Rechtsstaat (Schweiz)

Das schweizerische Verständnis des Begriffs Rechtsstaat deckt sich heutzutage im Wesentlichen mit dem des restlichen Westeuropa, ist jedoch historisch anders gewachsen.

Definition

Rechtsstaat bedeutet in erster Linie Herrschaft des Rechts. Die Macht des Staates hat ihre Grundlage im Recht und kann nur auf Grundlage des Rechts ausgeübt werden. Der Rechtsstaat ist somit der Antipode zum Willkür- oder Machtstaat. Im Rechtsstaat sind Hoheitsträger nicht nur an das Recht gebunden; die rechtlich verbriefte individuelle Freiheit setzt staatlichem Handeln Grenzen. Der Rechtsstaat anerkennt – im Unterschied zum totalitären Staat –, dass nicht jeder Lebensbereich autoritativ zu regulieren ist.[1] Der Rechtsstaatsbegriff ist jedoch in hohem Masse unbestimmt und dogmatisch äusserst vielschichtig. Das hängt mit der historischen Entwicklung des Rechtsstaatsgedankens zusammen, die von der Antike über das Mittelalter reicht, von Sozialvertragstheorien und Naturrechtsdenken beeinflusst wurde und in verschiedenen Staaten teilweise sehr unterschiedlich ausgeprägt ist.[2]

Für gewöhnlich wird zwischen formellen und materiellen Elementen des Rechtsstaates unterschieden. Die formellen Elemente suchen sicherzustellen, «dass die Staatsgewalt allein im rechtlich freigegebenen Mass wirksam wird.»[3] Dazu zählen in der Schweiz

An das formell korrekt erlassene, angewandte und durchgesetzte Recht sind noch materielle Anforderungen, namentlich die Wahrung der Grundrechte, gestellt. Beim NS-Staat handelte es sich um einen Unrechtsstaat, wenngleich viele der Gräueltaten eine Rechtsgrundlage hatten; das erlassene Recht muss auch gerecht sein.[4] Zudem muss jedem Bürger, damit er seine Rechte ausüben kann, die materielle Existenz gesichert sein; insofern besteht ein Konnex zwischen dem Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip.[5] Unerlässlich sind denn auch die Ordnungsaufgaben der Polizei und diverser Aufsichtsbehörden.[1] Die Menschenwürde (Art. 7 BV) nimmt dabei eine Sonderstellung als oberstes Konstitutionsprinzip ein.[6] In säkularisierten Staaten wie der Schweiz dient die Garantie der Menschenwürde als wertende Orientierung, als materielle Grundnorm des gesamten Staatswesens.[7]

Die Schweiz ist zweifelsohne ein Rechtsstaat. Das Rechtsstaatsprinzip ist in der Verfassung in Art. 5 verankert, zusammen mit Art. 9 BV (Willkürverbot), Art. 36 BV (Voraussetzungen für Einschränkungen der Grundrechte) und Art. 191c BV (richterliche Unabhängigkeit) sowie die Grundrechte insgesamt.[8]

Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns

Art. 5 Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns

1 Grundlage und Schranke staatlichen Handelns ist das Recht.

2 Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein.

3 Staatliche Organe und Private handeln nach Treu und Glauben.

4 Bund und Kantone beachten das Völkerrecht.

Legalitätsprinzip

Der Gedanke, dass staatliches Handeln mit einer gesetzlichen Ermächtigung erfolgen darf, wird als Legalitätsprinzip bezeichnet, dessen schweizerische Ausprägung aus zwei Elementen zusammengesetzt ist. Die erste Voraussetzung wird als »Erfordernis der Gesetzesform« bezeichnet, die zweite als »Erfordernis des Rechtssatzes«. Die Erfordernis der Gesetzesform verlangt, dass alle wichtige Bestimmungen in Form des Gesetzes erlassen werden. Dadurch entscheidet der demokratisch legitimierte Gesetzgeber über die wichtigen Staatsgeschäfte, und die Stimmberechtigten können ein Referendum ergreifen.[9] Das Erfordernis des Rechtssatzes verlangt, dass eine Norm »so präzise formuliert sein [muss], dass der Bürger sein Verhalten danach einrichten und die Folgen eines bestimmten Verhaltens mit einem den Umständen entsprechenden Grad an Gewissheit erkennen kann«.[10] Das Ziel ist also, Rechtssicherheit zu schaffen; durch Lektüre des Gesetzes soll im Vornherein feststehen, wie man sich zu verhalten hat, und nicht erst durch ein richterliches Urteil.[11] Durch die Bindung an das Gesetz im Verwaltungshandeln an das Gesetz – eine generell-abstrakte Rechtsnorm – wird Rechtsgleichheit gewährleistet, da die Behörden in ähnlich gelagerten Fällen gleich zu entscheiden haben. Von Bedeutung ist das Legalitätsprinzip schlussendlich bei Grundrechtseingriffen, die nur basierend auf einer formell-gesetzlichen Grundlage erfolgen dürfen (Art. 36 Abs. 1 BV).[12] Die in Deutschland zentrale Unterscheidung zwischen Gesetzesvorbehalt und Gesetzesvorrang ist in der Schweiz eher unüblich.[13]

Eine Verletzung des Legalitätsprinzips liegt dann vor, wenn entweder keine ausreichende gesetzliche Grundlage besteht oder diese nicht ausreichend konkret ist, um als Grundlage für die Verordnung oder den Einzelakt zu gelten. Missachtungen des Legalitätsprinzips können indes nur eingeschränkt angefochten werden, da es nicht als verfassungsmässiges Recht gilt, deren Einschränkung mit Verfassungsbeschwerde vor Bundesgericht geltend gemacht werden kann.[14] Kantonales Recht, das das Legalitätsprinzip mutmasslich verletzt, kann nur über den Umweg des Grundsatzes der Gewaltenteilung oder des Willkürverbots (Art. 9 BV) gerügt werden. Auf Bundesebene sind die Bundesgesetze für das Bundesgericht massgeblich (Art. 190 BV). Daraus folgt: Die gesetzliche Grundlage kann nicht infrage gestellt werden. Der Bundesgesetzgeber soll zwar hinreichend bestimmt formulieren; eine Verletzung dieses Gebots kann indessen nicht sanktioniert werden.[15]

Die wirkungsorientierte Verwaltungsführung resp. das New Public Management fordert das Legalitätsprinzip heraus, denn diese Modelle stellen die Effizienz des Verwaltungshandelns in den Vordergrund. Dafür werden Abstriche bei der Regelungs- und Normdichte gemacht, wodurch eine Aushöhlung der Erfordernis der Gesetzesform und des Rechtssatzes droht. Eine wirkungsorientierte Verwaltungsführung ist aber nicht notwendigerweise unvereinbar mit dem Legalitätsprinzip.[16]

Literatur

Einzelnachweise

  1. a b Pierre Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft (= Stämpflis juristische Lehrbücher). 5. Auflage. Stämpfli Verlag, Bern 2021, ISBN 978-3-7272-8928-6, S. 88–90.
  2. Gerhard Schmid/Felix Uhlmann: Idee und Ausgestaltung des Rechtsstaates. In: Daniel Thürer/Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller (Hrsg.): Verfassungsrecht der Schweiz. Schulthess, Zürich 2001, ISBN 3-7255-4174-4, S. 225.
  3. Pierre Tschannen: Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft (= Stämpflis juristische Lehrbücher). 5. Auflage. Stämpfli Verlag, Bern 2021, ISBN 978-3-7272-8928-6, S. 89.
  4. Ulrich Häfelin, Walter Haller, Helen Keller, Daniela Thurnherr: Schweizerisches Bundesstaatsrecht. 10. Auflage. Schulthess, Zürich Basel Genf 2020, ISBN 978-3-7255-8079-8, S. 40 f.
  5. Walter Haller, Alfred Kölz, Thomas Gächter: Allgemeines Staatsrecht. 5. Auflage. Schulthess, Zürich 2013, ISBN 978-3-7255-6873-4, S. 139.
  6. Judith Wyttenbach: Menschenwürde. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 1362.
  7. Philippe Mastronardi: Menschenwürde als materielle «Grundnorm» des Rechtsstaates? In: Daniel Thürer/Jean-François Aubert/Jörg Paul Müller (Hrsg.): Verfassungsrecht der Schweiz. Schulthess, Zürich 2001, ISBN 3-7255-4174-4, S. 235.
  8. Astrid Epiney: Art. 5 BV. In: Basler Kommentar der Bundesverfassung (= Basler Kommentar). 1. Auflage. Helbing-Lichtenhahn-Verlag, Basel 2015, ISBN 978-3-7190-3318-7, S. 92 f.
  9. Felix Uhlmann: Legalitätsprinzip. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 1026 f.
  10. BGE 109 Ia 273, E. 4d, S. 283. Dieser Auffassung sind Bundesgericht und EGMR.
  11. Hansjörg Seiler: Fehlentwicklungen des Verhältnismässigkeitsprinzips. In: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht. Nr. 123, August 2022, S. 397 f.
  12. Ulrich Häfelin, Georg Müller, Felix Uhlmann: Allgemeines Verwaltungsrecht. 8. Auflage. Dike, 2020, ISBN 978-3-03891-221-7, S. 80.
  13. Felix Uhlmann, Florian Fleischmann: Das Legalitätsprinzip – Überlegungen aus dem Blickwinkel der Wissenschaft. In: Felix Uhlmann (Hrsg.): Das Legalitätsprinzip in Verwaltungsrecht und Rechtsetzungslehre. 15. Jahrestagung des Zentrums für Rechtsetzungslehre (= Zentrum für Rechtsetzungslehre (ZfR)). Band 7. Dike, Zürich/St. Gallen 2017, ISBN 978-3-03751-898-4, S. 9.
  14. BGE 128 I 113 E. 2c S. 116; Urteil 2C_214/2007 E. 4.2
  15. Felix Uhlmann: Legalitätsprinzip. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 1042 f.
  16. Felix Uhlmann: Legalitätsprinzip. In: Verfassungsrecht der Schweiz. Band 2, 2020, S. 1045 f.