Studien über Hysterie

Die Hysteriestudien gelten als erste Abhandlungen der klassischen Psychoanalyse und wurden von Josef Breuer und Sigmund Freud erstmals 1895 veröffentlich, später geschlossen editiert mit der Auflage von 1922. Es handelt sich um eine Sammlung von Essays, die sich zunächst mit dem älteren Begriff der Hysterie nach Paul Julius Möbius (1888) beschäftigen, aber schnell neue, vor allem ätiologische Konzepte vorstellten. Freud entwickelte im Fortgang sein eigenes Konzept, das auf der Annahme unbewußter Prozesse, einem spezifischen hysterischen Vorgang basierte und stellte eine psychotherapeutische Behandlungsmethode vor, die auf hypnotische und kathartische Elemente verzichten konnte.


Verlaufsform der Hysterie nach Breuer und Freud

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Verlaufsform

Unabhängig von der weiteren Eingrenzung des noch von Möbius sehr weit gefächtert verwendeten Begriffs (er umfaßte alles, was heute als Neurose bezeichnet wird), gehen die Studien von einer allgemeinen Verlaufsform der hysterischen Erkrankung aus. Einer Phase der Dispositionsbildung folge die Manifestierung über die Entwicklung hysterischer Traumen. Die Prognose hänge von zahlreichen Randbedingungen ab, sei in aller Regel aber ungünstig, sofern der Patient keine geeigneten Mittel finde, dem Fortgang entgegen zu wirken bzw. es zu keiner geeigneten Behandlung kommt.

  • Typischerweise werde die Erkrankung früher oder später ausgelebt, es komme zu Schüben mit erheblicher Leidensbelastung für Patient und Umfeld, im weiteren biographischen Fortgang eine allgemeine Zerrüttung der Persönlichkeit
  • Patienten mit primär starker Persönlichkeit können sich manchmal unbehandelt fangen, finden sich mit der Erkrankung ab und erreichen einen Zustand minderstarker, aber permanenter Symptombelastung, der sich einlebt und zeitlebens bestehen bleiben kann. Voraussetzung dafür sei eine wie auch immer geartete Reflexion der eigenen psychischen Beschaffenheit, ohne die der Patient diesen Zustand nicht halten würde. (künstlerische Tätigkeit, wissenschaftliche Bildung) Es wird in diesem Falle auch ein sekundärer Krankheitsgewinn gezogen.
  • Die Prognose unter Behandlung sei deutlich besser. Breuer setzt bei seiner kathartischen Methode zunächst Krankheitseinsicht nicht unbedingt voraus, erkennt aber, daß ein einsichtiges Moment über Stärkung der gesunden Persönlichkeitsanteile die weitere hysterische Entwicklung erheblich beeinflußt.
  • Freud hingegen meinte, daß die kathartische Methode zwar ein gutes Hilfsmittel sei, jedoch zu keiner dauerhaften Genesung führen könne. Eine erschöpfende Behandlung könne demnach nur über Mitwirkung des Kranken durchgeführt werden, andernfalls trete einer der beiden anderen Verlaufsformen ein.

Die Hysterie läßt allerdings Krankheitseinsicht nicht immer zu. Im sogenannten Schub ist der Patient der Reflexion und damit der Gesprächstherapie nach Freud nicht zugänglich, wohl aber der Katharsis nach Breuer. Beide Therapieformen werden deshalb heute noch, in weiter entwickelter Form, angewendet.

allgemeiner Merkmale der Hysterientwicklung nach Breuer und Freud

  • Das Bewußtsein des Hysterikers wird als funktional in mindestens zwei Bewußtseins-Zustände (primär und sekundär) gespalten beschrieben. (Es handelt sich um eine andere Spaltung als die, die heute der endogene Psychose zugeschrieben wird.)
  • Diese separaten Zustände verfolgen im Verhalten des Patienten unterschiedliche Ziele, arbeiten nur schwer zusammen und zeigen Tendenz
  • sich gegenseitig auszuschließen und
  • sich zu organisieren (systematisieren)

Hierin bestehe das Grundphänomen der Hysterie, die klinische Erscheinung sei sehr eindrücklich und in vielen Abstufungen in der Bevölkerung praktisch überall anzutreffen. In diesem Punkt waren Breuer und Freud einer Ansicht, ihre Differenzen bezogen sich vor allem auf die angezeigten Behandlungsmethoden.

Krankheitseinsicht

Ausgehend von diesem Konzept wird beschrieben, daß der Patient lediglich während des Vorherrschens des primären Bewußtseinszustandes Krankheitseinsicht entwickeln könne, da das sekundäre Bewußtsein den Zugriff auf sonst problemlos verfügbare Informationen verwehrt. Der Kranke selber bemerkt auch das Umschwenken von einem in den anderen Zustand nicht. Dies kann lediglich

  1. durch das Auge eines Beobachters oder
  2. durch Reflexion des gerade im primären Bewußtseinszustand befindlichen Patienten entdeckt werden, da dies eine logische Reflektionsfähigkeit voraussetzt.

psychodynamisch wird dies so erklärt:

  • Für die Krankheitseinsicht ist die Rekrutierung von Assoziationen aus dem primären Bewußtseinszustand notwendig.
  • Das sekundäre Bewußtsein weist hier aber eine deutliche Insuffizienz auf, ist deshalb weniger leistungsfähig und insgesammt 'zerrissen', wenngleich auch sehr produktiv.
  • Es sei deshalb ein psychischer Fremdkörper.

Der Ausschluß von im primären Bewußtsein zugänglichen Informationen während des Vorherrschens des sekundären Bewußtseins sei nach Freud topisch bedingt und erfolgt aufgrund permanent ablaufender Bewertungsmechanismen. Das sekundäre Bewußtsein ist, wie jede bewußte Regung, administrativ und kann der jeweiligen Interessenlage dienliche Assoziationen durchaus zulassen oder auch wieder ausschließen. Mit diesem Konzept begründet Freud den Ansatz der Psychodynamik, welche später konzeptionell erheblich erweitert wurde und heute als eines der Kernkonzepte aller tiefenpsychologischen Schulen gilt. Er beschrieb in der Klinik das sekundäre Bewußtsein zwar unfähig im Sinne einer nützlichen Organisation des Verhaltens, nicht jedoch im Sinne eines Selbstschutzes. Es bringe erstaunliche Gewandtheit hervor, sobald im Alltag oder während der Behandlung Vorstellungen angesprochen werden, die ihm 'gefährlich' werden können. Es wehrt sich gegen Aufklärung - und dort, wo diese Wehr nicht über affektive Mittel zu erreichen ist, verwendet es freizügig jede nur irgendwie verfügbare Quelle.

Konzepte zur Erklärung der Entstehung des sekundären Bewußtseinszustandes

Hier unterschieden Breuer und Freud folgende Stufen:

  1. Während der frühen Anamnese werde unter dem Einfluß von Traumen und Partialtraumen eine hysterische Disposition entwickelt, ohne die keine psychopathologisches Bild entstehen könne. (Der 'hysterische Vorgang' selbst wurde aber als allgemein in der Bevölkerung verbreitet angesehen.)
  2. In späteren Lebensabschnitten komme es zur Entwicklung zahlreicher kleinerer Vorstellungen, die aktualgenetisch Teile des Bewußtseins in einen Zustand überleiten, der einer artifiziellen Hypnose ähnlich ist. (hypnoider Zustand)
  3. Da diese Vorstellungen untereinander gut assoziierbar, mit dem übrigen assoziativen Umfeld aber logisch unvereinbar sind, neigen sie zu einer Abgrenzung und organisieren sich unter einander in einer Weise, die nicht auf Logik und Realismus angewiesen ist.
  4. Sie zerfließen im Laufe der Zeit ineinander und bilden einen m.o.w. einheitlichen hypnoiden Zustand, auf dem sich das sekundäre Bewußtsein entwickelt und erhebliche Komplexität erreichen kann.

condition seconde

Die Person könne sich mal in diesem, mal in jenem Bewußtseinszustand befinden. Das Vorherrschen des sekundären Bewußtseinszustandes wurde condition seconde genannt. Der Hysteriker sei hier eingeschränkt leistungsfähig, aber mitunter sehr produktiv.

Darunter fallen:

  • Phasen starker Symptombelastung
  • Absenzen
  • Ausrastungen, Wutanfälle

siehe auch

Quellen