Deutsche Kriegsversehrte im 20. Jahrhundert

Für den Verlust seines rechten Arms im Ersten Weltkrieg erhielt Kurt Schumacher eine monatliche Rente von 33,75 Mark zuzüglich einer Kriegszulage von 15 Mark und der einfachen Verstümmelungszulage von 27 Mark.

Als Kriegsversehrte werden Personen bezeichnet, deren Versehrtheit eine Folge kriegerischer Einwirkungen war; hierzu zählten auch die gesundheitlichen Folgeerscheinungen einer Kriegsgefangenschaft. Der Begriff Kriegsversehrter wurde sowohl auf Erwachsene als auch Kinder beziehungsweise Jugendliche weiblichen und männlichen Geschlechts angewendet. Kriegsbedingt Amputierte, Gelähmte, Hirnverletzte und Menschen, deren Fähigkeit beeinträchtigt worden war, zu hören oder sehen (siehe auch: Kriegsblinder, Blindenführhund), werden hierunter verstanden. Forschungsarbeiten zur Geschichte deutscher Kriegsversehrter liegen für die Zeit der Weimarer Republik und früher vor. Ein erster Ansatz ist in Hamburg unternommen worden, die Situation deutscher Versehrter nach 1945 zu beschreiben. Aussagen können getroffen werden zu gesetzlichen Regelungen, welche die Situation Kriegsversehrter im 20. Jahrhundert beeinflussten. Über Eindrücke zu den Themen "Medizinische Versorgung", "Soziale Situation" und "Organisationen" verfügen wir. Um die Lebenssituation kriegsversehrter Zivilisten im 20. Jahrhundert zu erfassen, bedarf es weiterer Studien.

Anzahl der Kriegsversehrten

Das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert zweier Weltkriege, kann auch als das Jahrhundert der Kriegsversehrten bezeichnet werden. Gemessen an vorangegangenen Kriegen war im Ersten Weltkrieg durch den vermehrten Einsatz von Explosivgeschossen eine größere Anzahl von Soldaten verwundet worden - seit 1915 trugen Soldaten im Interesse eines besseren Schutzes einen Stahlhelm. Zugleich überlebten mehr Verwundete durch die nunmehr mögliche aseptische Wundbehandlung. Im Gefolge des medizinischen Fortschritts erhöhte sich die Anzahl körperlich behinderter Menschen, da Schussbrüche teilweise Gliedmaßenverkürzungen beziehungsweise -versteifungen nach sich zogen. In Deutschland lebten nach dem Ende des Erster Weltkrieges eine halbe Million und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eineinhalb Millionen Menschen, die staatlich anerkannte Kriegsversehrte waren. Eine Minderung der Erwerbsfähigkeit um mindestens 25% musste vorliegen, um als kriegsversehrt zu gelten.

Gesetzliche Regelungen

Kriegsversehrter Klempner

Die Kriegsbeschädigtenfürsorge wurde in Deutschland seit 1920 mithilfe des Reichsversorgungsgesetzes geregelt. Grundgedanke des Reichsversorgungsgesetzes war es, den Versehrten eine Geldentschädigung durch Renten zu gewähren und ihnen die Rückkehr in das Arbeitsleben zu ermöglichen. Insofern stand der Anspruch der Beschädigten auf Heilbehandlung im Vordergrund des Gesetzes. Den kriegsversehrten Arbeitnehmer, nicht Almosenempfänger, hatte zuvor insbesondere der Berliner Orthopäde Konrad Biesalski propagiert. Die in der Weimarer Republik gelegten Grundlinien der Kriegsopferversorgung wirkten nach 1945 fort. An die Stelle des Reichsversorgungsgesetzes trat in der Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1950 das Bundesversorgungsgesetz. Zur Förderung der Integration Kriegsversehrter in das Erwerbsleben wurde 1953 in der Bundesrepublik das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter erlassen. Das Gesetz orientierte sich am Schwerbeschädigtengesetz der Weimarer Republik, das 1920 inkraft getreten war, und legte wie dieses Pflichtquoten für die Beschäftigung Schwerbeschädigter fest. Arbeitgeber, die wenigstens sieben Arbeitsplätze stellten, hatten einen Schwerbeschädigten zu beschäftigen. Öffentliche Verwaltungen waren verpflichtet, 10% der Arbeitsplätze mit Schwerbeschädigten zu besetzen. Für alle anderen Unternehmen galt eine Quote von 8%. Um Kriegsversehrten Mobilität und die Teilhabe am öffentlichen Leben zu sichern, wurden so genannte Versehrtheitsausgleichsrechte gewährt. Freifahrten in öffentlichen Verkehrsmitteln und vergünstigte Eintrittspreise für Museen, Theater etc. konnten diejenigen in Anspruch nehmen, welche sich einen Schwerbeschädigtenausweis (2009: Schwerbehindertenausweis) ausstellen ließen (siehe auch: Unentgeltliche Beförderung und darüber hinaus zur allgemeinen Situation 2009: Soldatenversorgungsgesetz).

Medizinische Versorgung

Als Krankenkassenmitglieder hatten Kriegsversehrte, die in einem versicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis standen, Anspruch auf Heilbehandlung. Das Bundesversorgungsgesetz sicherte diesen Anspruch auch nichtversicherten Kriegsversehrten zu. Die Gemeinschaft der Krankenkassenmitglieder garantierte nach 1950 die medizinische Versorgung nichtversicherter Kriegsversehrter: Nichtversicherte wurden für die Behandlung ihres Kriegsbeschädigungsleidens einer Krankenkasse zugeteilt. Die medizinische Behandlung dieser so genannten Zugeteilten erfolgte auf der Grundlage des vom Bundesarbeitsministerium ausgegebenen Bundesbehandlungsscheines für Zugeteilte nach einem Bundestarif für Kriegsbeschädigte, dem Bundesversorgungstarif. Die Bundesbehandlungsscheine hatten die behandelnden Ärzte nach Ablauf eines Behandlungsvierteljahres den zuständigen Abrechnungsstellen der Kassenärztlichen Vereinigung zuzustellen. Diese rechneten im Weiteren mit den Kassen ab. Die medizinische Versorgung Kriegsversehrter erfolgte auch in speziell hierfür eingerichteten Krankenhäusern, z.B. im Krankenhaus Hohe Warte Bayreuth. Kriegsversehrte, deren Erwerbsminderungsgrad mindestens 50% betrug und Zugeteilte befreite das Bundesversorgungsgesetz darüber hinaus von der so genannten Verordnungsblattgebühr (2009: Selbstbeteiligung, Zuzahlungen, Medikamente und Hilfsmittel). Die Versorgung mit Prothesen war zunächst unzureichend. Als Gründe für die Probleme auf dem Gebiet der Prothesenbeschaffung in der unmittelbaren Nachkriegszeit sind fehlende Materialien und eine mangelhafte Zusammenarbeit zwischen Handwerk und Industrie zu nennen.

Soziale Situation

Kriegsversehrter Straßenmusikant 1949

Die finanzielle Versorgung Kriegsversehrter kann nicht in wenigen Worten umrissen werden. Möglich ist es, Angaben für eine der vier Besatzungszonen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu machen: Im Zeitraum 1945 bis 1950 erfolgte die Versorgung Kriegsversehrter in der Britischen Besatzungszone Deutschlands / Bundesrepublik Deutschland auf der Grundlage des 1938 in Kraft getretenen Wehrmachtsfürsorge- und Versorgungsgesetzes, der Sozialversicherungsrichtlinien Nr. 11 (1946), der Sozialversicherungs-Direktive Nr. 27 (1947) und des Bundesversorgungsgesetzes sowie seitens der Fürsorge; wobei zwischen fürsorge- und versorgungsberechtigten Versehrten zu unterscheiden ist. Für die zur Britischen Besatzungszone gehörende Stadt Hamburg ist für das Jahr 1950 Folgendes festzuhalten: Die Höhe des mittleren monatlichen Einkommens lag für einen vier-Personen-Arbeitnehmerhaushalt in der Bundesrepublik Deutschland bei 343.- DM. Die durchschnittliche monatliche Unterstützung je Kriegsversehrtem seitens der Fürsorge betrug in Hamburg 34.- DM, mithin lediglich 40% dessen, was den einzelnen Mitgliedern eines Arbeitnehmerhaushaltes mit durchschnittlichem Einkommen zur Verfügung stand. Inwieweit die Lücke durch Leistungen geschlossen werden konnte, die Kriegsversehrten auf Grundlage der Sozialversicherungs-Direktive Nr. 27 / des Bundesversorgungsgesetzes zustanden, ist nicht zu beantworten. Ende der vierziger Jahre erhielten Kriegsversehrte in der Britischen Besatzungszone zwischen 10.- und 100.- DM Rente monatlich. Durch die einsetzende Hochkonjunktur in der Bundesrepublik Deutschland und das Gesetz über die Beschäftigung Schwerbeschädigter veränderte sich die Lage Kriegsversehrter Mitte der fünfziger Jahre positiv. Die Anzahl der mit Versehrten abgeschlossenen Beschäftigungsverhältnisse erhöhte sich deutlich. 1953 waren circa 48.000 Schwerbeschädigte arbeitslos. Bis zum Ende des Jahres 1956 verringerte sich die Arbeitslosigkeit unter den Schwerbeschädigten um nahezu die Hälfte. Zur beruflichen (Wieder-)Eingliederung Kriegsversehrter existierten darüber hinaus verschiedene Einrichtungen; zu nennen sind u.a. das Berufsförderungswerk Bad Pyrmont und das Berufsförderungswerk Birkenfeld (Elisabeth-Stiftung). Auch verfügten die Arbeitsämter über technische Beratungsstellen, die dazu beitrugen, Arbeitsplätze behindertengerecht zu gestalten, um die Integration Kriegsversehrter zu fördern. In den Betrieben wurden zudem Vertrauensmänner eingesetzt, welche mit über die Einstellung Versehrter zu entscheiden und die die besonderen Belange Kriegsversehrter zu vertreten hatten (2009: Schwerbehindertenvertretung).

Organisationen

Um ihre Lebenssituation zu verbessern, organisierten sich Kriegsversehrte: Der Reichsbund der Kriegs- und Zivilbeschädigten, Sozialrentner und Hinterbliebenen (1917, 2009: Sozialverband Deutschland), der Bund der Kriegsblinden Deutschlands (1916) und der Bund hirnverletzter Kriegs- und Arbeitsopfer (1917) wurden bereits während des Ersten Weltkrieges gegründet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kam der Verband der Kriegsbeschädigten, Kriegshinterbliebenen und Sozialrentner Deutschlands (1948/50, 2009: Sozialverband VdK Deutschland) als Interessenvertretung hinzu.

Einzelschicksale

Überliefert ist die Schilderung des Versehrten Liebetau vom 6. August 1946, welche im Nordwestdeutschen Rundfunk (NWDR) ausgestrahlt wurde. Diese vermittelt Eindrücke von der Situation eines Beinamputierten:

„Am 18. März 1945 wurde ich bei Bladiau in Ostpreußen als Obergefreiter der Division ‚Großdeutschland’ bei der Bergung von gepanzerten Fahrzeugen verwundet. Kameraden bei der Einheit brachten mich zum Hauptverbandsplatz, dort wurde mir das linke Bein amputiert und das rechte geschient. Nach 15-tägiger Irrfahrt, ohne große ärztliche Hilfe und Verbandswechsel, landeten wir auf dem Seewege in Stralsund. Von dort kamen wir dann nach Bergen auf Rügen ins Lazarett. Das rechte Bein war inzwischen so vereitert, daß es nicht gerettet werden konnte und wurde mir am 3. April amputiert. Nach vier Wochen kamen wir nach Kopenhagen auf das Lazarettschiff ‚Monte Rose’ [gemeint ist ‚Monte Rosa’], um nach 6 Wochen wieder nach Deutschland abgeschoben zu werden. Wir kamen dort in eine Kaserne in Schwerin, um von dort nach kurzer Zeit wieder nach Hamburg-Wandsbek in die Douaumont-Kaserne zu kommen. Dort mussten wir wieder räumen, weil eine Blindenlehranstalt eingerichtet werden sollte. Wir landeten in der Oberschule im Hilfskrankenhaus Rahlstedt. Dort wurde ich nachamputiert, war ausgeheilt, wandte mich an das Versorgungsamt wegen Prothesen. Innerhalb von sechs Wochen bekam ich meine Prothesen. Schwierig war jetzt die Schuhfrage. Ich hatte wohl Prothesen, aber keine Schuhe und wandte mich an die Orthopädische versorgungsstelle. Dort wurde ich gefragt, ob ich Hamburger wäre. Ich antwortete ‚Nein, Berliner’. Da sagte mir der Herr, es bekommen nur Hamburger Schuhe, aber ich müßte mal zum Wirtschaftsamt Rahlstedt gehen. Dort sagte mir die Dame dasselbe. Auf meinen Wusch setzte sich die betreffende Dame mit dem(...)Landwirtschaftsamt in Verbindung. Der betreffende Herr ließ mir sagen, ich sollte mit meinen Prothesen abfahren und mir in Berlin Schuhe besorgen. Inzwischen bekamen wir von der Deutschen Hilfsgemeinschaft ein paar imprägnierte Stoffschuhe mit Gummisohlen, mit denen wir bei nassem Wetter, ohne Gefahr uns die Knochen zu brechen, nicht gehen konnten. Lederschuhe habe ich bis heute noch nicht bekommen. Es besteht Aussicht, einen Bezugsschein für Schuhe zu erhalten, doch die Bezugsscheine kommen von ausserhalb. Es wird also wieder allerhand Zeit draufgehen. Nach 10 Monaten wurde ich in Rahlstedt abgeschoben und kam nach Harburg ins Versehrtenheim, wo ich mich im Sommer ganz wohl fühle. An den Winter denken wir alle mit Grausen. Über meine Berufsaussicht kann ich folgendes sagen: Ich bin von Beruf Schweißer und hoffe, dass ich wieder einen geeigneten Arbeitsplatz zugewiesen bekomme. Wir in Harburg sind ungefähr 20 Doppelamputierte. Wir müssen dauernd im Sand sitzen, weil keine Selbstfahrer [als 'Selbstfahrer' wurden dreirädrige Fahrzeuge bezeichnet, die durch den Einsatz von Armkraft vorwärts bewegt werden konnten, Beinamputierte saßen in diesen Wagen aufrecht und betätigten zwei Hebel zur Krafterzeugung] da sind. Die Verpflegung ist gut.“

Siehe auch

Literatur

  • Hans Adolf Aye: Die Kriegsopferversorgung. 4. neubearb. Aufl., Bad Godesberg 1964
  • Bund der Kriegsblinden Deutschlands e.V. (Hrsg.): 75 Jahre Bund der Kriegsblinden Deutschlands e.V., 1916-1991. Bonn 1991, ISBN 3937179933
  • Deborah Cohen: The War Come Home. Disabled Veterans in Britain and Germany, 1914-1939. Berkeley / Los Angeles / London 2001, ISBN 0520220080
  • Dubitscher: Die Aufgaben des Arztes der Versorgungsverwaltung im Sozialgerichtsverfahren. In: Herbsttagung 1957 des Ärztlichen Sachverständigenbeirats für Fragen der Kriegsopferversorgung vom 28. - 30. Oktober 1957 im Bundesministerium für Arbeit. Bonn o-J., S. 164-178
  • Ludwig Guttmann: Sport für Körperbehinderte. München / Wien / Baltimore 1979, ISBN 3980142078
  • Ulrich Hinkelmann: Folgeschäden am Skelettsystem bei Oberschenkelamputierten. Eine Untersuchung an 78 Kriegsversehrten nach mehr als 40 Jahren. Diss. med. Bonn 1995
  • Rainer Hudemann: Sozialpolitik im deutschen Südwesten zwischen Tradition und Neuordnung 1945-1953. Sozialversicherung und Kriegsopferversorgung im Rahmen französischer Besatzungspolitik. Mainz 1988, ISBN 377581177X
  • Uta Krukowska: Erwerbsminderungsrente und Erwerbstätigkeit. Aspekte der Kriegsversehrtenversorgung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In: Fachprosaforschung - Grenzüberschreitungen. Baden-Baden 2009, S. 425-434, ISBN 9783868880052
  • Uta Krukowska: Kriegsversehrte. Allgemeine Lebensbedingungen und medizinische Versorgung deutscher Versehrter nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in der Britischen Besatzungszone Deutschlands – dargestellt am Beispiel der Hansestadt Hamburg. Hamburg 2006, ISBN 3833447257
  • Stefan Prigge: Die "Deutsche Hilfsgemeinschaft e.V." in Hamburg 1945-1954. Struktur, Entwicklung, Arbeitsfelder, Staatsexamensarbeit (Geschichte) Hamburg 1986
  • Helmut Rühland: Entwicklung, heutige Gestaltung und Problematik der Kriegsopferversorgung in der Bundesrepublik Deutschland. Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln, Köln 1957
  • Klaus-Dieter Thomann: Das behinderte Kind. "Krüppelfürsorge" und Orthopädie in Deutschland 1886–1920. Stuttgart / Jena / New York 1995, ISBN 3437116991
  • Heinrich Tröster: Einstellungen und Verhalten gegenüber Behinderten. Konzepte, Ergebnisse und Perspektiven sozialpsychologischer Forschung. Bern / Stuttgart / Toronto 1990, ISBN 3910095453

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