Jan Philipp Reemtsma
![](https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/d/d3/2014-g%C3%B6ttingen-historikertag_087.jpg/220px-2014-g%C3%B6ttingen-historikertag_087.jpg)
Jan Philipp Reemtsma (* 26. November 1952 in Bonn) ist ein deutscher Germanist, Essayist, politischer Publizist und Mäzen und lehrt als Honorarprofessor Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Außerdem ist er Inaugurator und Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung, Stifter des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS) sowie der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Die Bandbreite seines umfangreichen Werkes reicht von der Literaturwissenschaft bis zur sozialwissenschaftlichen Gewaltanalyse. Reemtsma ist Träger zahlreicher Auszeichnungen. Seit 2012 ist er als Honorarkonsul der Republik Slowenien für Hamburg und Schleswig-Holstein tätig. Seit 2013 ist er auch Mitglied im Wissenschaftsrat.
Leben und Wirken
Jan Philipp Reemtsma ist der Sohn des Unternehmers Philipp Fürchtegott Reemtsma. Er studierte Germanistik und Philosophie in Hamburg. Nach Erreichen des 26. Lebensjahres durfte er laut Testament über sein Erbe verfügen. Seine Anteile an der Reemtsma Cigarettenfabriken GmbH verkaufte er sogleich. Seit 1980 hat Reemtsma demnach keine Verbindungen mehr zur Firma. Mit einem Vermögen von 700 Millionen Euro zählt ihn das Manager Magazin zu den 150 reichsten Deutschen. Er widmet sich der Literatur und Wissenschaft und ist ein bedeutender Mäzen für kulturelle, wissenschaftliche und politische Initiativen.
Um dem herzkranken Dichter Arno Schmidt Unabhängigkeit zu gewährleisten, bot Reemtsma ihm 1977 den damaligen Wert eines Nobelpreises in Höhe von 350.000 DM als Unterstützung an. Zwei Jahre nach dessen Tod ermöglichte er 1981 die Gründung der „Arno Schmidt Stiftung“, deren alleiniger Vorstand er seit 1983 ist. Er ist zudem Mitherausgeber der „Bargfelder Ausgabe“ des Gesamtwerks von Arno Schmidt und zahlreicher Werkausgaben Christoph Martin Wielands. In öffentlichen Lesungen trägt er seither aus deren Werken vor.
1984 gründete er das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS), das er von 1990 bis 2015 leitete. Dieses Institut hat etwa 60 Mitarbeiter, gibt die Zeitschrift Mittelweg 36 heraus und finanziert sich aus dem Stiftungsvermögen. In der breiten Öffentlichkeit wurde es vor allem durch zwei kontrovers diskutierte Wehrmachtsausstellungen bekannt, die die Verbrechen der Wehrmacht in der Sowjetunion und auf dem Balkan zum Gegenstand hatten. Der polnische Historiker Bogdan Musiał und der ungarische Historiker Krisztián Ungváry wiesen Fehler bei der Zuordnung mehrerer Fotos nach, die bei der ersten Wehrmachtsausstellung (1995–1999) zu sehen waren. Das Institut kam durch gegen Musiał und andere angestrengte Prozesse in den Verdacht, Kritiker mundtot machen zu wollen.[1] Die Ausstellung wurde nach dem Nachweis, dass etwa 20 der mehr als 1400 Fotos nicht Verbrechen der Wehrmacht, sondern Opfer anderer zeigten, im November 1999 zurückgezogen und neu konzipiert.[2] Die zweite Wehrmachtsausstellung fand in den Jahren 2001 bis 2004 statt. 2006 erschien Michael Verhoevens Dokumentarfilm Der unbekannte Soldat über die Reaktionen zur Wehrmachtsausstellung.[3]
Desgleichen gründete er 1984 die Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur und förderte als ihr Vorstand zahlreiche Editionen, unter anderem von Theodor W. Adorno, Jean Améry und Walter Benjamin. 1986 finanzierte er die Hamburger Stiftung für politisch Verfolgte.
Vom 25. März bis zum 26. April 1996 war er Opfer der so genannten Reemtsma-Entführung. Seine Verschleppung, Gefangenschaft und Befreiung hat er im Buch Im Keller geschildert und reflektiert. Es gelang ihm danach, den Entführer durch von ihm beauftragte Ermittler in Südamerika ausfindig zu machen und so der Strafjustiz zu übergeben.
![](https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/3/3a/2014-g%C3%B6ttingen-historikertag_077.jpg/220px-2014-g%C3%B6ttingen-historikertag_077.jpg)
Reemtsma ist Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Hamburg. Im Jahr 1999 hatte er die Mercator-Professur an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg (heute: Universität Duisburg-Essen) inne.
Für Jürgen Habermas hielt er 2001 anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels die Laudatio, desgleichen am 25. Oktober 2003 die Laudatio für Alexander Kluge anlässlich der Darmstädter Verleihung des Georg-Büchner-Preises an diesen.
Jan Philipp Reemtsma war maßgeblich an der Wiederherstellung von Wielands bei Weimar gelegenem und lange vernachlässigtem Gut Oßmannstedt beteiligt, das am 25. Juni 2005 als Museum und Forschungsdomizil neu eröffnet wurde.
Von 2003 bis 2006 war er Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung in Darmstadt.
Seit dem 9. Februar 2009 ist Jan Philipp Reemtsma Inhaber der Schillerprofessur an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.[4] Er ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.
Auszeichnungen
- 1997 Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg
- 1999 Ehrendoktor der Universität Konstanz (Fachbereich Geschichte und Soziologie)
- 2001 Nicolas-Born-Preis des Landes Niedersachsen
- 2002 Leibniz-Medaille der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften
- 2003 Heinz-Galinski-Preis der Heinz-Galinski-Stiftung
- 2005 Julius-Campe-Preis der Kritik
- 2007 Ehrendoktor der Universität Magdeburg
- 2007 Teddy Kollek Prize der Jerusalem Foundation
- 2008 Ferdinand-Tönnies-Medaille der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als erster Träger dieser Auszeichnung[5]
- 2008 Johannes Gutenberg-Stiftungsprofessur an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
- 2008 Verleihung der Ehrenbürgerschaft der Gemeinde Oßmannstedt, in der Christoph Martin Wieland von 1798–1803 lebte
- 2010 Verleihung des Preises für hervorragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie auf dem 35. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Frankfurt am Main
- 2010 Preis für Verständigung und Toleranz des Jüdischen Museums Berlin
- 2010 Schillerpreis der Stadt Mannheim
- 2011 Schader-Preis[6]
Nach hanseatischer Tradition lehnte Reemtsma die Annahme des ihm verliehenen Bundesverdienstkreuzes ab.
Werke
- Das Hexameron von Harwich – Ein britisches Fragment. CMZ-Verlag, Rheinbach-Merzbach 1992, ISBN 3-87062-040-4
- u.a. Falun. Reden & Aufsätze. Edition Tiamat, Berlin 1992, ISBN 3-923118-03-1
- Das Buch vom Ich. Christoph Martin Wielands „Aristipp und einige seiner Zeitgenossen“. Haffmans, Zürich 1993
- Mehr als ein Champion. Über den Stil des Boxers Muhammad Ali. Klett-Cotta, Stuttgart 1995
- Der Vorgang des Ertaubens nach dem Urknall. 10 Reden und Aufsätze. Haffmans, Zürich 1995
- Im Keller. Hamburger Edition, Hamburg 1997, ISBN 3-930908-29-8
- Mord am Strand. Allianzen von Zivilisation und Barbarei. Aufsätze und Reden. Hamburger Edition HIS, Hamburg 1998, ISBN 3-930908-34-4
- Der Liebe Maskentanz. Aufsätze zum Werk Christoph Martin Wielands. Haffmans, Zürich 1999
- Stimmen aus dem vorigen Jahrhundert. Hörbilder. Klett-Cotta, Stuttgart 2000, ISBN 3-608-93230-5
- „Wie hätte ich mich verhalten?“ und andere nicht nur deutsche Fragen. Reden und Aufsätze. Beck, München 2001, ISBN 3-406-47398-9
- Verbrechensopfer. Gesetz und Gerechtigkeit (mit Winfried Hassemer). Beck, München 2002, ISBN 3-406-49565-6
- Die Gewalt spricht nicht. Drei Reden, Reclam (UB 18192), Stuttgart 2002, ISBN 3-15-018192-5
- Warum Hagen Jung-Ortlieb erschlug. Unzeitgemäßes über Krieg und Tod. Beck, München 2003, ISBN 3-406-49427-7
- Das unaufhebbare Nichtbescheidwissen der Mehrheit. Sechs Reden über Literatur und Kunst. Beck, München 2005, ISBN 3-406-53724-3
- Folter im Rechtsstaat? Hamburger Edition HIS, Hamburg 2005, ISBN 3-936096-55-4
- Rudi Dutschke, Andreas Baader und die RAF (mit Wolfgang Kraushaar und Karin Wieland). Hamburger Edition HIS, Hamburg 2005, ISBN 3-936096-54-6
- Über Arno Schmidt. Vermessungen eines poetischen Terrains. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 978-3-518-41762-1
- Gebt der Erinnerung Namen. Zwei Reden (mit Saul Friedländer). Beck, München 2007, ISBN 978-3-406-42108-2
- Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne. Hamburger Edition HIS, Hamburg 2008, ISBN 978-3-936096-89-7
- Schriften zur Literatur. Gesamtwerk. Beck, München 2015, ISBN 978-3-406-68330-5
Artikel in Zeitungen
- Die Skala des Scheußlichen ist nach unten offen. Ein Gespräch über Gewalt im 20. Jahrhundert und die Verbrechen der Wehrmacht. In: Frankfurter Rundschau, 14. April 1997.
- Die wenig scharf gezogene Grenze zwischen Normalität und Verbrechen. Rede zur Eröffnung der Wehrmachtsausstellung in der Frankfurter Paulskirche. In: Frankfurter Rundschau, 15. April 1997.
- Nathan schweigt. Die Dankrede zum Lessing-Preis. In: Die Zeit, 28. November 1997.
- Worüber zu reden ist. Entgegnung auf Dohnanyi. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26. November 1998.
- Die einzige Lösung. Erträglich wird das Votum für das Holocaust-Mahnmal nur, wenn die Zwangsarbeiter entschädigt und die Gedenkstätten gesichert werden. In: Die Zeit, 17. Juni 1999.
- Komet. Ach, ihr Glücklichen um mich her. Zum 175. Todestag von Jean Paul. In: Frankfurter Rundschau, 11. November 2000.
- Die Fälle Jürgen W. Möllemann und Martin Walser: Die Elite und der Mob. In: Frankfurter Rundschau, 1. Juni 2002.
- Was sind eigentlich Opferinteressen? In: Rechtsmedizin 2005, S. 86–91.
- zeit.de 14. März 2007: Lust an Gewalt. - Die RAF fasziniert noch heute. Viele glauben, sie habe aus politischen Motiven gehandelt. Das ist ein Irrtum. Tatsächlich waren ihre Taten von Größenwahn und Machtgier geprägt.
Herausgeberschaften
- mit Bernd Rauschenbach: „Wu Hi?“. Arno Schmidt in Görlitz Lauban Greiffenberg. Edition der Arno Schmidt Stiftung im Haffmans Verlag, Zürich 1986, ISBN 3-251-00029-2
- mit Mauro Basaure und Rasmus Willig: Erneuerung der Kritik. Axel Honneth im Gespräch. Campus, Frankfurt a.M. (u.a.) 2009, ISBN 978-3-593388-59-5
Literatur
- Axel Honneth: „Nach Weltuntergang“. Zur Sozialtheorie von Jan Philipp Reemtsma. In: Ulrich Bielefeld, Heinz Bude, Bernd Greiner (Hrsg.): Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag. Hamburger Edition, Hamburg 2012, ISBN 978-3-86854-255-4 (mit Verzeichnis der Schriften und Auszeichnungen Jan Philipp Reemtsmas), S. 246–266.
- Fritz J. Raddatz: Das Mündel will Vormund sein, in: Die Zeit, 13. April 1984, Nr. 16, S. 41 f., online-Artikel
- Tom Schimmeck: Zögling und Erbe, in: TransAtlantik 1/1985 (Sonderheft Reichtum), S. 44–49, online-Artikel
Weblinks
Allgemein
- Literatur von und über Jan Philipp Reemtsma im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Hamburger Institut für Sozialforschung
- Jan Philipp Reemtsma in: Krimpedia
- Studie, die sich kritisch mit Reemtsmas Forschungsbeitrag zum Werk des Hamburger Schriftstellers Hans Henny Jahnn auseinandersetzt
Interviews, Aufsätze und Vorträge
- Die Dankrede zum Lessing-Preis aus: Die Zeit von 1997
- Es ist nie zu Ende Ein ZEIT-Gespräch mit Ulrike Jureit, Jan Philipp Reemtsma und Norbert Frei über die Ausstellung „Verbrechen der Wehrmacht“, aus: Die Zeit vom 22. Januar 2004
- „Auch Arno Schmidt empfand das als Piraterie“. Jan Philipp Reemtsma über das Problem von Raubdrucken, den Fall Schmidt, den Fall Adorno – und über Geld und Neid. Interview Jan Feddersen, aus: taz vom 4. März 2004
- „Muss man Religiosität respektieren? Über Glaubensfragen und den Stolz einer säkularen Gesellschaft.“ Artikel von Jan Philipp Reemtsma in Le Monde diplomatique vom 12. August 2005
- Christen und wir Gedanken zu (neuen Büchern von) Ratzinger, Habermas, Wieland, Lessing und zur Achtung vor Religiosität, Dezember 2005
- Atheist? Allerdings! Reemtsma im Gespräch mit der Zeitschrift Diesseits über seinen Atheismus, vom 23. August 2006
- Jan Philipp Reemtsma im Gespräch mit Jürgen Wiebicke über Vertrauen und Gewalt.Podcast Das Philosophische Radio, 24. Juli 2009, 20.05 Uhr, WDR 5.
- Gewalt und Vertrauen. Grundzüge einer Theorie der Gewalt in der Moderne Vortrag im Rahmen der Reihe Wozu Glaube? Vorträge und Diskussionen zur Aktualität des Glaubens, Januar–Mai 2013, im Haus der Patriotischen Gesellschaft. Eine Veranstaltungsreihe der Evangelischen Akademie der Nordkirche in Zusammenarbeit mit der Patriotischen Gesellschaft von 1765. 23. Mai 2013, (Abruf am 13. Dezember 2014).
Anmerkungen
- ↑ J. Ph. Reemtsma: Zwei Ausstellungen – Eine Bilanz
- ↑ Vgl. dazu den Bericht der untersuchenden Historikerkommission. (PDF; 370 kB)
- ↑ Der unbekannte Soldat (2006) Trailer auf YouTube (1:13 Min.)
- ↑ Prof. Dr. Dr. hc. Jan Philipp Reemtsma. Abgerufen am 30. Mai 2015.
- ↑ Erste Verleihung der Ferdinand-Tönnies-Medaille der Christian-Albrechts-Universität, in: Christiana Albertina, H. 66, 2008, S. 38–48. Laudator war Lars Clausen.
- ↑ Schader-Preis 2011 an Jan Philipp Reemtsma, in: Informationsdienst Wissenschaft vom 26. Januar 2011, abgerufen am 27. Januar 2011
Personendaten | |
---|---|
NAME | Reemtsma, Jan Philipp |
ALTERNATIVNAMEN | Reemtsma, Jan Philipp Fürchtegott |
KURZBESCHREIBUNG | deutscher Literaturwissenschaftler, Vorstand des Hamburger Instituts für Sozialforschung |
GEBURTSDATUM | 26. November 1952 |
GEBURTSORT | Hamburg |