August Thalheimer

August Thalheimer (* 18. März 1884 in Affaltrach, heute Obersulm, Württemberg; † 19. September 1948 in Havanna) war ein deutscher marxistischer Politiker und Theoretiker.

Leben

Jugend

Geboren als Kind einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Affaltrach (heute Gemeinde Obersulm) in Württemberg, nahm er ein Studium der Sprachwissenschaft und der Ethnologie auf, promovierte 1907 in Straßburg zum Thema Pronomina personalia und possessiva der Sprachen Mikronesiens und trat kurz darauf in die SPD ein.

Politiker

Nach seiner Promotion arbeitete er kurz als Volontär bei der Leipziger Volkszeitung unter Anleitung des Chefredakteurs Franz Mehring. Danach übernahm er die Redaktion in zwei weiteren, dem linken Parteiflügel der SPD nahestehenden Zeitungen, der Göppinger Freien Volkszeitung (1911-1912) und beim Braunschweiger Volksfreund (1914-1916). Nach Kriegsausbruch 1914 schloss er sich als Gegner der Burgfriedenspolitik dem Kreis um die SPD-Linken Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg an, denen er in den Spartakusbund und in die KPD folgte. Wegen seiner Antikriegsaktivitäten wurde Thalheimer Mitte 1916 zum Militär einberufen, wo er wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ und Nachtblindheit keine Waffe tragen durfte und bis zu seiner Entlassung im September 1918 als Armierungssoldat und Dolmetscher eingesetzt wurde.

Im November 1918 gehörte Thalheimer mit Fritz Rück zu den Führern der Stuttgarter Spartakusgruppe und ab Anfang November 1918 zu den Herausgebern der im Auftrag des Arbeiter- und Soldatenrates gedruckten Roten Fahne. Rück und Thalheimer beteiligten sich aktiv an der Vorbereitung der Aktionen, die schließlich am 9. November zur Revolution in Württemberg führten. Bei dem Versuch, die revolutionäre Bewegung auch nach Friedrichshafen zu tragen, wurden Rück und Thalheimer am Abend des 6. November 1918 in Ulm verhaftet und blieben bis zum späten Abend des 9. November in Haft. Da die Stuttgarter Spartakisten deshalb am 9. November ohne Führung waren, ging die Initiative der Revolution in Württemberg auf die gemäßigten Sozialdemokraten um Wilhelm Keil und Wilhelm Blos über. Den ihm angebotenen Eintritt in die provisorische Regierung Württembergs als Finanzminister lehnte Thalheimer ab. Statt dessen war er vom 10. bis 18. November Vorsitzender des Stuttgarter Arbeiter-Rates, ehe er in die Zentrale des Spartakusbundes nach Berlin wechselte.

Von 1919 bis 1924 war er Mitglied der Zentrale der KPD. Er entwarf das Parteiprogramm und leitete 1923/24 gemeinsam mit Heinrich Brandler die Partei. Als KPD-Funktionär geriet er in Konflikt mit der ab 1924 vorherrschenden „ultralinken“ Parteilinie von Ruth Fischer und Arkadi Maslow, die ihm und Brandler ein Versagen bezüglich des Hamburger Aufstandes im Oktober 1923 vorwarfen. Danach verbrachte er die folgenden Jahre in Moskau, wo er am Marx-Engels-Institut Philosophie lehrte.

Rückkehr nach Deutschland

Gegen den Willen der Komintern kehrte er 1928 nach Deutschland zurück. Er lehnte von nun an eine Übertragung der Methoden Stalins auf die Komintern und auf Deutschland ab, wie sie die KPD unter Führung Ernst Thälmanns unkritisch propagierte, auch wenn er weiterhin orthodoxer Marxist blieb und die Sowjetunion als „sozialistischen Staat“ verteidigte. Die SED dankte ihm dies später schlecht. In dem sinnstiftenden Propagandafilm Ernst Thälmann - Sohn seiner Klasse (1954, Regie Kurt Maetzig), der das offizielle Geschichtsbild der SED kurz vor der Entstalinisierung widerspiegelt, wird er als amerikanischer Agent dargestellt.

KPD-Dissident

Thalheimer sammelte "rechtskommunistische" Abweichler um sich und gründete mit Heinrich Brandler die Kommunistische Partei-Opposition (KP-O), eine wenige tausend Mitglieder zählende, auf Wahlebene unbedeutende Organisation, die von der SPD als „KP-Null“ verhöhnt wurde. 1933 emigrierte er nach Frankreich, wo er die Exilstrukturen der KPO leitete, von wo ihm nach dem deutschen Einmarsch 1941 die Flucht nach Kuba gelang. Dort starb er 1948. Die von ihm angestrebte Rückkehr nach Deutschland scheiterte trotz intensiver Bemühungen seiner Schwester Bertha Thalheimer.

Die Abweichung von der doktrinär-stalinistischen Linie der KPD führte unter anderem dazu, dass Thalheimer 1954 in dem DEFA-Spielfilm Ernst Thälmann - Sohn seiner Klasse wahrheitswidrig als US-amerikanischer Agent hingestellt wurde, der schuld sei am Scheitern des Hamburger Aufstands.

Faschismustheoretiker

Thalheimer geht in seiner Faschismus-Analyse von der Marxschen Analyse des Bonapartismus aus und von den Erfahrungen mit dem italienischen Faschismus, der 1922 die Macht erobert hatte. Der Faschismus zerstört die bürgerliche Demokratie und alle bürgerlichen Freiheiten. Er will alle proletarischen Organisationen vernichten. Er plant die Aufrüstung des deutschen Kapitalismus, um diesen zu einer Weltmacht zu machen und eine Neuaufteilung der noch kolonialen Welt durchzusetzen. Diese Ziel ist nur durch einen neuen Weltkrieg zu erreichen. Das ist das innen- und außenpolitische Programm des deutschen Kapitalismus, der die NSDAP fördert, finanziert, bewaffnet und diesem am 30. Januar 1933 die politische Macht überträgt, um seine ökonomische Macht zu sichern und zu vergrößern. Thalheimer widerlegte Ende 1932 alle bürgerlichen und sozialdemokratischen Illusionen und begründete, warum der deutsche Faschismus brutaler sein wird als der italienische. Daher gelte es u.a., die bürgerliche Demokratie als „den besten Kampfboden für den Sozialismus“ gegen ihre Zerstörung zu verteidigen. Aufgrund des Kräftegleichgewichts im Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat hätten die faschistischen Bewegungen in Deutschland und Italien mit ihrem Massenanhang aus deklassierten oder von der Deklassierung bedrohten Angehörigen aller Klassen in relativer Autonomie von der Bourgeoisie die politische Exekutive erobern können. Zwar vertrete er objektiv noch die Interessen der Bourgeoisie, insofern er sie mit terroristischen Mitteln gegen die vermeintlich heranstürmende Revolution verteidigte. Dennoch sei er politisch unabhängig von ihr gewonnen, sodass sich auch die Versuche der faschistischen Exekutive, zwischen den Klassen zu vermitteln, und sogar Übergriffe der Faschisten auch gegen Unternehmer erklären ließen. Der Marburger Politikwissenschaftler Wolfgang Abendroth gab in den sechziger Jahren Thalheimers Aufsätze neu heraus. Sie gaben den faschismustheoretischen Diskussionen der 68er-Bewegung wichtige Impulse und beeinflussten Historiker und Politologen wie Timothy W. Mason und Reinhard Kühnl. Angesichts des nach dem „legalen Staatsstreich“ vom 30. Januar 1933 sofort einsetzenden intensiven Terrors wurde ein Teil der Reichsleitung der KPD-O ins Ausland verlegt. Thalheimer musste emigrieren, zuerst nach Strasbourg, dann nach Paris. Bei Beginn des 2. Weltkriegs wurde er in Frankreich interniert und wanderte durch etwa 10 französische Lager. Damit war die politische Führungsarbeit des Auslandkomitees der KPD-O lahm gelegt. 1941 gelang Thalheimer, seiner Familie und Heinrich Brandler die Ausreise nach Kuba. In Havanna arbeitete Thalheimer unter sehr schwierigen materiellen Bedingungen an philosophischen und politischen Problemen des Marxismus. Wichtige Manuskripte aus dieser Zeit sind verloren gegangen. Nach Kriegsende nahm er zusammen mit H. Brandler den Kontakt mit seinen Genossen in Deutschland wieder auf und erarbeitete zu ihrer Information jeden Monat eine weltpolitische Übersicht. Seine Bemühungen um Rückkehr scheiterten. Er starb am 19. September 1948 in Havanna und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Guanabacao beerdigt. Noch 1954 wurde Thalheimer in dem Thälmann-Film der DDR als amerikanischer Agent dargestellt. Erst im Dezember 1983 erklärte das Politbüromitglied der SED Horst Sindermann ihn zu einem „hervorragenden Kämpfer der deutschen Arbeiterbewegung.“ und stellte ihn in eine Reihe mit Rosa Luxemburg und Wilhelm Pieck, Hermann und Käte Duncker, Hugo Eberlein und Paul Frölich, Leo Jogiches und Ernst Meyer, Paul Levi und Paul Lange.

Literatur:

Bergmann, Theodor (1997) in Asendorf, Manfred und Rolf von Bockel (Hg.), Demokratische Wege - Deutsche Lebensläufe aus fünf Jahrhunderten Lexikon. S. 638-639. Stuttgart, Weimar Becher, Jens (2000), August Thalheimer - Früher Kritiker der Stalinisierung. In: Bergmann, Theodor und Mario Kessler (Hg.), S. 75-100, Hamburg Bergmann, Theodor (2004), Die Thalheimers - Geschichte einer Familie undogmatischer Marxisten. Hamburg. Bergmann, Theodor (2001) Gegen den Strom - Die Geschichte der KPD (Opposition). S. 543-544. Hamburg Tjaden, K. H. (1964), Struktur und Funktion der KPD-Opposition (KPO). Meisenheim am Glan. Bergmann, Theodor und Wolfgang Haible (1993), Die Geschwister Thalheimer. Skizzen ihrer Leben und Politik. Mainz.

siehe auch

Bertha Thalheimer