„Alexithymie“ – Versionsunterschied

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Als charakteristisch für Alexithymie gilt zudem ein rationaler, an äußeren Ereignissen orientierter Denkstil (engl. ''externally oriented thinking''). Betroffene reflektieren kaum über ihr eigenes Seelenleben und fokussieren sich stattdessen auf Ereignisse und Details in ihrer Umwelt. Persönliche Einstellungen, Gefühle, Wünsche oder Beweggründe beziehen sie in ihre Überlegungen kaum mit ein. Ebenfalls häufig, aber nicht immer, wird ein auffallender Mangel an [[Phantasie|Fantasie]] als Bestandteil von Alexithymie genannt. So fallen Betroffene mitunter durch nur gering ausgeprägte oder völlig fehlende Vorstellungskraft sowie durch reduziertes oder nicht vorhandenes [[Tagtraum|Tag]]- und [[Traum|Nachtträumen]] auf.<ref name=":3" />
Als charakteristisch für Alexithymie gilt zudem ein rationaler, an äußeren Ereignissen orientierter Denkstil (engl. ''externally oriented thinking''). Betroffene reflektieren kaum über ihr eigenes Seelenleben und fokussieren sich stattdessen auf Ereignisse und Details in ihrer Umwelt. Persönliche Einstellungen, Gefühle, Wünsche oder Beweggründe beziehen sie in ihre Überlegungen kaum mit ein. Ebenfalls häufig, aber nicht immer, wird ein auffallender Mangel an [[Phantasie|Fantasie]] als Bestandteil von Alexithymie genannt. So fallen Betroffene mitunter durch nur gering ausgeprägte oder völlig fehlende Vorstellungskraft sowie durch reduziertes oder nicht vorhandenes [[Tagtraum|Tag]]- und [[Traum|Nachtträumen]] auf.<ref name=":3" />

== Ätiologie und Einteilung ==
Die [[Neurobiologie|neurobiologischen]] Ursachen der Alexithymie sind bislang nicht abschließend geklärt, das Störungsbild kann jedoch sowohl angeboren als auch erworben sein. Als Grund für die nachträgliche Entstehung von Alexithymie werden insbesondere psychische [[Trauma (Psychologie)|Traumata]] angenommen.<ref>{{Literatur |Autor=Adriano Schimmenti, Vincenzo Caretti |Titel=Attachment, Trauma, and Alexithymia |Sammelwerk=Alexithymia |Auflage=1 |Verlag=Cambridge University Press |Datum=2018-09-27 |ISBN=978-1-108-24159-5 |DOI=10.1017/9781108241595.010 |Seiten=127–141 |Online=https://www.cambridge.org/core/product/identifier/9781108241595%23CN-bp-8/type/book_part |Abruf=2024-07-21}}</ref> Erworbene Gefühlsblindheit ist somit als eine Art psychischer Schutzmechanismus vor zu intensiven Emotion zu verstehen. Dabei lassen sich zwei Typen von psychisch bedingter Alexithymie unterscheiden:<ref name=":2">{{Literatur |Autor=A. Messina, J. N. Beadle, S. Paradiso |Titel=Towards a classification of alexithymia: primary, secondary and organic |Sammelwerk=Journal of Psychopathology |Band=20 |Datum=2014 |Seiten=38-49 |Online=https://www.academia.edu/download/66604383/Towards_a_classification_of_alexithymia_20210423-6308-qcyh7y.pdf}}</ref><ref>{{Literatur |Autor=Adriano Schimmenti, Vincenzo Caretti |Titel=Attachment, Trauma, and Alexithymia |Sammelwerk=Alexithymia |Auflage=1 |Verlag=Cambridge University Press |Datum=2018-09-27 |ISBN=978-1-108-24159-5 |DOI=10.1017/9781108241595.010 |Seiten=127–141 |Online=https://www.cambridge.org/core/product/identifier/9781108241595%23CN-bp-8/type/book_part |Abruf=2024-07-20}}</ref>

# ''Primäre Alexithymie'' ist angeboren oder entwickelt sich in der Kindheit, oft infolge von [[Kindheitstrauma|Kindheitstraumata]]. Sie besteht lebenslang und gilt als Risikofaktor für psychische Folgeerkrankungen.
# ''Sekundäre Alexithymie'' entsteht im Erwachsenenalter durch starke Belastungssituationen infolge psychischer oder physischer Erkrankungen. Sie kann mit Abklingen der Grunderkrankung ebenfalls wieder verschwinden.

Darüber hinaus lässt sich als dritter Typ die ''Organische Alexithymie'' abgrenzen, die durch [[Schädel-Hirn-Trauma|Schädel-Hirn-Traumata]] oder andere erworbene [[Hirnschaden|Hirnschäden]] verursacht wird.<ref name=":2" />


== Wortherkunft ==
== Wortherkunft ==

Version vom 21. Juli 2024, 18:05 Uhr

Alexithymie (von gr. α- (a-) ohne, λεξις (lexis) sprechen, lesen und θυµoς (thymos) Leidenschaft, Gefühl, Emotion), auch Gefühlsblindheit, bezeichnet Einschränkungen bei der Fähigkeit, Emotionen wahrzunehmen, zu erkennen und zu beschreiben. Diese sind bei Betroffenen prinzipiell vorhanden, werden jedoch als rein körperliche Symptome interpretiert. Der Schweregrad kann von nur leichten Schwierigkeiten beim Erkennen bestimmter Emotionen bis hin zu vollkommener „Gefühlsblindheit“ reichen.

Alexithymie tritt gehäuft im Zusammenhang mit verschiedenen psychischen und physischen Erkrankungen bzw. Störungen auf, besonders häufig bei Depressionen und Autismus. Sie kann jedoch auch gesunde, normal entwickelte Menschen betreffen. Alexithymie wird gegenwärtig nicht als eigenständige Störung klassifiziert und ist dementsprechend in den aktuellen medizinischen Klassifikationssystemen ICD-10, ICD-11 und DSM-V nicht verzeichnet.

Symptomatik

Das zentrale Merkmal der Alexithymie sind Schwierigkeiten bis hin zur vollkommenen Unfähigkeit, eigene Emotionen wahrzunehmen, zu erkennen und zu beschreiben. Diese werden stattdessen als rein körperliche Symptome interpretiert. So würde beispielsweise eine Reaktion mit Herzklopfen, Zittern, Schwitzen und Übelkeit nicht als Ausdruck von Angst verstanden, sondern als Anzeichen einer körperlichen Erkrankung. Betroffene sind dementsprechend nicht dazu in der Lage, eigene emotionale Zustände auf Anhieb oder überhaupt in Worte zu fassen und haben Schwierigkeiten, Emotionen von tatsächlich körperlichen Symptomen zu unterscheiden. Sie können zwar rational begreifen, was mit den Bezeichnungen verschiedener Emotionen gemeint ist, verbinden damit jedoch keine eigenen inneren Zustände.[1]

Auch das instinktive Erkennen und Beschreiben negativer Emotionen bei anderen Menschen ist bei Alexithymie beeinträchtigt. Betroffene sind also nicht oder nur bedingt dazu in der Lage, anhand des Gesichtsausdrucks oder Tonfalls einer Person, Gefühlszustände wie Wut, Angst oder Traurigkeit automatisiert zu erfassen. Dies kann dazu führen, dass sie in sozialen Situationen unabsichtlich falsch oder unangemessen reagieren, was dann von Mitmenschen z. B. als emotionale Kälte oder Boshaftigkeit missverstanden wird. Das Erkennen und Beschreiben positiver Emotionen, wie Freude oder Überraschung, ist nach gegenwärtigem Stand der Forschung nicht beeinträchtigt.[2]

Als charakteristisch für Alexithymie gilt zudem ein rationaler, an äußeren Ereignissen orientierter Denkstil (engl. externally oriented thinking). Betroffene reflektieren kaum über ihr eigenes Seelenleben und fokussieren sich stattdessen auf Ereignisse und Details in ihrer Umwelt. Persönliche Einstellungen, Gefühle, Wünsche oder Beweggründe beziehen sie in ihre Überlegungen kaum mit ein. Ebenfalls häufig, aber nicht immer, wird ein auffallender Mangel an Fantasie als Bestandteil von Alexithymie genannt. So fallen Betroffene mitunter durch nur gering ausgeprägte oder völlig fehlende Vorstellungskraft sowie durch reduziertes oder nicht vorhandenes Tag- und Nachtträumen auf.[1]

Ätiologie und Einteilung

Die neurobiologischen Ursachen der Alexithymie sind bislang nicht abschließend geklärt, das Störungsbild kann jedoch sowohl angeboren als auch erworben sein. Als Grund für die nachträgliche Entstehung von Alexithymie werden insbesondere psychische Traumata angenommen.[3] Erworbene Gefühlsblindheit ist somit als eine Art psychischer Schutzmechanismus vor zu intensiven Emotion zu verstehen. Dabei lassen sich zwei Typen von psychisch bedingter Alexithymie unterscheiden:[4][5]

  1. Primäre Alexithymie ist angeboren oder entwickelt sich in der Kindheit, oft infolge von Kindheitstraumata. Sie besteht lebenslang und gilt als Risikofaktor für psychische Folgeerkrankungen.
  2. Sekundäre Alexithymie entsteht im Erwachsenenalter durch starke Belastungssituationen infolge psychischer oder physischer Erkrankungen. Sie kann mit Abklingen der Grunderkrankung ebenfalls wieder verschwinden.

Darüber hinaus lässt sich als dritter Typ die Organische Alexithymie abgrenzen, die durch Schädel-Hirn-Traumata oder andere erworbene Hirnschäden verursacht wird.[4]

Wortherkunft

Alexithymie ist ein Kunstwort, gebildet aus den griechischen Wortstämmen α- (a-) „nicht“, ἡ λέξις (he léxis) „Rede/Wort“[6] und ὁ θυμός (ho thymós) „Gemüt“;[6] Alexithymie wird also wörtlich übersetzt mit „Mangel an Worten für Gefühle“.

Moderne Begriffsverwendung

Das ursprüngliche Konzept, nach dem Alexithymie eine Persönlichkeitsstörung ist, die psychosomatische Symptome verursacht, konnte nicht bestätigt werden. Im modernen psychosomatischen Schrifttum wird der Begriff jedoch weiter verwendet für eine inadäquate Reaktion auf belastende Ereignisse bei Personen mit geringer emotionaler Intelligenz; beispielsweise werden Übelkeit und Herzklopfen nicht als Ausdruck von Angst erkannt, sondern rein körperlich gedeutet.[7]

Es gibt Ansätze, den Grad der alexithymen Persönlichkeit zu messen, etwa mit den Levels of Emotional Awareness Scales (LEAS, Lane u. a., 1998) und der Toronto Alexithymia Scale (TAS-20, Bagby u. a., 1994). In Deutschland sollen ca. 10 % aller Erwachsenen stark durch Alexithymie beeinträchtigt sein.[8]

Naheliegend ist, nach statistischen Verbindungen zwischen alexithymen Persönlichkeitszügen und körperlichen bzw. psychosomatischen Krankheitsbildern zu suchen. Bei Kupfer, Brosig und Brähler findet sich eine Übersicht über solche Arbeiten. Die moderne Alexithymieforschung sucht außerdem nach einem neurobiologischen (hirnorganischen) Korrelat der beeinträchtigten Affektverarbeitung, beispielsweise mit der funktionellen MRT und der PET.

Dennoch bleibt die praktische Bedeutung der Alexithymie unklar, zumal sich die Laienpsychologie des Begriffs bemächtigt hat[9] und selbst Fachautoren mit anderem – z. B. tiefenpsychologischem – Hintergrund den Begriff unterschiedlich verwenden. Sie verstehen darunter etwa

  1. eine Bindungsstörung und als Defizit, Gefühle zu mentalisieren,[10]
  2. ein neuropsychologisches Defizit der Affektregulation,[11]
  3. eine Symbolisierungsstörung der sprachlichen Sozialisation,[12] oder
  4. ein Gegenübertragungsphänomen in der therapeutischen Beziehung.[13]

Literatur

  • B. Brosig, J. P. Kupfer, M. Wölfelschneider, E. Brähler: Prävalenz und soziodemographische Prädiktoren der Alexithymie in Deutschland – Ergebnisse einer Repräsentativerhebung. In: Zeitschrift für Klinische Psychologie, Psychiatrie und Psychotherapie. 52, 2004, S. 237–251.
  • H. Gündel, A. O. Ceballos-Baumann, M. von Rad: Aktuelle Perspektiven der Alexithymie. In: Nervenarzt. 71, Nr. 3, 2000, S. 151–163.
  • K. D. Hoppe: Zur gegenwärtigen Alexithymie-Forschung. Kritik einer „instrumentalisierenden“ Kritik. In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse. 43, 1989, S. 1029–1043.
  • J. Kupfer, B. Brosig, E. Brähler: Toronto-Alexithymie-Skala-26. Deutsche Version. Hogrefe Verlag, Göttingen / Bern 2001.
  • P. Marty, M. de M’Uzan: Das operative Denken (”pensée opératoire”). In: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse. 32, 1978, S. 974–984.
  • Michael von Rad (Hrsg.): Alexithymie. Empirische Untersuchungen zur Diagnostik und Therapie psychosomatisch Kranker. Springer, Berlin 1983, ISBN 3-540-12141-2.
  • J. C. Nemiah, P. E. Sifneos: Affect and fantasy in patients with psychosomatic disorders. In: O. W. Hill (Hrsg.): Modern Trends in Psychosomatic Medicine Band 2. Butterworths, London 1970, S. 26–34.
  • J. C. Nemiah, H. Freyberger, P. E. Sifneos: Alexithymia: A view of the psychosomatic process. In: O. W. Hill (Hrsg.): Modern Trends in Psychosomatic Medicine. Band 3. Butterworths, London 1976, S. 430–439.
  • B. Weidenhammer: Überlegungen zum Alexithymiebegriff: Psychischer Konflikt und sprachliches Verhalten. Ein Beitrag zur Phänomenologie. In: Zeitschrift für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie. 1986; 32, S. 60–65.
  • G. J. Taylor, R. M. Bagby, J. D. A. Parker: The alexithymia construct: a potential paradigm for psychosomatic medicine. In: Psychosomatics. 32, 1991, S. 153–164.
  • O. Luminet, R. Michael Bagby, G. J. Taylor (Hgg.): Alexithymia. Advances in Research, Theory, and Clinical Practice, Cambridge University Press, 2018.
  • M. Rufer, H. J. Grabe (Hgg.): Alexithymie: Eine Störung der Affektregulation. Konzepte, Klinik und Therapie, hogrefe, 2022.
  • V. Tesio, K. S. Goerlich, M. Hosoi, L. Castelli (Hgg.): Alexithymia: State of the art and controversies. Clinical and neuroscientific evidence, Frontiers Media SA, 2019.
Wiktionary: Alexithymie – Bedeutungserklärungen, Wortherkunft, Synonyme, Übersetzungen

Einzelnachweise

  1. a b Alexithymie: Eine Störung der Affektregulation: Konzepte, Klinik und Therapie. 2. Auflage. Hogrefe AG, 2022, ISBN 978-3-456-86037-4, S. 19 ff., doi:10.1024/86037-000 (hogrefe.com [abgerufen am 21. Juli 2024]).
  2. Olivier Luminet, Giorgia Zamariola: Emotion Knowledge and Emotion Regulation in Alexithymia. In: Alexithymia. 1. Auflage. Cambridge University Press, 2018, ISBN 978-1-108-24159-5, S. 49–77, doi:10.1017/9781108241595.006 (cambridge.org [abgerufen am 20. Juli 2024]).
  3. Adriano Schimmenti, Vincenzo Caretti: Attachment, Trauma, and Alexithymia. In: Alexithymia. 1. Auflage. Cambridge University Press, 2018, ISBN 978-1-108-24159-5, S. 127–141, doi:10.1017/9781108241595.010 (cambridge.org [abgerufen am 21. Juli 2024]).
  4. a b A. Messina, J. N. Beadle, S. Paradiso: Towards a classification of alexithymia: primary, secondary and organic. In: Journal of Psychopathology. Band 20, 2014, S. 38–49 (academia.edu [PDF]).
  5. Adriano Schimmenti, Vincenzo Caretti: Attachment, Trauma, and Alexithymia. In: Alexithymia. 1. Auflage. Cambridge University Press, 2018, ISBN 978-1-108-24159-5, S. 127–141, doi:10.1017/9781108241595.010 (cambridge.org [abgerufen am 20. Juli 2024]).
  6. a b Stichwort Alexi|thymie. In: Duden. Das Wörterbuch medizinischer Fachausdrücke. Software für PC-Bibliothek. Bibliographisches Institut, Mannheim
  7. Hans Morschitzky: Angststörungen: Diagnostik, Konzepte, Therapie, Selbsthilfe. Springer, 2009, ISBN 978-3-211-09448-8, S. 324 ff. (books.google.com).
  8. Matthias Franz: Vom Affekt zum Mitgefühl: Entwicklungspsychologische und neurowissenschaftliche Aspekte der emotionalen Regulation am Beispiel der Alexithymie. (Memento vom 2. Oktober 2013 im Internet Archive) (PDF; 86 kB)
  9. V. Hackenbroch: Blind für Wut und Freude. In: Der Spiegel. 1. Dezember 2003.
  10. A. Fossati, E. Acquarini, J. A. Feeney, S. Borroni, F. Grazioli, L. E. Giarolli, G. Franciosi, C. Maffei: Alexithymia and attachment insecurities in impulsive aggression. In: Attachment & human development. Band 11, Nummer 2, März 2009, S. 165–182, ISSN 1469-2988. doi:10.1080/14616730802625235. PMID 19266364.
  11. M. Wölfelschneider: Psychoimmunologische und psychoendokrinologische Aspekte der Affektverarbeitung am Beispiel des psychodynamischen Konstrukts der Alexithymie. Universität Gießen 2009. (Dissertation)
  12. O. Decker: Der Prothesengott. Subjektivität und Transplantationsmedizin. Dissertation. Universität Kassel 2002.
  13. Michael Abele, Andres Ceballos-Baumann: Bewegungsstörungen. Georg Thieme Verlag, 2005, ISBN 3-13-102392-9, S. 176 ff. (books.google.com).