Nationale Interessen

Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche ist eine Streitschrift, die Klaus von Dohnanyi im November 2021 fertigstellte und Januar 2022 im Siedler Verlag veröffentlichte. Die Publikation wurde zum Spiegel-Bestseller.[1]

Mit Unterstützung der Otto Habsburg Stiftung wurde das Buch 2022 auf Ungarisch übersetzt.[2]

Dohnanyi vertritt den Standpunkt, die deutsche und europäische Außenpolitik müsse sich stärker an den wesentlichen nationalen Interessen und an realistischen Möglichkeiten orientieren. Dabei sei zu berücksichtigen, dass die USA auch aus innenpolitischen Gründen und in der geografischen Distanz ganz andere und entgegengesetzte Interessen habe. Daher sei es nötig, sich von der USA zu emanzipieren. Europa müsse sich strategisch neu orientieren, seine eigenen Interessen erkennen und realistisch und illusionslos vertreten. Eine werteorientierte Außenpolitik mit Sanktionen sei wirkungslos. Freundschaften und Wertegemeinschaften seien weitgehend illusionär.[3] Russland und China seien potentielle Partner, die nur angesichts des Vormachtsanspruchs der USA bedrohlich erschienen.

Nach dem Überfall auf die Ukraine behielt Dohnanyi seine Auffassung zur ursächlichen Hauptschuld des Westens und Vermeidbarlkeit des Krieges bei, lehnte die Sanktionspolitik als unwirksam und selbstschädigend ab und trat für eine kompromissbereite Verhandlungslösung ein.[4] In einem Interview am 22. April 2022 äußerte er, er finde es bedrückend, dass man den Krieg nicht verhindert habe.[5]

Inhalt

Im ersten Vorwort vom Ende November 2021 fasst der Autor seine Auffassung deutscher und europäischer Interessen zusammen:

Es ist unser nationales Interesse als Deutsche und als Europäer, hier, um der Sicherheit Europas willen, auf die gefährliche Politik der USA in Asien einen mäßigenden Einfluss zu nehmen und so weit wie möglich Europa aus den amerikanischen Konflikten herauszuhalten. (S.10)

Er erwähnt seine zunehmende Desillusionierung von der politischen Entwicklung der USA.

Im zweiten Vorwort vom Januar 2022 drückt Dohnanyi seine Irritation darüber aus, dass die seiner Meinung nach bestehende Absicht, die Ukraine nicht in die NATO aufzunehmen, von Stoltenberg nicht klar kommuniziert werde. Er verbindet diese Irritation mit der Frage der Entscheidungsfähigkeit des amerikanischen Präsidenten Joe Biden.

Im ersten Kapitel Worum es jetzt geht schildert Dohnahnyi die Herausforderungen der Zeit: Corona-Pandemie, Klimakatastrophe, Cyber War, Renationalisierung der Politik, etwa beim Brexit, Migration, Afghanistan und der militärisch nicht zu gewinnende Krieg gegen den Terrorismus, der Aufstieg Chinas, der Konflikt zwischen USA, Russland und China. Die Herausforderungen für den Frieden und die Sicherheit verlangen Kooperation und einen nüchternen Blick auf die Realität und auf die Interessen der Beteiligten.

Aber die Europäische Union zeigt sich hier wie so oft nicht handlungsfähig. Wir widmen der Lösung dieser für unseren Kontinent existenziellen Frage nicht annähernd die Aufmerksamkeit, die unsere deutschen Medien täglich den innenpolitischen Entwicklungen in Russland und China angedeihen lassen, doch dort werden wir kaum Einfluss haben.(S.18/19)

Im zweiten Kapitel Deutschland und Europa zwischen den Interessen der Großmächte befasst sich Dohnanyi zunächst mit der Frage, warum die Begriffe Nation und nationales Interesse in Deutschland immer des Nationalismus verdächtigt würden, so dass anstelle dessen unklare Werte oder eine schwammige Wertegemeinschaft propagiert würden. "Gemeinsame Werte... schließen harte nationale Interessengegensätze innerhalb dieser 'Gemeinschaft' nicht aus, wie wir erfahren haben und auch zukünftig sehen werden." Schon um der Gemeinschaft willen müssten, so Dohnanyi, die Gegensätze dann offen diskutiert werden. Nüchtern bestimmte Interessenunterschiede gelte es im Interesse der Gemeinschaft zu benennen und offen zu debattieren. Das müssten "wir Deutsche allerdings, und zwar in unserem eigenen nationalen Interesse, wohl erst noch lernen." Dabei müssen die Interessen Russlands, der USA und Chinas in Rechnung gestellt und mit den deutschen und europäischen vereinbart werden. Die USA, die Dohnanyi unter anderem durch tief verwurzelten Exzeptionalismus und die gescheiterte missionarische Verbreitung der Demokratie charakterisiert, setzen nach seiner Auffassung in erster Linie seit je harte wirtschaftliche und geopolitische Machtinteressen durch, die vorgegebenen humanitäre dienen dabei in langer Tradition lediglich der Verschleierung und Verbrämung, von der man sich nicht täuschen lassen sollte.

Die USA beherrschen Europa außen- und sicherheitspolitisch, und auf dieser Grundlage ziehen sie uns in ihre Konflikte mit anderen Weltmächten hinein. So verstehen die USA heute ihre Interessen: Es sollen nach ihrem Willen heute nicht die EU oder Deutschland sein, die ihre Beziehungen zu China oder Russland nach ihren eigenen Interessen prägen, sondern es sollen die USA sein, die die weichenstellenden Entscheidungen treffen.

Dohnanyj stellt in diesem Zusammenhang die Monroe-Doktrin und die "imperialistische Grundlinie" der USA vor dem ersten Weltkrieg bis zu Trump und Biden, die immer noch den geopolitischen Strategien des britischen Geographen Halford J. Mackinder folgt, nach der, wer das sogenannte Heartland, den eurasischen Kontinent beherrsche, die ganze Welt beherrsche. Zur Durchsetzung dieser Ziele gelte das Teile-und-herrsche-Verfahren, wobei Konflikte geschürt würden, um eine beherrschende Macht auf dem eurasischen Kontinent in Gestalt eines deutsch-russischen Bündnisses zu verhindern. Dohnanyi bezieht sich auf die aktualisierte Version dieser Strategie in Zbigniew Brzezińskis Die einzige Weltmacht. Dohnanyi sieht keine Kriegsgefahr von Seiten Chinas, sondern lediglich den Wunsch nach der Sicherung von Einflusszonen im Südchinesischen Meer.

Chinas Interesse ist heute wirtschaftlicher und sozialer Aufstieg, nicht militärische Expansion. Wenn Europa die chinesischen Interessen defensiv verstehen und seine eigenen entsprechend ausrichten könnte, lägen möglicherweise viele Jahrzehnte der positiven Zusammenarbeit vor uns. Aber das wollen die USA verhindern, sie wollen die Außenpolitik der Europäischen Union gegenüber China hegemonial mitbestimmen und lenken. Sie wollen Europa als Teil einer ‚westlichen Wertegemeinschaft‘ in ihren Weltmachtkonflikt mit dem erstarkenden China hineinziehen.

Für Russland sieht Dohnanyi kein Interesse an Aggression. Entspannungspolitik bleibe daher der Auftrag auch der NATO, da es dauerhafte Sicherheit in Europa nur mit und nicht gegen Russland geben könne. Europa müsse hier auch seinen eigenen Weg gehen, solange die innenpolitische Lage in den USA und die dortige Russophobie eine Entspannungspolitik der NATO nicht erlaubten. Russisches Interesse müsse auf das gelenkt werden, was letztlich die einzig verbliebene Stärke Europas sei: eine offene Zusammenarbeit in Wissenschaft, Innovation, Technologie und Wirtschaft.

Rezensionen

Theo Sommer (Die Zeit) konstatierte am 11. Januar 2022, der Autor äußere Sentenzen, „die sich in solchem Freimut sonst kaum einer leisten würde“. Ein Grundzug des ganzen Buches sei eine amerikakritische Einstellung. Das „Antriebselement“ der „exzeptionellen Nation“ sehe er „weder in humanitärem Engagement noch im Eintreten für Demokratie, sondern im nackten Verfolgen amerikanischer Großmachtinteressen.“ Die USA strebten danach, aus innenpolitischen Gründen die Spannung mit Russland aufrechtzuerhalten und Europa in seinen Konflikt mit China hineinzuziehen. Russland sei keine militärische Gefahr, der Frieden könne durch Respektierung der Sicherheitsinteressen gesichert werden. Die Expansion der NATO nach Osten habe die Friedensordnung in Gefahr gebracht. Auch China habe keine expansiven, sondern in erster Linie wirtschaftliche und soziale Interessen.[6]

Mathias Iken (Hamburger Abendblatt, 14. Januar 2022) zieht in seiner Rezension vom Januar 2022 den Schluss, die Positionierung „abseits der Denkverbote und der verbreiteten Denkfaulheit“ mache „Nationale Interessen“ zu einem Gewinn. Als das Faszinierende des Buches sieht er die historische Grundierung der zehn Thesen Dohnanyis und seine Begegnung mit Staatsoberhäuptern.[7]

Florian Keisinger (Süddeutsche Zeitung, 16. Januar 2022) sieht in Dohnanyis Schrift eine einseitige Parteinahme gegen die amerikanische Weltpolitik, der Dohnanyi eine „gefährliche Mischung aus dem Imperialismus eines Theodore Roosevelts verknüpft mit dem Missionarismus eines Woodrow Wilson“ attestiere. Für die „chinesische Monroe-Doktrin“ im südchinesischen Meer und das Gefühl der Demütigung auf der Seite Russlands äußere er ein zu hohes Maß an Verständnis, Fehler finde er vor allem in der Außenpolitik der USA und der EU.

„Ziel deutscher und europäischer Politik müsse es ... sein, Europa endlich von seiner ‚Illusion der Freundschaft‘ mit den Vereinigten Staaten zu befreien und als souveränen Partner ‚allianzneutral‘ in der Weltpolitik zu positionieren.“

Keisinger vermisst hier den von Dohnanyi beschworenen Realitätssinn und sieht keine Chance einer Wirkung seiner Anschauungen auf die Regierungspolitik.[8] In Deutschlandfunkt Kultur stellte Nana Brink am 19. Februar 2022 die "gezielten Zumutungen" des Autors überrascht, aber ohne Kommentierung dar, dabei hob sie Dohnanyjs Einschätzungen zu China und Russland in Zitaten hervor und fasste seine Kritik an den USA zusammen. Die Pole seien für den enttäuschten Transatlantiker klar: die USA und China.

Deutschland nationales Interesse gegenüber Russland hingegen könne nur im „Wandel durch Annäherung“ gewahrt werden. Eine „wertebasierte Außenpolitik“, wie sie die Regierungskoalition verfolgt, ist für den Pragmatiker von Dohnanyi dabei eher hinderlich. „Das war noch nie erfolgreich – und das wird auch in Zukunft nicht erfolgreich sein. Wir werden nicht in der Lage sein, die Systeme zu ändern“, schreibt er als letzte Zumutung.[9]

Heinrich August Winkler stellte am 6. März 2022 im Handelsblatt dar, der Autor habe recht, dass sich nur die Mitgliedstaaten der EU auf eine unmittelbare demokratische Legitimation durch das Volk berufen können, nicht aber der Staatenverbund selbst, zumal die Forderung nach einem europäischen Bundesstaat, wie sie im Koalitionsvertrag der Ampelparteien stehe, außerhalb Deutschlands kaum Unterstützung finde. Richtig sei auch die Kritik am "technokratisch abgehobenen, historisch unsensiblen Denken und Handeln vieler professioneller Europapolitiker." Seine Plädoyer für eine neue Russlandpolitik und sein Verständnis für die angeblichen Sicherheitsinteressen Russlands wegen des vermeintlichen Vordringens der NATO laufe jedoch "auf eine modifizierte Neuauflage von Großmachtpolitik hinaus". Dohnanyj habe ein "ausgeprägt nationalkonservatives, um nicht zu sagen: deutschnationales Geschichtsbild". Historisch schief seien seine Darstellung von Yalta, der Mitschuld des britischen Imperialismus am Ersten Weltkriegs und der Weltwirtschaftskrise als Grund des Scheiterns der Weimarer Republik. Dohnanyi äußere zudem demonstratives Verständnis für Viktor Orbans in Polens Interpretation von Rechtsstaat und Demokratie, Europa sehe Dohnanyj nur durch Politik, nicht durch Recht zusammengehalten, damit erteile er der europäischen Wertegemeinschaft in aller Deutlichkeit eine Absage. Nicht Willy Brandt sei sein Zeuge, sondern eher Egon Bahr, der sich, je älter er wurde, desto stärker zu einem "linken Nationalisten" entwickelt habe.

Dohnanyi betont zu Recht, dass es legitime nationale Interessen Deutschlands gibt. Was zum Widerspruch herausfordert, ist seine Interpretation deutscher Interessen, die stark an konservative Denkmuster der Zeit vor 1933 erinnert.[10]

Victor Mauer (NZZ) rezensiert am 11. März 2022, Dohnanyj, der sich in der Rolle des Welterklärers gefalle, stelle die USA als imperialistische Macht dar lasse mit Blick auf Russland die "Trennlinie zwischen Aggressor und Opfer" verschwimmen.[11]

NDR-Interview 2022

Dohnany äußerte im Interview, er habe schon früher darauf hingewiesen, wenn die Ukraine weiterhin in die Nato getrieben werde – und das sei amerikanische Politik – dann könne es einen Krieg an den Ostgrenzen Europas geben, "da wo er jetzt auch stattfindet, nämlich an den Ostgrenzen in erster Linie der Ukraine."

Das haben amerikanische Fachleute – insbesondere der heutige Geheimdienst-Chef von Präsident Biden – ja ausdrücklich im Jahr 2019 geschrieben. Und ich finde es bedrückend, dass man es hat kommen sehen und es nicht verhindert hat.

Biden habe das Gespräch ausdrücklich verweigert, nachdem Putin hatte im Dezember 2021 an die Amerikaner geschrieben hatter, er brauche eine schriftliche Erklärung zur Ukraine. Der deutsche Aufstand, der hier notwendig gewesen wäre, habe nicht stattgefunden.[12]

Zitat

Nicht Europa zählt im Falle eines russischen Angriffs, sondern nur die Sicherheit der USA! Wir werden nicht gefragt! Die wahre Gefahr für eine völlige Zerstörung Europas beruht darauf, dass Europa in erster Linie ein geopolitisches Interesse der USA ist. Europa würde im Falle eines russischen Angriffs nach amerikanischer und NATO-Strategie zum alleinigen Kriegsschauplatz, ohne jedes direkte Risiko für das Heimatland USA. Deutschland aber wäre, als vermutlich zentrale Nachschubbasis, sofortigen Raketenangriffen ausgesetzt. Die nukleare NATO bildet heute als militärische Organisation keinerlei Garantie für Europas Unversehrtheit. (S. )

Literatur

  • Nationale Interessen. Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche. Siedler Verlag, München 2022, ISBN 978-3-8275-0154-7.
  • Nemzeti érdekek - Útmutatás a német és az európai politika számára a globális átalakulások korában. Corvina Publishing 2022, ISBN 978-9-6313-6830-7

Einzelnachweise

  1. SPIEGEL-Bestseller Hardcover | bei Bestsellerliste.de. Abgerufen am 17. August 2022 (deutsch).
  2. Zsuzsa Urbán: Klaus von Dohnanyi - „Europa ist nicht souverän“. 10. Juni 2022, abgerufen am 14. Januar 2023 (deutsch).
  3. SWR2, SWR2: Klaus v. Dohnanyi und sein neues Buch „Nationale Interessen“ – „Ich bin für mehr Realismus – und zwar überall“. Abgerufen am 17. August 2022.
  4. Florian Sädler: Klaus von Dohnanyi zum Ukraine-Krieg: „Wer das nicht versteht, hat seinen Kopf nicht auf dem Hals“. In: DIE WELT. 11. März 2022 (welt.de [abgerufen am 17. August 2022]).
  5. Klaus von Dohnanyi im NDR-Interview am 22. April
  6. ZEIT ONLINE. Abgerufen am 17. August 2022.
  7. Matthias Iken: Klaus von Dohnanyi: Eine Streitschrift – Die Macht der Geschichte. 14. Januar 2022, abgerufen am 17. August 2022 (deutsch).
  8. Süddeutsche Zeitung: Klaus von Dohnanyi, SPD, attackiert die USA in einer Streitschrift. Abgerufen am 29. August 2022.
  9. deutschlandfunkkultur.de: Klaus von Dohnanyi: "Nationale Interessen" - Gezielte Zumutungen. Abgerufen am 14. Januar 2023.
  10. Buchkritik: Dieses Buch eignet sich nicht als Agenda für die Ampel. Abgerufen am 14. Januar 2023.
  11. Victor Mauer: Klaus von Dohnanyi: Deutschland zwischen den USA und Russland. In: Neue Zürcher Zeitung. (nzz.ch [abgerufen am 14. Januar 2023]).
  12. NDR-Interview am 22. April 2022