Hugo Stinnes

Hugo Stinnes (* 12. Februar 1870 in Mülheim an der Ruhr; † 10. April 1924 in Berlin) war ein deutscher Industrieller und Politiker. Zu Beginn der Weimarer Republik zählte er zu den einflussreichsten Persönlichkeiten Deutschlands. Von Arbeitgeberseite war er wesentlich an der Einigung mit der Arbeiterbewegung nach dem Ersten Weltkrieg beteiligt. Da er von der Nachkriegsinflation durch die aggressive Fremdfinanzierung seiner Unternehmen stark profitierte, ist er vor allem als Inflationskönig in Erinnerung.

Unternehmerische Laufbahn

Hugo Stinnes in den 1890ern

Aufstieg im Kaiserreich

Stinnes wurde als zweiter Sohn von Hermann Hugo Stinnes und Adeline Stinnes, geborene Coupienne, in eine wohlhabende Unternehmerfamilie, die bereits seit Anfang des 19. Jahrhunderts im Handel und Bergbau tätig war, geboren. Die Familie Stinnes gehörte spätestens seit der erfolgreichen Unternehmensgründung von Hugo Stinnes' Grossvater Mathias Stinnes, der 1808 mit dem Transport von Kohle und anderen Gütern auf dem Rhein zwischen Köln und Amsterdam begonnen hatte, zu den angesehenen und wohlhabenden Familien Mülheims. Bereits 1839 begann die Familie, in Bergbaubeteiligungen zu investieren. Die Handelsaktivität der Familie war in der Mathias Stinnes KG gebündelt, die Bergbaubeteiligungen umfassten die Kuxmehrheiten an den Zechen Victoria Mathias, Graf Beust, Friedrich Ernestine, Carolus Magnus und Mathias Stinnes.

Nach Lehraufenthalten im Koblenzer Handelsunternehmen Carl Spaeter und in der Mülheimer Zeche Wiesche studierte Stinnes an der Königlichen Bergakademie in Berlin Bergbau sowie Chemie und trat 1890 als Prokurist in das Familienunternehmen Mathias Stinnes KG ein.

Aufgrund Uneinigkeit mit dem Geschäftsführer der Mathias Stinnes KG, seinem Vetter Gerhard Küchen, dem er Unfähigkeit und eine Neigung zum Alkohol vorwarf, machte sich Stinnes allerdings bereits im Alter von 23 Jahren mit finanzieller Unterstützung seiner Mutter, die hierfür ihren Anteil an der Mathias Stinnes KG verkaufte, unter einer Einzelfirma (1903 umgewandelt in Hugo Stinnes GmbH) selbständig und begann, unabhängig vom Familienunternehmen seinen eigenen internationalen Handelskonzern aufzubauen, der den bisherigen Familienbesitz bei weitem übertraf. Ausgehend vom Kohlenhandel mit Süddeutschland und der Schweiz sowie einem bescheidenen Reedereigeschäft eröffnete die Hugo Stinnes GmbH Niederlassung in ganz Europa und Übersee und forcierte neben dem weltweiten Kohlenhandel und dem Im- und Export von Eisen- und Stahlprodukten insbesondere den Handel mit Neben- und Vorprodukten der Schwerindustrie. So war das Unternehmen auch bedeutender Importeur von für den Bergbau verwendetem Holz aus Russland und dem Baltikum sowie von schwedischem Eisenerz.

Vertikale Integration der Schwerindustrie

Hierbei zeigte sich Stinnes als erfolgreicher Organisator von vertikalen Verflechtungen in Handel und Schwerindustrie und war in der Folge an der Gründung zahlreicher Großkonzerne im Rheinland und im Ruhrgebiet beteiligt, wo er insbesondere die Bildung großer und effizienter Einheiten anstrebte. Im Gegensatz zu Trusts angelsächsischer Prägung - beispielsweise der Standard Oil Company – versuchte Stinnes hierbei stets, Synergieeffekte durch vertikale Integration der schwerindustriellen Produktionsstufen zu erreichen. Hierbei arbeitete er oft mit August Thyssen sowie aufgrund seines durch das aggressive Wachstumstempo bedingten enormen Kapitalbedarfs mit Bankiers wie Waldemar Mueller (Dresdner Bank), Carl Klönne (Schaaffhausen / Deutsche Bank) und Bernhard Dernburg (Darmstädter Bank) zusammen.

Neben der Hugo Stinnes GmbH waren die Schwerpunkte seiner unternehmerischen Aktivität die Gründung und der Ausbau der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke (RWE), des Mülheimer Bergwerks-Vereins (MBV) sowie der Aufstieg der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hütten AG (Deutsch-Luxemburg). Daneben war er maßgeblich an Unternehmen wie der Saar- und Mosel-Bergwerks-Gesellschaft (Saar-Mosel) und der HAPAG beteiligt.

Insbesondere im Energie- und Verkehrsbereich war Stinnes ein Verfechter von gemischtwirtschaftlichen Ansätzen, mit denen er privates Unternehmertum und damit effiziente Steuerung mit hoheitlichen Aufgaben und nationalen Interessen kombinieren wollte. Hierdurch wurde er zu einem Hauptinitiator der Elektrifizierung des deutschen Westens, des Ausbaus des west- und süddeutschen öffentlichen Nahverkehrs, der Konsolidierung der europäischen Schwerindustrie, der Schaffung effizienterer weltweiter Vertriebswege für deutsche Kohle sowie der wirtschaftlichen Nutzung von Gas zur Energieerzeugung.

Die 1898 gegründeten Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerke errichteten ihr erstes Elektrizitätswerk auf dem Gelände der Stinnes-Zeche Victoria Mathias. Stinnes war seit Gründung Mitglied des Aufsichtsrats. 1902 erwarb Stinnes zusammen mit August Thyssen und einem Bankenkonsortiums unter Beteiligung der Deutschen Bank, der Dresdner Bank und der Disconto-Gesellschaft während der sog. Energiekrise die Mehrheit am RWE. Von 1903 bis zu seinem Tod fungierte Stinnes als Vorsitzender des Aufsichtsrats. Auf Betreiben von Stinnes begann das RWE unter der Vorstandschaft seines Vertrauten Bernhard Goldenberg eine aggressive Expansion durch den Abschluss von exklusiven Energieversorgungsverträgen mit Kommunen und Landkreisen im Rheinland und in Westfalen und den Aufkauf von Nahverkehrsunternehmen in Süd- und Westdeutschland. Hierdurch wurde die Elektrifizierung in Deutschland wesentlich beschleunigt. Zur Finanzierung des Wachstums sowie zur Erlangung der notwendigen Konzessionen und Genehmigungen wurde das RWE als gemischtwirtschaftliches Unternehmen mit privaten und kommunalen bzw. staatlichen Anteilseignern organisiert. Vor allem der Einfluss Stinnes' auf die Energieversorgung wurde hierbei von Behördenseite oft kritisch gesehen. So war die Gründung der VEW ursprünglich eine Abwehrmaßnahme besorgter Landräte und Wettbewerber gegen die rasche Ausbreitung des RWE.

Gemeinsam mit Thyssen und dem Bankier Leo Hanau (Rheinische Bank) fasste Stinnes 1898 mehrere, meist wenig effizient arbeitende Zechen rund um Mülheim an der Ruhr zum MBV zusammen, der dadurch zu einem der größten deutschen Zechenunternehmen wurde und durch den physischen Zusammenschluss mehrerer Zechen erhebliche Synergieeffekte realisieren konnte. Von 1898 bis zu seinem Tod fungierte Stinnes als Vorsitzender des Aufsichtsrats.

Ab 1901 bauten Stinnes und Bernhard Dernburg aus mehreren defizitären Bergwerken im Ruhrgebiet und Hütten in Differdingen (Luxemburg) einen der größten vertikal integrierten deutschen Montankonzerne auf. Noch stärker als das RWE war Deutsch-Luxemburg ein Paradebeispiel für Stinnes' Wachstumsstrategie. Obwohl das Unternehmen stets sehr schwach kapitalisiert war, expandierte Deutsch-Luxemburg durch ständige Akquisitionen, um sich entweder den Zugriff auf Vorprodukte zu sichern oder selbst Kapazitäten der nachfolgenden verarbeitenden Produktionsstufen aufzubauen. Wesentliche Akquisitionen waren die Dortmunder Louise Tiefbau AG (1908), die Dortmunder Union (1910), die ursprünglich von Stinnes und August Thyssen aufgebaute Saar-Mosel (1910/1916) sowie die Nordseewerke.

Stinnes war von 1906 bis zu seinem Tod Vorsitzender des Aufsichtsrats von Deutsch-Luxemburg.

1920 wurde das Unternehmen zusammen mit dem Bochumer Verein und der Gelsenkirchener Bergwerks-AG (GBAG) zur Interessengemeinschaft Rhein-Elbe-Union zusammengefasst. Diese wurde ebenfalls noch 1920 unter Beteiligung der Siemens-Unternehmen zur Siemens-Rheinelbe-Schuckert-Union erweitert.

Weitere wesentliche Mandate

  • Bochumer Verein: Vorsitzender des Aufsichtsrats 1920-1924
  • GBAG: Mitglied des Aufsichtsrats 1904-1924
  • Phönix: Mitglied des Aufsichtsrats 1907-1908
  • Rheinische Bank: stellvertretender Vorsitzender des Aufsichtsrats 1902-1915
  • Rheinisch-Westfälisches Kohlen-Syndikat: Mitglied des Aufsichtsrats
  • Saar-Mosel: Aufsichtsrat 1900-1919, Vorsitzender des Aufsichtsrats 1916-1919
  • Westfälisch-Anhaltinische Sprengstoff AG: Mitglied des Aufsichtsrats

sowie eine Vielzahl von Mitgliedschaften in Grubenvorständen, beispielsweise bei den familieneigenen Zechen Victoria Mathias, Mathias Stinnes, Carolus Magnus, Graf Beust und Friedrich Ernestine.

Erster Weltkrieg und Expansion in der Weimarer Republik

Im Ersten Weltkrieg wurde Stinnes, auch durch die umfangreiche Munitionsproduktion der Dortmunder Union, zu einem der wichtigsten Kriegslieferanten für das deutsche Heer. In Zusammenarbeit mit deutschen Militärstellen wie der Kriegsrohstoffabteilung expandierte er in der Energie- und Metallherstellung sowie der chemischen und der metallverarbeitenden Industrie, beispielsweise durch Gründung des Erftwerkes und durch Erschließung von Rohstoffvorkommen der befreundeten Mittelmächte Rumänien und Türkei, aber auch durch die aggressive "Germanisierung" der belgischen Rohstoffvorkommen.

Im Gegenzug verlor er bereits bei Kriegsbeginn einen Großteil des Besitzes der Hugo Stinnes GmbH, insbesondere die Handelsflotte, und durch die deutsche Niederlage im Krieg den Besitz seiner Montankonzerne in den Ententemächten und den durch den Versailler Vertrag abgetrennten Reichsteilen, was insbesondere die französischen Erz- und die lothringischen Kohlevorkommen von Deutsch-Luxemburg berührte. Darüberhinaus betraf die Ruhrbesetzung den größten Teil seines Unternehmenskonglomerats.

Trotz dieser Verluste kontrollierte Stinnes in der Weimarer Republik nach den Anfangswirren durch seine privaten Unternehmen sowie insbesondere über seine verschiedenen Beteiligungen und Interessengemeinschaften, vor allem die Rhein-Elbe-Union, einen beachtlichen Teil der deutschen Wirtschaft. Hauptsächlich in Reichsmark fremdfinanziert investierte Stinnes hierbei in die verarbeitende Industrie, den Maschinen- und Fahrzeugbau, Reedereien, Zellstofffabriken und das Zeitungswesen. Zugute kam ihm dabei insbesondere der durch die Folgen des Ersten Weltkriegs verursachte Rohstoffmangel im Deutschen Reich, der zum einen den relativen Wert der Montanindustrie gegenüber der verarbeitenden Industrie erhöhte und zum anderen den im wirtschaftlich instabilen Umfeld ständig um die Versorgung mit notwendigen Vorprodukten kämpfenden nachfolgenden Produktionsstufen einen Zusammenschluss mit Rohstofflieferanten wünschenswert erscheinen liess. Er selbst urteilte 1923 in einem Brief an Eberhard Gothein: "Die Vertikaltrusts, die man mir als bevorzugte Kinder zuschreibt, waren naturgemäß Produkte ihrer Zeit: Folgen ungenügender Produktion und mangelnden Betriebskapitals."

Stinnes starb 1924 erst 54-jährig an den Folgen einer Gallenblasenoperation, der er sich aufgrund chronischer Magenbeschwerden unterzogen hatte. Im Jahr seines Todes war er an 4.554 Betrieben mit fast 3.000 Produktionsstätten beteiligt. Bereits ein Jahr nach seinem Tod zerfiel sein Firmenimperium, da seine Erben die Herausforderungen des Endes der Hyperinflation unterschätzten und die ausstehenden Kredite nicht mehr bedienen konnten. Seine Witwe Cläre Stinnes, mit der er seit 1895 verheiratet war und seine sieben Kinder, allen voran Hugo Stinnes jr., konnten nur einen kleinen Teil des Vermögens, insbesondere den Seehandel der Hugo Stinnes Corp., retten, der aber im Zweiten Weltkrieg verloren ging.

Stinnes als Politiker

Politische Zurückhaltung bis zum Ersten Weltkrieg

Vor dem Ersten Weltkrieg blieb Stinnes politisch eher zurückhaltend und war weniger traditionell geprägt als vergleichbare Ruhrindustrielle. Sowohl die von ihm im Kohlen-Syndikat zu Arbeitsbedingungen und Protektionismus vertretenen Positionen als auch die internationalen Beziehungen und Niederlassungen der Hugo Stinnes GmbH erweckten eher den Eindruck eines weltoffenen Unternehmers, der mit den Positionen der Wirtschaftsaristokratie nicht allzu viel gemein hatte. Dies änderte sich mit dem von Stinnes mit Bestürzung aufgenommenen Beginn des Ersten Weltkriegs, der der Hugo Stinnes GmbH die Geschäftsgrundlage im internationalen Handel entzog . Kurz nach Kriegsbeginn begann Stinnes, umfassende Annexionspläne, insbesondere gegenüber Belgien, zu unterstützen und zeigte entgegen früherer Überzeugungen Sympathien für den Alldeutschen Verband unter dem Krupp-Manager Alfred Hugenberg. Der Wandel ist wohl im Wesentlichen auf ein wirtschaftliches Kosten-Nutzen-Denken, auch in Bezug auf seine eigene unternehmerische Situation, zurückzuführen: Wenn schon Krieg geführt wurde, dann sollte für die "Opfer" auch eine entsprechende Gegenleistung entstehen. So äußerte er sich 1915 gegenüber Reichskanzler Bethmann Hollweg: "Das ganze Volk [...] ist opferwillig bis zum Äußersten. Es erwartet aber, dass der Preis des Sieges [...] dann auch den blutigen Opfern, die gebracht sind, und den wirtschaftlichen Schädigungen, die ertragen wurden [...] entspricht. Es muss bei Friedensschluss unter allen Umständen [...] dahin gewirkt werden, dass der zu erwartenden ausserordentlichen Steuerlast, mit vielen Milliarden an jährlichen Zinsen, auch Errungenschaften gegenüberstehen, die die Zukunft unseres Vaterlandes militärisch, politisch und wirtschaftlich sichern [...]".

Gegenüber Ludwig Quidde meinte er: "Ich bin vorm August 1914 der aufrichtigste Anhänger einer friedlichen Verständigung ohne jede Eroberungswünsche [...] gewesen, würde mich aber heute [... eines] verbrecherischen Leichtsinns schuldig halten sofern ich nicht, wenn erreichbar, für eine Erweiterung der Grenzen im Ausmaße der von den wirtschaftlichen Verbänden gekennzeichneten Grenzen einträte".

1919 sicherte Stinnes der Friedensverhandlungen ablehnenden Deutschen Vaterlandspartei die Unterstützung des Kohlen-Syndikats und beteiligte sich im Oktober des gleichen Jahres an der anfänglichen Förderung der antibolschewistischen Propaganda Eduard Stadtlers durch konservative Industrielle.

Politischer Aufstieg nach der Novemberrevolution

Stinnes' Aufstieg zum bedeutenden und einflussreichen Politiker vollzog sich schließlich in der Umbruchsphase zwischen Kriegsende und Herausbildung der Weimarer Republik. Als von der Demobilmachung maßgeblich Betroffener und wirtschaftlicher Schlüsselfigur für die Aufrechterhaltung der Zivilversorgung war er nach der Novemberrevolution wesentlich an den Verhandlungen und dem Ausgleich mit der Arbeiterbewegung beteiligt, unter anderem als Mitglied der Zentralarbeitsgemeinschaft. Als Verhandlungsführer der Arbeitgeber war er 1918 maßgeblich am Stinnes-Legien-Abkommen beteiligt. Mit dem Abkommen wurden, um weitergehende Sozialisierungsforderungen abzuwehren, die Gewerkschaften anerkannt und der Achtstundentag in Deutschland eingeführt. Ebenso vertrat er die Interessen der deutschen Wirtschaft auf der Konferenz von Spa sowie in Reparationsverhandlungen und als Präsidiumsmitglied des Reichsverbands der Deutschen Industrie. Während des Ruhrkampfs, der französischen Besetzung des Ruhrgebiets 1923/24, war er einer der Verhandlungsführer für die Ruhrindustriellen (MICUM-Abkommen).

Stinnes galt seit Anfang der 1920er allgemein als das Sprachrohr der deutschen Wirtschaft. Das Time-Magazin bezeichnete ihn 1923 gar als den neuen Kaiser von Deutschland.

Stinnes als Reichstagsabgeordneter

1920 trat Stinnes der nationalliberalen Deutschen Volkspartei bei und zog wie sein enger Vertrauter Albert Vögler mit deren Mandat als Abgeordneter in den Reichstag der Weimarer Republik ein.

Innerhalb der DVP galt Stinnes vor allem durch seine vielfältigen Kontakte zum konservativ-nationalen Lager und zu führenden DNVP-Exponenten als am rechten Rand der Partei stehend. Für innerparteiliche Gegner wie Stresemann stellte Stinnes hierbei eine Hypothek nicht nur in der öffentlichen Wahrnehmung, sondern auch in der täglichen Politik dar, da sich Stinnes kaum einer politischen Gruppierung dauerhaft zurechnen liess. Stinnes' politische Ansichten waren statt dessen stets von den deutschen (und auch persönlichen) Wirtschaftsinteressen geprägt. Dies führte oft dazu, dass Stinnes eine realistischere, pragmatischere Politik befürwortete, beispielsweise in der Frage der Arbeitsbedingungen, aber oft auch radikale und nicht durchsetzbare Ansichten vertrat, beispielsweise bei der entschiedenen Ablehnung der Reparationsforderungen und in seinen Ideen zur Refinanzierung des deutschen Staatshaushaltes.

Diese widersprüchliche Haltung zeigte sich auch in seinen persönlichen Beziehungen zu Politikern unterschiedlicher Couleur. So stand er beispielsweise dem Kapp-Putsch, den er als "unentschuldbares" und "verderbliches Unternehmen" ansah, ablehnend gegenüber, verurteilte ihn aber nicht öffentlich und bot Wolfgang Kapp in seinem schwedischen Ferienhaus in Asa Exil. Ebenso blieb Stinnes zeitlebens begeisterter Anhänger von Erich Ludendorff. Schiffe seiner Reederei waren aber sowohl nach Ludendorff und Hindenburg, als auch nach dem Gewerkschaftsführer Carl Legien benannt. Zwar war Stinnes' wirtschaftlicher Sachverstand von allen Regierungen dieser Zeit gefragt und er wurde mehrfach als Kandidat für Ministerämter gehandelt, doch seine meist radikale Ablehnung der Erfüllungspolitik (er selbst meinte, er sei "immer für Erfüllungspolitik gewesen, jedoch nur in den Grenzen der Vernunft und in den Grenzen des für unsere Volkswirtschaft erträglichen"), sein Primat der Wirtschaftspolitik vor allen anderen Themen und gegen alle politisch-opportunen Sachzwänge, sowie seine an der Regierung vorbei betriebene private Diplomatie mit französischen, britischen und russischen Politikern sorgten letztlich dafür, dass Stinnes als Politiker nicht erfolgreich war.

Öffentliche Wahrnehmung

Insgesamt gehörte Stinnes wie sein von ihm hochgeachteter unternehmerischer und politischer Widerpart Walther Rathenau zu den Feindbildern sowohl der extremen politischen Linken als auch der extremen politischen Rechten, deren Antisemitismus und völkischen Wirtschaftskonzepte mit Stinnes' Primat der Wirtschaftspolitik ebenfalls unvereinbar waren. Insbesondere für kommunistische und sozialistische Zeitgenossen jedoch stellte Stinnes durch seine offensichtliche Verquickung von politischer und wirtschaftlicher Macht sowie aufgrund der als "Verstinnesierung" und "vertikaler Sozialisierung" empfundenen Expansion seiner Konzerne in der Inflationszeit das klassische kapitalistische Feindbild dar, das bis heute stark das Bild von Stinnes beeinflusst (siehe beispielsweise die Karikatur von George Grosz in den Weblinks).

In der öffentlichen Wahrnehmung galt der als sparsam und fast schäbig gekleidet beschriebene Stinnes meist als unberechenbar und machthungrig. Sowohl Gewerkschaften als auch konservative Politiker monierten, dass seine politischen Ansichten ausschließlich wirtschaftlich getrieben wären und unterstellten ihm Verschwörungstheorien und Opportunismus. TIME urteilte: "Sein Ziel ist die Herrschaft über die europäischen Stahlindustrien, und wie alle jene geheimnisvollen Figuren, die sich im Niemandsland der internationalen Politik bewegen, wird er es so einrichten, dass er gewinnt, gleich welche Seite die Oberhand behält."

Stinnes' Erwerb der regierungsnahen Deutschen Allgemeinen Zeitung im Mai 1920 verfestigte dieses kritische Bild. Die Satirezeitschrift Ulk des Berliner Tageblatt zeigte im gleichen Monat eine Karikatur von Stinnes als Kapitalist mit Zylinder und Zigarre und der Unterschrift "Stinnes kauft alles" auf dem Titelbild - zu sehen waren neben Hotels, Schiffen, einer Zeitungsdruckerei und Fabriken auch Politiker, Stimmzettel und eine Wahlurne (siehe Weblinks).

Literatur

  • Gerald D. Feldman: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen 1870 - 1924, München (C.H. Beck) 1998 - ISBN 3406435823
  • Manfred Rasch, Gerald D. Feldman (Hrsg.): August Thyssen und Hugo Stinnes. Ein Briefwechsel 1898-1922, München (C.H.Beck) 2003 - ISBN 3406496377

Karikaturen und Bilder

Weitere