Rechtschreibfrieden

Rechtschreibfrieden ist ein sprachpolitisches Schlagwort aus dem Bereich der Sprachkritik und Sprachpolitik, das sich seit 1998 im Lauf der öffentlichen Diskussion über die Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 nicht nur in der Fachliteratur, sondern auch im Wortschatz der Politik und der Medien eingebürgert hat.

Zum Begriff

Der Begriff „Rechtschreibfrieden“ wird sowohl in der Sprachpflege von Sprachvereinen als auch in der Politik von den Kultusministern vor allem von der Kultusministerkonferenz (KMK) als Friedensaufruf gebraucht.

Mit „Rechtschreibfrieden“ wird der Wunsch nach einer Beendigung des jahrelangen Streits um die Reform der deutschen Rechtschreibung von 1996 bezeichnet. Mit der neuerlichen Reform der Schulorthographie zum 1. August 2006 sah die Kultusministerkonferenz den Rechtschreibfrieden wiederhergestellt. Das Wort wurde daraufhin von der Gesellschaft für deutsche Sprache zu einem Wort des Jahres bestimmt. [1]

Der Begriff „Rechtschreibfrieden“ ist aus den Wörtern Rechtschreibung und Frieden zusammengesetzt. Das Wort „Rechtschreibfrieden“ setzt den Begriff „Rechtschreibkrieg“ voraus, von dem schon vorher in der Politik und in der Presse u.a. auch als „Rechtschreibstreit“, „Kampf gegen die Rechtschreibreform“, „Glaubenskrieg um die richtige Rechtschreibung“ oder „Kreuzzug gegen die Rechtschreibreform“ die Rede war.

Der Begriff „Rechtschreibfrieden“ erinnert einerseits an den alten Tugendbegriff der Friedfertigkeit, der in der Philosophie, Ethik, Pädagogik und Politik eine Rolle spielt und schon in der Bergpredigt zu finden ist. Andererseits nimmt der Begriff „Rechtschreibfrieden“ bezug auf die Einführung der Rechtschreibreform von 1996 und den dadurch ausgelösten Unfrieden, einen „Rechtschreibkrieg“ in Gestalt von Volksinitiativen, Volksbegehren bis hin zu einem Volksentscheid in Deutschland sowie Verwaltungsgerichtsverfahren bis zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 14. Juli 1998.

Der „Rechtschreibfrieden“ als eines der Wörter des Jahres 2006

Bei der Wahl des „Wortes des Jahres 2006“ wählte die Jury der Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) das Wort „Rechtschreibfrieden“ auf den vierten Platz. Die Jury kommentierte ihre Wahl: „Der Rechtschreibfrieden auf Platz 4 brachte nach jahrelangem Streit ein vorläufiges Ende heftiger Debatten um die neue deutsche Orthografie.“ Die GfdS wählt Wörter und Ausdrücke aus, die die öffentliche Diskussion des betreffenden Jahres besonders bestimmt haben, die für wichtige Themen stehen oder sonst als charakteristisch erscheinen. Es geht dabei nicht um Worthäufigkeiten.

Schon 1995 hatte die Jury der GfdS das Wort „Rechtschreibreform“ auf den zehnten Platz gewählt, 1996 auf den sechsten Platz. 1997 belegte „Reformstau“ den ersten Platz gefolgt von Bildungsmisere auf dem dritten Platz, 2002 folgte PISA-Schock auf dem zweiten Platz. 2003 arbeitete sich der „Reformstreit“ auf den dritten Platz vor. 2004 folgte auf dem dritten Platz die „Pisa-gebeutelte Nation“. [2]

Zur Geschichte des Wortes „Rechtschreibfrieden“

Die Entstehung des Wortes „Rechtschreibfrieden“ hängt eng mit der Rechtschreibreform zusammen. Das Wort „Rechtschreibfrieden“ wurde im Januar 1998 von dem Rechtschreibreformer Horst Haider Munske geprägt, der zuvor Mitglied der Zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung war. Munske war im September 1997 unter Protest aus dieser Kommission ausgetreten, weil er die Mängel des Regelwerks erkannte hatte. Munske kritisierte: „Die jüngsten auf einer Anhörung der Mannheimer Rechtschreibkommission vorgestellten Korrekturvorschläge zeigen das ausweglose Dilemma dieser Reform. Deshalb muß nachgeforscht werden, wo die Fehler lagen, auch um zu erklären, warum der Streit noch immer so heftig ist und um zu zeigen, wie der Rechtschreibfriede wiederhergestellt werden kann. Ein passendes Motto zu dem Thema gab Goethe in seinen Maximen und Reflexionen: „Wer das erste Knopfloch verfehlt, kommt mit dem Zuknöpfen nicht zurande.“ [3]

Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung (DASD) griff das Schlagwort „Rechtschreibfrieden“ auf und verbreitete es seitdem. Im März 1999 veröffentlichte die Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung einen „Vorschlag zur Neuregelung der Orthographie“. Theodor Ickler schrieb dazu u.a.: „Seltsamerweise schlägt die Akademie dann aber vor, „im Interesse einer Beilegung des Streites, zugunsten einer Wiederherstellung des Rechtschreibfriedens just diese Änderung zu übernehmen! Wie kann man hoffen, daß gerade dies den Frieden wiederherstellt? Sollen die Reformgegner gerade hier in die Knie gehen, wo es außerdem auch nach Ansicht der Akademie überhaupt keinen Änderungsbedarf gibt, denn die „Ersetzung des ß nach Kurzvokalbuchstaben durch ss ist weder systematisch geboten noch ist sie unproblematisch. [...]“ [4]

Seitdem taucht der Begriff „Rechtschreibfrieden“ immer wieder in den Stellungnahmen der DASD auf.

Der bekannteste Kritiker der Rechtschreibreform Theodor Ickler schrieb 2000: „Die vollständige Rücknahme der Rechtschreibreform sei leicht möglich. „Nur auf diese Weise lässt sich auch der „Rechtschreibfriede“ wiederherstellen.“ [5].

In seiner Erklärung, warum er den Rat für deutsche Rechtschreibung verlasse, schreibt Ickler: „Altreformer Sitta schließt mit der Bemerkung, daß auf dem nun eingeschlagenen Weg der Rechtschreibfriede nicht wiederhergestellt werden könne. Ich erinnere daran, daß Rechtschreibfriede herrschte, bevor die Reform ihn im Jahre 1996 zerstörte. [. . .] Warum treten wir das Ganze nicht wirklich in den Müll [. . .] und vergessen es so schnell wie möglich? [. . .] Als ich feststelle, daß wir keine Schulorthographie, sondern eine Orthographie für Qualitätstexte zu machen hätten, höhnen einige Mitglieder gleich wieder [. . .].“ [6]

Der „Rechtschreibfrieden“ im Jahr 2006

Im jahrelangen Streit um die Rechtschreibreform erhoffen sich die Kultusminister durch eine Fülle von Korrekturen nun einen neuen „deutschen Rechtschreibfrieden“. Dies erklärte die Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK), Ute Erdsiek-Rave (SPD/Schleswig-Holstein), bei der Entgegennahme der vom Rat für deutsche Rechtschreibung erstellten Änderungsempfehlungen.

Die Deutsche Presse-Agentur meldete Ende Juli 2006:

„26.07. Hoffen auf den Rechtschreibfrieden - Politik will sich heraushalten

„Berlin (dpa) - Zehn Jahre lang ging es mit der deutschen Sprache drunter und drüber: Ob groß oder klein, zusammen oder getrennt - die Politik hatte 1996 mit der großen Rechtschreibreform ein Wirrwarr ausgelöst, das Schüler, Lehrer, Dichter und Denker nachhaltig verunsicherte. Nun werden zum 1. August in Schulen und Behörden wieder bundesweit einheitliche Regelungen eingeführt. Die „Reform der Reform“ soll den lange ersehnten Rechtschreibfrieden wiederherstellen. Und die Politik gibt sich geläutert und verspricht, sich künftig aus dem leidigen Thema herauszuhalten. „Die jetzt gefundenen Regelungen sind eine gute Basis für einen Rechtschreibfrieden. Da sie nicht nur von der Politik, sondern auch von einer breiten Mehrheit der Fachleute unterstützt werden, hoffe ich sehr, dass die Akzeptanz auch außerhalb der Schulen weiter wachsen wird“, sagt die Vorsitzende der Kultusministerkonferenz (KMK) der Länder, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin Ute Erdsiek-Rave (SPD). Die Ministerpräsidenten der 16 Länder hatten Ende März einstimmig die Korrekturen beschlossen, die vom Rat für deutsche Rechtschreibung empfohlen worden waren. [...]“ [7]

Ekkehard Kohrs im General-Anzeiger, Bonn: „Die so genannte große Rechtschreibreform ist gescheitert, heute tritt die Reform der Reform in Kraft. Dann besteht die Chance, dass in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz wieder eine einheitliche Schreibweise entsteht, was dem Rechtschreibfrieden dient.“ [8]


Literatur

  • Hans Krieger: Zehetmairs Mut und Chance. Der Ex-Kultusminister soll den Rechtschreib-Frieden stiften. In: Bayerische Staatszeitung Ausgabe 50 vom Freitag, 10. Dezember 2004
  • Christian Bommarius: Frieden ist möglich. Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung stellt ihren Kompromissvorschlag im Streit um die Rechtschreibreform vor. In: Berliner Zeitung vom 30. August 2004, auch online
  • Horst Haider Munske: Über die künftige Pflege der deutschen Rechtschreibung. In: Peter Eisenberg (Hrsg.): Niemand hat das letzte Wort. Sprache, Schrift, Orthographie. Göttingen: Wallstein, 2006, 121 S., ISBN 978-3-8353-0059-0 (Valerio 3/2006, Publikation der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.), S. 100-109

Quellen

  1. Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS): Pressemitteilung: Wörter des Jahres 2006, PDF
  2. Wörter des Jahres von 1971-2005. Gesellschaft für deutsche Sprache
  3. Horst Haider Munske: Verfehlte Kulturpolitik - Rechtschreibreform: Wird die deutsche Sprache den Stempel der Europa-Untauglichkeit erhalten? In: Kunst + Kultur vom 23. Januar 1998
  4. Theodor Ickler: Regelungsgewalt. Hintergründe der Rechtschreibreform, St. Goar: Leibniz, 2001, 312 S., Seite 98
  5. Professor Dr. Theodor Ickler, Spardorf:Allgegenwärtige „alte“ Rechtschreibung. In: FAZ vom 29. Juli 2000
  6. Theodor Ickler: Ja, da kann man nur noch gehen. Warum ich den Rat für deutsche Rechtschreibung verlasse: Chronik eines fortlaufenden Schwachsinns. Frankfurter Allgemeine Zeitung Nr. 48 vom 25. Februar 2006, S. 37
  7. Hoffen auf den Rechtschreibfrieden - Politik will sich heraushalten, News-Sonderthema: Die umstrittene Rechtschreibreform, Änderungen im Detail, Hintergründe, Chronologie der Ereignisse und aktuelle Informationen zur Gesetzänderung zum 1. August 2006 vom 26.07.2006, Haus der Literatur, Das freie Portal für Autoren, Brentano-Gesellschaft Frankfurt/M. mbH Anmerkung: Es heißt widersprüchlich, die „Politik will sich heraushalten“, andererseits ist von einer „Gesetzänderung“ die Rede. Das ist eine Presseente; denn es gibt kein Rechtschreibgesetz.
  8. Ekkehard Kohrs: Reform der Reform. In: General-Anzeiger Bonn, Ausgabe vom 1. August 2006