sei. (Wolfszeit, S. 403.)
  17. Schmidt (siehe Weblinks) schreibt den Frauen einen „Proto-Feminismus“ zu, während Jähner (Wolfszeit, S. 197) der feministischen Wissenschaft vorwirft, die Frauen der Nachkriegszeit vorwiegend als Opfer zu codieren und ihre sinnlichen Begierden zu ignorieren.
  18. Jähner, Wolfszeit, S. 207 ff.
  19. Jähner, Wolfszeit, S. 240 ff.
  20. Jähner, Wolfszeit, S. 241 ff.
  21. Jähner, Wolfszeit, S. 303 ff.
  22. Jähner, Wolfszeit, S. 353 ff.
  23. Jähner, Wolfszeit, S. 396, 402 ff.
  24. Bösch, Gerrit, Grün, Heekerens, Heimann, Hucke, Schmidt und Woller. Siehe Weblinks.
  25. Bösch, Heekerens, Heimann, Schmidt. Siehe Weblinks.
  26. Woller (siehe Weblinks).
  27. Jähner, Wolfszeit, S. 249.
  28. Jähner, Wolfszeit, S. 260.
  29. Heekerens (siehe Weblinks).
  30. Jähner, Wolfszeit, S. 13 f., 153, 174, 201 f., 221, 224, 237, 258, 281, 301, 368 f., 406 f.
  31. Jähner, Wolfszeit, S. 23, 32, 46, 108 f., 121, 126, 170, 197, 201 f., 207, 221, 225 f., 242, 368 f., 396, 405.