Michel Erhart

Büste Vergils im Chorgestühl des Ulmer Münsters, um 1470/1474, heute überwiegend Michel Erhart zugeschrieben
Ritter am Fischkastenbrunnen in Ulm, 1482
Reliquienbüste der Hl. Maria Magdalena, Ulm, um 1475–80, Lindenholz, spätgotische Fassung mit neueren Ergänzungen; Museum Ulm

Michel Erhart, auch: Michael Erhart (* um 1440/45 vermutl. Konstanz; † nach 1522 in Ulm) war ein Bildhauer und Bildschnitzer der Spätgotik. Er hat insbesondere in Ulm und dessen Umland gewirkt und zählt daher zur Ulmer Schule. Die genauen biographischen Daten sind bislang unklar.

Leben

Über Erharts Herkommen und frühe Jahre ist nichts bekannt. Wahrscheinlich kam er nach seinen Wanderjahren, die ihn unter anderem nach Konstanz und Straßburg, vermutlich auch bis in die Niederlande führten, in die freie Reichsstadt Ulm, wo er erstmals 1469 in den Steuerlisten als „Michel, bildhower“ belegt ist.[1] Bevor er sich selbstständig machte, arbeitete er in Jörg Syrlins d. Ä. Werkstatt. Er war verheiratet mit Margarethe, der Tochter des Baumeisters Vincenz Ensinger.[2] Sie hatten zwei Söhne und zwei Töchter. Gregor († 1540?) ging nach seiner Lehre und Zusammenarbeit mit seinem Vater nach Augsburg, wo er spätestens 1496 eine eigene Werkstatt gründen konnte, nachdem er mit mit Anna Mair eine Tochter aus einer angesehenen Familie von Leinenwebern geheiratet hatte. 1531 übergab er die Werkstatt seinem Sohn Paulus Mair. Der zweite Sohn Michel Erharts, Bernhard (dok. 1515–17), wurde ebenfalls Bildhauer. Tochter Afra heiratete Adolf Dauher, einen Lehrling ihres Vaters; sie zogen bereits 1490 nach Augsburg, wo Gregor später zunächst bei ihnen wohnte. Deren Söhne, Adolf und Hans, waren auch erfolgreiche Bildhauer. Walburga schließlich verband sich 1495 mit dem Kürschner Hieronymus Fugger vom Reh (* 1475), deren Söhne Wolfgang und Matheus Goldschmied, respektive -schneider wurden.

Trotz des Erfolgs seines einflussreichen Werks und dem seiner Familie, und obwohl er in den Stadtarchiven Ulms zwischen 1469 und 1522 der am häufigsten erwähnte Bildhauer ist, betrifft die letzte ihn betreffende Notiz vom Dezember 1522 der Erhalt einer Almosenrente.[3]

Werk

Erhart arbeitete in Ulm zunächst in der Werkstatt Jörg Syrlins d. Ä. an der Chorausstattung des Ulmer Münsters mit. Syrlin nahm größere Aufträge wie Altäre an und deligierte Arbeiten an Bildhauer, bzw. -schnitzer und Maler, selber als Kistler geführt, schreinerte er das Altargehäuse oder, wie hier, das Gestühl. Sein Anteil an den Entwürfen des Figurenprogramms wurde damit zunehmend in Frage gestellt, so dass die kunsthistorische Forschung heute in der Mehrzahl von einer Autorenschaft Erharts für die meisten Wangenbüsten am Chorgestühl ausgeht.[4]

Spätestens 1474, also nach Abschluß der Arbeit für Syrlin, hatte Erhart eine eigene Werkstatt mit mehreren Assistenten und Gesellen in Ulm. Er erhielt den Auftrag, „etlich bild“ für den (heute verlorenen) Hochaltar des Ulmer Münsters zu erstellen. Am Figurenprogramm des Fischkastenbrunnens war er 1482 beteiligt, vermutlich kommen ihm die Ritter zu. Aus Augsburg bekam er 1485 von Ulrich Fugger den Auftrag für ein Altarretabel in der, von der Familie dominierten Klosterkirche St. Ulrich und Afra, für die er bis 1510 noch weitere Kommissionen erhielt. Die sogenannte Ravensburger Schutzmantelmadonna (um 1480–1490), eine Lindenholzfigur mit gut erhaltener Fassung in der Berliner Skulpturensammlung, wird ihm einhellig zugeschrieben.

Die gleiche Zustimmung teilt ein Hauptwerk der Ulmer Schule, der Hochaltar in der Benediktinerabtei Blaubeuren (siehe auch weiter unten). Es ist mit den Jahren 1493 und 1494 datiert, aber nicht signiert und es sind keine schriftlichen Belege bekannt, doch werden seine geschnitzten Figuren Erhart und seinem Sohn Gregor in unterschiedlicher Gewichtung zuerkannt.[5] Aus der gleichen Zeit stammt das Altarretabel der Abtei Weingarten (ebenfalls ein Benediktinerkloster), dessen Flügeltafeln Hans Holbein d. Ä. malte. Das einzige namentlich signierte Werk Erharts ist ein Kruzifix der St.-Michaelis-Kirche in Schwäbisch Hall von 1494.

Für die folgenden fast zwanzig Jahre sind ihm bisher kaum Werke anerkannt worden, außer zum Beispiel in Augsburg, wo auch sein Sohn Gregor eine eigene Werkstatt betrieb. Ein letzter großer Auftrag erhielt er, urkundlich belegt in den Jahren 1516 bis 1518, für eine Ölbergszene mit dreizehn Sandsteinfiguren vor dem Ulmer Münster, das allerdings nurmehr in wenigen Fragmenten erhalten ist (heute im Ulmer Museum).[6]

Künstlerisch wurde Michel Erhart durch den neuen, raumhaltigen und realistischen Stil des damals berühmten niederländischen Bildhauers Niclas Gerhaert van Leyden geprägt, dessen Werk er unter anderem in Straßburg studiert hatte, vielleicht sogar in dessen Straßburger Werkstatt arbeitete. Auch von dem Maler Rogier van der Weyden lassen sich Einflüsse erkennen.

Werkliste (Auswahl)


Der Blaubeurer Hochaltar

Blaubeurer Hochaltar, 1493

Der Blaubeurer Hochaltar, entstanden zwischen 1493 und 1494, befindet sich im Chorraum der Kirche des ehemaligen Benediktinerklosters von Blaubeuren, das zu dieser Zeit durch seine Äbte Ulrich Kundig (1456–1475) und Heinrich III. Fabri (1475–1495) reformiert und restauriert wurde. Fabri wurde 1492 Bischof, ein Jahr zuvor erst wurde mit dem Bau der Abteikirche begonnen, für die der Hochaltar bestimmt war. Michael Baxandall bezeichnet es als „das schönste erhaltene Werk aus der Ulmer Bildschnitzerschule.“[9] Es existieren keine Quellen zu dem Altar, doch wird dessen Skulpturenprogram Michel Erhart und seinem Sohn Gregor Erhart zugeschrieben, allein ihre Anteile sind strittig.[10]

Der Blaubeurer Altar ist ein Wandelaltar mit zwei aufklappbaren Flügelpaaren, bis in eine Höhe von fast zwölf Metern aufragendem Gesprenge und einer Predella. Die Außenflügel, die Außenseiten der Innenflügel und die Predellenflügel sind bemalt. Erst bei Öffnung aller Flügel kommt die plastische Ausstattung voll zur Geltung. In der Predella werden Christus und die Apostel in geschnitzten Halbfiguren dargestellt, während im Zentrum des Schreins die Mutter Gottes mit dem Kind auf dem Arm vollplastisch auf der Mondsichel steht. Rechts neben ihr stehen Johannes der Täufer und der Ordensgründer Benedikt, auf der linken Seite Johannes der Evangelist und die heilige Scholastika, die Begründerin des weiblichen Zweigs des Benediktinerordens. Der rechte Altarflügel zeigt das Relief der Geburt Christi, auf dem linken ist die Anbetung der Könige dargestellt. Im Mittelteil des Gesprenges steht Christus als Schmerzensmann, neben ihm an jeder Seite ein Engel mit den Leidenswerkzeugen. In den seitlichen Gesprengen sind Maria und Johannes und unter ihnen jeweils drei Büsten von Heiligen angebracht. Die beiden Auszugsbilder über den geöffneten Innenflügeln zeigen links den Bischof und ehemaligen Abt Heinrich Fabri und rechts die Bildnisbüste des Württemberger Grafen Eberhard im Bart.

Der Blaubeurer Altar verbindet Skulptur, Relief und Malerei miteinander und zeigt damit das Charakteristische des deutschen Schnitzaltars um 1500.[11][12][13]

In der Werkstatt seines Vaters ausgebildet, machte sich Gregor nach dieser gemeinsamen Arbeit in Augsburg selbständig, wo er wahrscheinlich 1540 starb. Andere Bildhauerarbeiten in der Klosterkirche wie das Chorgestühl stammen von Jörg Syrlin dem Jüngeren, Sohn und Nachfolger von Michel Erharts ehemaligem Meister.

Literatur

  • Wilhelm Boeck: Neues zur Michel-Erhart-Frage. In: Zeitschrift für Kunstwissenschaft 17 (1963), S. 77–88.
  • Anja Broschek: Michel Erhart. Ein Beitrag zur schwäbischen Plastik der Spätgotik (= Beiträge zur Kunstgeschichte. Band 8). De Gruyter, Berlin u. a. 1973.
  • Wolfgang Deutsch: Ein Beitrag zur Michel-Erhart-Forschung. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch Franken 59 (1975), S. 52–59.
  • Wolfgang Deutsch: Der ehemalige Hochaltar und das Chorgestühl. Zur Syrlin- und zur Bildhauerfrage. In: Hans Eugen Specker, Reinhard Wortmann (Hrsg.): 600 Jahre Ulmer Münster. Ulm 1977, S. 242–322.
  • Wolfgang Deutsch: Ein Kruzifix in Weil der Stadt und andere Werke Michel Erharts. In: Berichte und Mitteilungen Heimatverein Weil der Stadt 34 (1985), S. 2–31.
  • Michael Baxandall: Die Kunst der Bildschnitzer. Tilman Riemenschneider, Veit Stoß und ihre Zeitgenossen. C. H. Beck, München 1984, ISBN 3-406-52368-4.
  • David Gropp: Das Ulmer Chorgestühl und Jörg Syrlin der Ältere. Untersuchungen zu Architektur und Bildwerk (= Neue Forschungen zur deutschen Kunst. Band 4). Berlin 1999.
  • Barbara Maier-Lörcher: Meisterwerke Ulmer Kunst. Thorbecke-Verlag, Ostfildern 2004, ISBN 3-7995-8004-2.
  • Gertrud Otto: Der Bildhauer Michel Erhart. In: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 64 (1943), S. 17–44.
  • Gertrud Otto: Erhart, Michel. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 4, Duncker & Humblot, Berlin 1959, ISBN 3-428-00185-0, S. 583 f. (Digitalisat).
  • Brigitte Reinhardt (Hrsg.): Michel Erhart & Jörg Syrlin d. Ä. Spätgotik in Ulm. Konrad Theiss Verlag, Stuttgart 2002, ISBN 3-8062-1718-1.
  • Manuel Teget-Welz: Bemerkungen zum Skulpturenschmuck des ehemaligen Hochaltarretabels im Ulmer Münster. In: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 71 (2012), S. 169–182.
Chorbogenkruzifix von Erhart in der Basilika St. Martin in Landshut, 1495
Commons: Michel Erhart – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Baxandall 1984, S. 333.
  2. Otto 1959, bestätigt (wie Folgendes) von Anja Schneckenburger-Broschek: Erhart family. In: Oxford Art Online, 2003 (rev. 2015).
  3. Baxandall 1984, S. 333.
  4. Deutsch 1977; Baxandall 1984, S. 363; Gropp 1999 und Ausstellungskatalog 2002.
  5. Zuschreibung an Michel Erhart (lt. Baxandall 1984, S. 334) erstmals durch Gertrud Otto: Der Bildhauer Michel Erhart: Ein Vorbericht. In: Jahrbuch der Preußischen Kunstsammlungen 64 (1943), S. 17–44.
  6. Archivquellen (laut Baxandall 1984) zitiert in: Anja Broschek: Michel Erhart. Ein Bildhauer der Spätgotik, De Gruyter, Berlin 1973, S. 203.
  7. Uwe Geese: Skulpturen der Gotik in Frankreich, Italien, Deutschland und England. In: Rolf Toman (Hrsg.): Die Kunst der Gotik, Architektur – Skulptur – Malerei. Könemann, Köln 1998, ISBN 3-89508-313-5, S. 300–371, hier S. 351.
  8. Mathias Baumgartner, Bernhard Schömann, Erich Stahleder: Stifts- und Pfarrkirche St. Martin Landshut. Schnell & Steiner, Regensburg 2003. 2., aktualisierte Auflage 2010, ISBN 978-3-7954-1578-5, S. 22.
  9. Daten und Zitat bei Baxandall 1984, S. 112.
  10. Laut Baxandall 1984, S. 335 identifizierte Alfred Stange 1957 vier verschiedene Hände.
  11. Uwe Geese: Skulpturen der Gotik in Frankreich, Italien, Deutschland und England. In: Rolf Toman (Hrsg.): Die Kunst der Gotik, Architektur – Skulptur – Malerei. Könemann, Köln 1998, ISBN 3-89508-313-5, S. 300–371, hier S. 359–361.
  12. Volker Gebhardt: Schnellkurs Kunstgeschichte. Deutsche Kunst. DuMont, Köln 2002.
  13. Werner Schäfke: Schnellkurs Gotik. DuMont, Köln 2007.