Actio libera in causa

Die actio libera in causa (Abkürzung a.l.i.c., lat. wörtlich für: freie Handlung in der Ursache) ist ein durch Rechtswissenschaft, Rechtsprechung und Gewohnheitsrecht geschaffenes Rechtsinstitut im Rahmen der strafrechtlichen Schuldzuweisung.

Die zugrundeliegenden Formen sind actiones vel omissiones liberae in causa sive ad libertatem relatae – Handlungen oder Unterlassungen, deren Ursache frei gesetzt wurde oder die auf Freiheit zurückgeführt werden können – beziehungsweise auch[1] actio libera in causa, sed non libera in actu – Handlungen, bei deren Verursachung (in causa) der Täter noch freiverantwortlich handelte, nicht mehr aber bei der (späteren) Ausführung selbst (in actu).

Deutsches Recht

Nach § 20 StGB handelt ohne Schuld, wer bei Begehung der Tat wegen einer krankhaften seelischen Störung, wegen einer tiefgreifenden Bewusstseinsstörung oder wegen Schwachsinns oder einer schweren anderen seelischen Abartigkeit unfähig ist, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln. Aufgrund des dem Strafrecht zugrunde liegenden Schuldprinzips können Täter, die schuldlos handelten, nicht bestraft werden.

Zweck der a.l.i.c.

Die a.l.i.c. behandelt den Fall, in dem sich der Täter vor Begehung der Tat vorsätzlich in einen Zustand der Schuldunfähigkeit nach § 20 StGB versetzt hat (etwa durch die Herbeiführung eines Vollrausches), um in diesem Zustand die Tat ohne Schuld und ohne Bestrafung begehen zu können (sog. vorsätzliche a.l.i.c.). Ebenso werden in diesem Zusammenhang die Fälle diskutiert, in denen der Täter schon beim Berauschen den später in schuldunfähigem Zustand herbeigeführten Erfolg hätte voraussehen können und müssen (sog. fahrlässige a.l.i.c.). In beiden Fällen tritt die Rechtsfigur der a.l.i.c. dazwischen und schaltet § 20 StGB aus. Die Begründung für diese Rechtsfigur ist allerdings umstritten.

Voraussetzungen der a.l.i.c.

Das Vorliegen einer „actio libera in causa“ wird an bestimmte und allgemein anerkannte Voraussetzungen geknüpft:

  1. Ein Sichversetzen in die Schuldunfähigkeit.
  2. Begehung einer tatbestandsmäßigen und rechtswidrigen Straftat im Zustand der Schuldunfähigkeit.
  3. Der Täter muss Vorsatz bzgl. 1. und 2. gehabt haben. Der Vorsatz muss schon im Zustand der Schuldfähigkeit gegeben gewesen sein.

a.l.i.c. grundgesetzwidrig?

Ein Teil der deutschen rechtswissenschaftlichen Literatur hält die Rechtsfigur für verfassungswidrig, da sie dem grundrechtsgleichen Recht aus Art. 103 Abs. 2 GG widerspreche. Nach dem Koinzidenzprinzip müssten der Zeitpunkt von Tat und Schuld derselbe sein. Dies sei in den Fällen, in denen die a.l.i.c. eingreift, jedoch nicht der Fall. Da eine solche Ausnahme nicht im Strafgesetz fixiert sei, widerspreche die a.l.i.c. dem Grundsatz „keine Strafe ohne Gesetz“ (nulla poena sine lege). Eine Bestrafung komme in einem solchen Fall nur nach dem Tatbestand des Vollrausches gemäß § 323a StGB (§ 287 öStGB) in Betracht, bei dem die Strafandrohung jedoch recht gering angesetzt ist.

Ausnahmetheorie

Nach der in der Rechtslehre weit verbreiteten Ausnahmetheorie gilt aufgrund des rechtsmissbräuchlichen Verhaltens des Täters bei dem Versuch der unbilligen Ausnutzung eines Verfassungsrechts das Koinzidenzprinzip nicht. Diese Lösung hält jedoch ihr Begründer Joachim Hruschka inzwischen selbst für verfassungswidrig.

Tatbestandsmodell

Bei der häufig vertretenen Tatbestandslösung wird die Tat i.S.d. § 20 StGB weiter verstanden und umfasst auch ein schuldrelevantes, auf die Tatbestandsverwirklichung, gerichtetes Vorverhalten, welches zur Schuldunfähigkeit führt (etwa des sich betrinkens). Durch die Erweiterung des Begriffs der Tat gelingt diesem Modell je nach Deliktsnatur eine auch mit Art. 103 Abs. 2 GG in Einklang zu bringende Lösung. Allerdings ist sie nicht mit dem Koinzidenzprinzip vereinbar, wonach Tatbestandsverwirklichung, Rechtswidrigkeit und Schuld bei der Tatbegehung auch wirklich gemeinsam vorliegen müssen.

Vorverlagerungstheorie

Nach der Vorverlagerungstheorie wird der Beginn der Tat auf den Zeitpunkt des Sich-Berauschens vorverlagert. Aufgrund dieses Kunstgriffes bleibt das Koinzidenzprinzip gewahrt, weil Zeitpunkt der Tat dann bereits der des Sich-Berauschens ist. Dies ist sehr zweifelhaft und führt zu Widersprüchen mit den Grundsätzen zur Bestimmung des Versuchsbeginns bzw. des unmittelbaren Ansetzens zur Tat (§ 22 StGB). Versuchsbeginn ist dann nämlich bereits das Sich-Berauschen. Folglich ist die Schwelle zur Strafbarkeit bereits mit diesem – an sich nicht strafbewehrten – Verhalten überschritten, mit der Folge, dass beispielsweise das bloße Sich-Betrinken bis zur Schuldunfähigkeit, um in diesem Zustand einen Mord zu begehen, ohne jeden Ansatz zur Tötungshandlung bereits einen versuchten Mord darstellt. Aufgrund dessen wird die Vorverlagerungstheorie von weiten Teilen der rechtswissenschaftlichen Literatur abgelehnt.

Lehre von der mittelbaren Täterschaft bzw. Werkzeugtheorie

Teilweise wird auch vertreten, dass es sich bei der actio libera in causa um einen Spezialfall der mittelbaren Täterschaft handelt. Der Täter mache sich durch das „Sich-Betrinken“ zu seinem eigenen indolosen Werkzeug. Er haftet nach diesem Ansatz als Täter in mittelbarer Täterschaft. Dieser Theorie wird entgegnet, dass sie eine rein juristische Spaltung ein und derselben Person vornimmt, die mit § 25 Abs. 1, 2. Alt. StGB nicht zu vereinbaren sei („durch einen anderen“, also einer anderen Person). Selbst wenn man dieses Argument mit psychologischen Einwänden übergeht, so stellt sich die Frage, warum bei einem möglichen Rücktritt des schuldunfähigen „Tatmittlers“ vom Versuch der Tat dies dem schuldfähig gewesenen „Hintermann“ zugutekommen soll.

Rechtsprechung

Die Rechtsprechung hat sich bislang keiner der oben genannten Theorien angeschlossen. Bei eigenhändigen Delikten allerdings hat der Bundesgerichtshof die Anwendung der a.l.i.c. abgelehnt.[2] Dazu zählen insbesondere die Straßenverkehrsdelikte und die Aussagedelikte wie z. B. der Meineid. Dabei hat der Bundesgerichtshof betont, dass ein Verhalten nur unter eine Norm subsumiert werden kann, wenn dieses mit deren Wortlaut kompatibel ist. Der BGH erkennt weiter, dass das „Trinken“ (bzw. die in die Schuldunfähigkeit führende Handlung) als Tathandlung jedenfalls dann nicht in Betracht kommt, wenn diese kein „Trinken“ (sondern Führen eines Kraftfahrzeugs, falsch schwören usw.) ist.

Konsequenz der Rechtsprechung und Perspektive

Die gegenwärtige Rechtsprechung seit 1995 lässt Fragen offen: Der Bundesgerichtshof lehnt die a.l.i.c. zwar bei verhaltensgebundenen Delikten ab. Offengeblieben ist indes die Haltung des Gerichts mit Blick auf Erfolgsdelikte (etwa Totschlag, § 212 StGB).

Während bei fahrlässigen Delikten regelmäßig eine Anknüpfung an das pflichtwidrige, vorhersehbare Verhalten möglich erscheint (hierin liegt nämlich der Vorwurf) und somit eine (Hilfs-)Konstruktion (wie die der a.l.i.c.) entbehrlich ist, bleibt das Gericht eine Stellungnahme zu vorsätzlichen Erfolgsdelikten schuldig.

Teilweise wird angenommen, dass der Bundesgerichtshof der a.l.i.c. insoweit eine Existenzberechtigung einräumt. Andere Strömungen in der juristischen Literatur glauben in den Ausführungen des Bundesgerichtshofes erhebliche Bedenken hinsichtlich der Existenzberechtigung der a.l.i.c. gefunden zu haben und gehen von einer prinzipiellen Ablehnung aus.

Der 2. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die actio libera in causa im Jahre 2000 erneut bekräftigt und klargestellt, dass die Entscheidung des 4. Strafsenats des Bundesgerichtshofes aus dem Jahre 1996 nur Vergehen der Straßenverkehrsgefährdung und des Fahrens ohne Fahrerlaubnis betrifft. Eine weitergehende Einschränkung des Anwendungsbereichs der Grundsätze der actio libera in causa sei nicht anzuerkennen und auch nicht zu erwarten.

Schweizer Recht

Grundsätzliches

Nach Art. 19 Abs. 4 StGB handelt der Täter nicht straflos (e contrario Art. 19 Abs. 1 StGB) oder kommt ihm keine Strafmilderung zugute (e contrario Art. 19 Abs. 2 StGB), wenn er «[…] die Schuldunfähigkeit oder die Verminderung der Schuldfähigkeit [hätte] vermeiden [können] und dabei die in diesem Zustand begangene Tat [hätte] voraussehen [können]».

Vorsätzliche a.l.i.c.

Der Vorsatz muss sich auf die Herabsetzung der Schuldfähigkeit und auf die Tat beziehen; Eventualdolus genügt. Vorsätzliche a.l.i.c. kann auch dann angenommen werden, wenn sich der Täter fahrlässig in einen Rauschzustand versetzt, obwohl er weiß, dass er in diesem Zustand zu einer gewissen Art von Delikten neigt.[3]

Fahrlässige a.l.i.c.

Der Täter hat die Verminderung seiner Schuldfähigkeit sowie die Gefahr einer in diesem Zustand zu begehenden Fahrlässigkeitstat nicht bedacht; er hätte voraussehen können, dass er in diesem Zustand eine Fahrlässigkeitstat verüben könnte.[4] Für die Voraussehbarkeit des späteren Fahrlässigkeitsdeliktes gelten die allgemeinen Regeln. Es reicht nicht, dass für den Täter irgendein Delikt voraussehbar war, vielmehr muss er im Zustand der vollen Schuldfähigkeit die Begehung eines bestimmten Delikts voraussehen können.[5] Zur fahrlässigen a.l.i.c. gehört auch der Fall, dass der Täter nach Herbeiführung der verminderten Schuldfähigkeit pflichtwidrig nicht daran denkt, dass er in diesem Zustand eine bestimmte vorsätzliche Straftat begehen könnte und dies in der Folge tut.[6] Wenn die Voraussehbarkeit komplett fehlt, das heisst, die Tat, welche in der Schuldunfähigkeit erfolgte, nicht hatte vorausgesehen werden können, kommt eventuell Art. 263 StGB zum Tragen. Dabei wird das selbstverschuldete Herbeiführen der Unzurechnungsfähigkeit bestraft, was die im Rauschzustand verübte (Rausch-)Tat (Verbrechen oder Vergehen) zur blossen objektiven Strafbarkeitsbedingung macht.

Einzelnachweise

  1. Eschelbach: Beck’scher Online-Kommentar zum StGB, Ed. 10/2009, § 20 Rn. 71.
  2. BGHSt 42, 235 ff.
  3. Trechsel: Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommentar, Art. 19 Rz. 22.
  4. BSK-Bommer, Art. 19 Rz. 103.
  5. BSK-Bommer, Rz. 104; BGE 120 IV 169, 171 E. 2c.
  6. BSK-Bommer, Rz. 105.

Siehe auch