Polyneoptera

Polyneoptera

Verschiedene Polyneoptera. Abbildung aus Dictionnaire universel d’histoire naturelle. (Paris: Renard, 1841–1849), von Charles Émile Blanchard

Systematik
Stamm: Gliederfüßer (Arthropoda)
Unterstamm: Sechsfüßer (Hexapoda)
Klasse: Insekten (Insecta)
ohne Rang: Metapterygota
ohne Rang: Neuflügler (Neoptera)
ohne Rang: Polyneoptera
Wissenschaftlicher Name
Polyneoptera
Martynov, 1938
Ordnungen

Die Polyneoptera sind eine Verwandtschaftsgruppe (ein Taxon) der Insekten. Sie bilden eine Teilgruppe der sogenannten hemimetabolen Insekten mit direkter Entwicklung vom Ei über verschiedene Nymphenstadien bis zum geschlechtsreifen, meist geflügelten Insekt (Imago oder Adultus). Ihre Zusammengehörigkeit als Taxon (Monophylie) war lange Zeit umstritten, gilt aber heute, vor allem aufgrund phylogenomischer Untersuchungen als gesichert. Aus Deutschland sind 222 Arten der Polyneoptera bekannt, davon entfallen 117 auf die Steinfliegen, 82 auf die Heuschrecken und 23 auf die Schaben, Ohrwürmer und Fangschrecken.[1][2][3][4][5][6][7]

Merkmale

Die Polyneoptera sind eine morphologisch vielgestaltige Gruppe innerhalb der Neuflügler oder Neoptera, deren gemeinsame Merkmale vor allem mit Anpassungen an das Leben auf dem Boden oder in engen Räumen wie Spalten, Ritzen oder unter Rinde verbunden sind[8]. Darin unterscheiden sich die Polyneoptera von den anderen Hauptlinien der geflügelten Insekten, den Holometabola, Paraneoptera und Palaeoptera, die im Grundplan andere Lebensräume besiedelten (auch wenn einzelne Teilgruppe wie z. B. die Käfer unabhängig einen ähnlichen Lebensraum kolonisierten und ähnliche Merkmale entwickelten). Folgende Anpassungen werden als abgeleitete Merkmale der Polyneoptera angesehen:[8]

  • Der Besitz von Tegmina, teilweise als Deckflügeln verstärkten lederartig derben Vorderflügeln[8]. Diese schützen die zarten Hinterflügel wenn die Tiere sich in engen Spalten oder Lebensräumen bewegen. Dieses Merkmal wurde sekundär in den Gruppen reduziert, die entweder über keine Flügel verfügen, ihre Flügel abwerfen (Termiten und Bodenläuse) oder die Hämolymphe aus den Flügel pumpen können (Tarsenspinner). In vielen Gruppen der Steinfliegen sind die Tegmina ebenfalls sekundär reduziert.
  • Bau der Flügel. Bei den Polyneoptera sind die Hinterflügel meist in ihrer Fläche vergrößert, indem ihr hinterer Abschnitt, Analfeld oder Vannus genannt, erweitert ist.[8] Durch das vergrößerte Feld erzeugt der Hinterflügel mehr Auftrieb, was die verringerte Leistung der Tegmina ausgleicht. Dieses Merkmal ist bei den flügellosen Ordnungen der Grillenschaben und Fersenläufer nicht ausgebildet und bei den Bodenläusen, Termiten und Tarsenspinnern sekundär rückgebildet, was bei den ersten beiden Gruppen wahrscheinlich mit der Fähigkeit zusammenhängt, die Flügel abzuwerfen.
  • Die Tarsen- oder Fußglieder tragen kissenartige, erweiterte Vorsprünge als Haltevorrichtungen für glatte Oberflächen, die Euplantulae genannt werden. Euplantulae fehlen einigen Gruppen wie etwa den Bodenläusen und Termiten.
  • Das Herz besitzt Klappen (Ostien) nicht nur an den Einström- sondern auch an den Ausströmöffnungen (Ausnahme: die Bodenläuse).[9]
  • Der besondere Bau des Flügelgelenks[10]. Ausnahmen ergeben sich bei einigen Untergruppen der Schaben.

Phylogenie und Systematik

Die Zusammengehörigkeit der Gruppe allein ist traditionell umstritten gewesen. Willi Hennig hatte in seinem für die moderne Forschung grundlegenden Werk Die Stammesgeschichte der Insekten noch die Steinfliegen (und die Bodenläuse) aus den (damals schon bekannten) Ordnungen der „niederen“ Neoptera ausgeschlossen und die übrigen in einem Taxon der „Paurometabola“ zusammengefasst. Auch Niels Peder Kristensen konnte in seinem lange Zeit maßgeblichen Werk Phylogeny of Insect Orders die Gruppe nicht aufschlüsseln.[9] Auch folgende molekulare und morphologische Arbeiten ergaben kein schlüssiges Bild. Stattdessen schlug jede neue Analyse ein neues Verzweigungsmuster für die Gruppe vor. Die Frage der gemeinsamen Abstammung sowie die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb der Polyneoptera galten als eines der Hauptprobleme der systematischen Entomologie.[9][11]

Einen Durchbruch im Verständnis um die Evolution der Polyneoptera waren die phylogenomische Analysen von Misof et al.[12] und Wipfler et al.[8], die konsistente und gut unterstützte Ergebnisse erzielten sowie die morphologischen Anpassungen der Gruppe diskutierten. Danach bilden die Polyneoptera eine gemeinsame Abstammungslinie mit folgenden Verwandtschaftsverhältnissen zwischen den Teilgruppen:





 Ohrwürmer (Dermaptera)


   

 Bodenläuse (Zoraptera)



   

 Steinfliegen (Plecoptera)


   

 Heuschrecken (Orthoptera)


   
  Dictyoptera  

 Schaben und Termiten (Blattodea)


   

 Fangschrecken (Mantodea)



   
  Xenonomia  

 Grillenschaben (Grylloblattodea)


   

 Gladiatoren (Mantophasmatodea)



  Eukinolabia  

 Gespenstschrecken (Phasmatodea)


   

 Tarsenspinner (Embioptera)








Nach aktuellen Datierungsanalysen begannen sich die rezenten Gruppen im Devon vor etwa 360–400 Millionen Jahren zu trennen.[13][14] Die letzte Verzweigung der Großgruppen (zwischen Mantophasmatodea und Grylloblattodea) fand im Perm vor etwa 270 Millionen Jahren und damit vor der PT-Grenze statt.

Einzelnachweise

  1. Reusch, H.; Weinzierl, A. & Enting, K. (2021): Rote Liste und Gesamtartenliste der Steinfliegen (Plecoptera) Deutschlands. – In: Ries, M.; Balzer, S.; Gruttke, H.; Haupt, H.; Hofbauer, N.; Ludwig, G. & Matzke-Hajek, G. (Red.): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands, Band 5: Wirbellose Tiere (Teil 3). – Münster (Landwirtschaftsverlag). – Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (5): 627-656
  2. Matzke, D. & Köhler, G. (2011): Rote Liste und Gesamtartenliste der Ohrwürmer (Dermaptera) Deutschlands. – In: Binot-Hafke, M.; Balzer, S.; Becker, N.; Gruttke, H.; Haupt, H.; Hofbauer, N.; Ludwig, G.; Matzke-Hajek, G. & Strauch, M. (Red.): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands, Band 3: Wirbellose Tiere (Teil 1). – Münster (Landwirtschaftsverlag). – Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (3): 629–642.
  3. Köhler, G. & Bohn, H. (2011): Rote Liste der Wildschaben und Gesamtartenliste der Schaben (Blattoptera) Deutschlands. – In: Binot-Hafke, M.; Balzer, S.; Becker, N.; Gruttke, H.; Haupt, H.; Hofbauer, N.; Ludwig, G.; Matzke-Hajek, G. & Strauch, M. (Red.): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands, Band 3: Wirbellose Tiere (Teil 1). – Münster (Landwirtschaftsverlag). – Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (3): 609–625.
  4. Horst Bohn, George William Beccaloni, Wolfgang H. O. Dorow & Manfred Alban Pfeifer (2013) Another species of European Ectobiinae travelling north - the new genus Planuncus and its relatives (Blattodea, Ectobiinae). Arthropod Systematics and Phylogeny 71(3):139-168. Link.
  5. Herbert Weidner, Udo Sellenschlo: 9. Termiten. In: Vorratsschädlinge und Hausungeziefer: Bestimmungstabellen für Mitteleuropa. 7. Auflage. Springer Verlag, 2010, ISBN 978-3-8274-2406-8.
  6. Maas, S.; Detzel, P. & Staudt, A. (2011): Rote Liste und Gesamtartenliste der Heuschrecken (Saltatoria) Deutschlands. – In: Binot-Hafke, M.; Balzer, S.; Becker, N.; Gruttke, H.; Haupt, H.; Hofbauer, N.; Ludwig, G.; Matzke-Hajek, G. & Strauch, M. (Red.): Rote Liste gefährdeter Tiere, Pflanzen und Pilze Deutschlands, Band 3: Wirbellose Tiere (Teil 1). – Münster (Landwirtschaftsverlag). – Naturschutz und Biologische Vielfalt 70 (3): 577–606.
  7. Orthoptera.ch. Heuschrecken-Plattform für die Schweiz und Europa. In: Orthoptera.ch. Orthoptera.ch GmbH, abgerufen am 25. Juli 2022.
  8. a b c d e Benjamin Wipfler, Harald Letsch, Paul B. Frandsen, Paschalia Kapli, Christoph Mayer: Evolutionary history of Polyneoptera and its implications for our understanding of early winged insects. In: Proceedings of the National Academy of Sciences. Band 116, Nr. 8, 19. Februar 2019, ISSN 0027-8424, S. 3024–3029, doi:10.1073/pnas.1817794116, PMID 30642969, PMC 6386694 (freier Volltext).
  9. a b c Rolf G. Beutel, Benjamin Wipfler, Marco Gottardo, Romano Dallai: Polyneoptera or „lower“ Neoptera – new light on old and difficult phylogenetic problems. In: Atti Accademia Nazionale Italiana di Entomologia. Bd. 61, 2013, S. 133–142.
  10. Kazunori Yoshizawa: Monophyletic Polyneoptera recovered by wing base structure. In: Systematic Entomology. 36, Nr. 3, 2011, S. 377–394, doi:10.1111/j.1365-3113.2011.00572.x.
  11. James B. Whitfield, Karl M. Kjer: Ancient Rapid Radiations of Insects: Challenges for Phylogenetic Analysis. In: Annual Review of Entomology. Band 53, Nr. 1, Januar 2008, ISSN 0066-4170, S. 449–472, doi:10.1146/annurev.ento.53.103106.093304.
  12. B. Misof, S. Liu, K. Meusemann, R. S. Peters, A. Donath: Phylogenomics resolves the timing and pattern of insect evolution. In: Science. Band 346, Nr. 6210, 7. November 2014, ISSN 0036-8075, S. 763–767, doi:10.1126/science.1257570.
  13. K. J. Tong, S. Duchene, S. Y. W. Ho, N. Lo: Comment on „Phylogenomics resolves the timing and pattern of insect evolution“. In: Science. Band 349, Nr. 6247, 31. Juli 2015, ISSN 0036-8075, S. 487–487, doi:10.1126/science.aaa5460.
  14. Dominic A. Evangelista, Benjamin Wipfler, Olivier Béthoux, Alexander Donath, Mari Fujita: An integrative phylogenomic approach illuminates the evolutionary history of cockroaches and termites (Blattodea). In: Proceedings of the Royal Society B: Biological Sciences. Band 286, Nr. 1895, 30. Januar 2019, S. 20182076, doi:10.1098/rspb.2018.2076, PMID 30963947, PMC 6364590 (freier Volltext).