„Wandrers Nachtlied“ – Versionsunterschied

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→‎Parodien: unfreiwillige Parodie durch Rückübersetzung des Gedichts
angebliches "Japanisches Nachtlied: Stille ist im Pavillon aus Jade ..."
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Eine unfreiwillige Parodie ist durch [[Rückübersetzung]] entstanden: 1902 wurde das Gedicht ins Japanische, 1911 weiter ins Französische und dann wieder ins Deutsche übersetzt - in der Annahme, dass es sich um ein japanisches Gedicht handle. Als ''Japanisches Nachtlied'' lautet es:<ref>Dagmer Matten-Gohdes (Hrsg.): ''Goethe war gut''. Beltz und Gelberg. Weinheim, Basel 1982</ref>
Oft und gern wird folgende Anekdote kolportiert: "1902 war "Ein Gleiches" ins Japanische übersetzt worden, 1911 wurde es aus dieser Sprache ins Französische übertragen und aus dem Französischen kurz darauf ins Deutsche, wo es als" japanisches Gedicht unter dem Tiel "''Japanisches Nachtlied'' in einer Literaturzeitschrift abgedruckt wurde."<ref>Dagmer Matten-Gohdes: ''Goethe ist gut - Ein Lesebuch.'' Beltz und Gelberg. Weinheim, Basel 1982, 2006, S. 66</ref>
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Eine Primärquelle, insbesondere die deutsche "Literaturzeitschrift", wird allerdings nie namhaft gemacht. Gedruckt scheint das japanisierende Gedicht erstmals 1960 erschienen zu sein, zusammen mit einer Darstellung seiner angeblichen Entstehung.<ref>in ''Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung'', Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Band 15, Seite 693</ref> Es dürfte sich mithin um eine parodisierende Mystifikation handeln, die inzwischen allerdings wie eine [[Moderne Sage]] vielfach für bare Münze genommen wird.



== Einzelnachweise ==
== Einzelnachweise ==

Version vom 4. Juli 2010, 12:08 Uhr

Wandrers Nachtlied ist der Titel von zwei der bekanntesten Gedichte Johann Wolfgang Goethes aus den Jahren 1776 beziehungsweise 1780, die immer zusammen abgedruckt werden sollen und dabei jeweils mit „Wandrers Nachtlied“ und „Ein Gleiches“ betitelt werden.

Diese Zusammenstellung hatte Goethe selbst angeordnet, allerdings erst im Jahr 1815 beim ersten Band einer neuen Gesamtausgabe. Zu diesem Zeitpunkt war besonders das zweite Gedicht jedoch bereits in vielen nicht autorisierten Drucken verbreitet und zum berühmtesten Gedicht deutscher Sprache avanciert.

Wandrers Nachtlied

Ettersberg

„Wandrers Nachtlied“ schrieb Goethe im Februar 1776 vom Ettersberg bei Weimar aus und fügte es einem Brief an Charlotte von Stein bei:

Der du von dem Himmel bist,
Alle Freud (Alles Leid) und Schmerzen stillest,
Den, der doppelt elend ist,
Doppelt mit Erquickung füllest;
Ach, ich bin des Treibens müde!
Was soll all die Qual (der Schmerz) und Lust?
Süßer Friede,
Komm, ach komm in meine Brust!

Dieses Gedicht findet sich handschriftlich zwischen den Briefen an Frau von Stein mit der Unterschrift „Am Hang des Ettersberg, d. 12. Feb. 76“.

Für die 1789 bei Göschen erschienene Ausgabe seiner Werke führte Goethe einige Änderungen durch, und er ersetzte "Alle Freud" durch "Alles Leid" sowie "die Qual" durch "der Schmerz", oben in Klammer gesetzt.

Durch den frühen Ruhm und das berüchtigte Genie-“Treiben“ kam Goethes literarische Produktivität zum Erliegen. Absorbiert durch die Staatsgeschäfte kam er kaum noch dazu, sich literarisch zu betätigen.

Der Titel „Wanderers Nachtlied“ erweckt den Eindruck, dass das Lied von einem müden Wandersmann handelt. Es stellt sich allerdings die Frage, ob Goethe hier den Wanderer nicht im übertragenen Sinn sehen wollte.

In seinem Buch "Goethe / Neue Ansichten - Neue Einsichten" (Verlag Königshausen & Neumann, 2007) kommt Prof. Hans-Jörg Knobloch jedoch zu einer völlig anderen Interpretation, und weist diesem Gedicht eine starke persönliche Note im Rahmen der Beziehung von Goethe zu Frau Charlotte von Stein zu.

Ein Gleiches

Goethehäuschen auf dem Kickelhahn

„Ein Gleiches“ schrieb Goethe am Abend des 6. Septembers 1780 mit Bleistift an die Holzwand einer Jagdhütte auf dem Kickelhahn bei Ilmenau und gab ihm den gleichen Namen. Es hat das gleiche Thema, ist also ein weiteres (deshalb „gleiches“) Nachtlied des Wanderers. Die Inschrift erneuerte Goethe 1813.

Über allen Gipfeln
Ist Ruh,
In allen Wipfeln
Spürest du
Kaum einen Hauch;
Die Vögelein schweigen im Walde.
Warte nur, balde
Ruhest du auch.

Im August 1831, ein halbes Jahr vor seinem Tod, besuchte Goethe während seiner letzten Reise mit dem Bergingenieur Johann Christian Mahr die Hütte ein letztes Mal und stieg sofort in das obere Stockwerk, um zu schauen, ob sein Gedicht an der Holzwand noch zu lesen war. Mahr berichtet darüber folgendermaßen:

Goethe überlas diese wenigen Verse, und Tränen flossen über seine Wangen. Ganz langsam zog er sein schneeweißes Taschentuch aus seinem dunkelbraunen Tuchrock, trocknete sich die Tränen und sprach in sanftem, wehmütigem Ton: Ja: warte nur, balde ruhest du auch! schwieg eine halbe Minute, sah nochmals durch das Fenster in den düsteren Fichtenwald und wendete sich darauf zu mir mit den Worten: Nun wollen wir wieder gehen!

Rezeption

Franz Schubert, der Goethe sehr verehrte und sich von ihm stark inspiriert fühlte, vertonte um 1823 Ein Gleiches als Opus 96 Nr. 3 (D 768).

Dem Goethe-Kult auch um den Entstehungsort, der bereits 1838 auf Wanderkarten als „Goethehäuschen“ verzeichnet ist, entsprach eine Verehrung des Gedichtes, das als Feier universeller Ruhe gesehen wurde.

Die Hütte brannte 1870 ab und wurde 1874 wieder aufgebaut. Eine Fotografie aus dem Jahr 1869 dokumentiert Goethes Text in dem Zustand, den er, in 90 Jahren durch Übermalungen usw. verändert, unmittelbar vor seiner Vernichtung hatte. Das Foto zeigt auch Sägespuren: Ein Tourist hatte vergeblich versucht, den Text aus der Wand herauszuschneiden.

Folgende Aussagen wurden diesem Gedicht zugeschrieben:

  • ein Abendlied, das an den Tod mahnt
  • ein Naturgedicht
  • Stellung des Menschen im Kosmos

Für die beiden letzten Deutungen spricht die Organisation der Elemente:

  • Gipfel: unbelebt bzw. anorganisch. Wipfel und Vögel: belebt bzw. organisch, aber schon ruhig. Du (Mensch): noch unruhig
  • Gestein - Pflanze - Tier - Mensch (Abfolge der Evolution)
  • Ferne - zoom-artig näher bis ins Innere des Menschen

Im Goethejahr 1999 wurde im Goethehäuschen eine Schautafel angebracht, auf welcher das Gedicht „Ein Gleiches“ in zahlreiche Sprachen übersetzt abgedruckt ist.

Bertolt Brecht kritisiert in seinem 1927 entstandenen Gedicht „Liturgie vom Hauch“[1] die Ruhe, die von Goethes Gedicht ausgehe. Erst als ein „großer roter Bär“ die „Vögelein im Walde“ frisst, entsteht „Unruh über allen Wipfeln“, und „In allen Gipfel spürest du | Jetzt einen Hauch“. Gerhard Kaiser fragt, auf Brechts Anliegen eingehend, rhetorisch: „Äußert sich da nicht eine rasante Sozialkritik, die von der ständischen Gesellschaft der Goethezeit bis zum heutigen kapitalistischen System aktuell geblieben ist; sprechen da nicht Wut, Schmerz und Hohn über die Humanitätsheuchelei, mit der sich Privilegierte den Luxus der Ruhe, des Naturgenusses, der schönen Gefühle und schönen Worte gönnen, sich mit kulturellen Opiaten einlullen, indessen die unten, die Ausgebeuteten, Armen, die Entrechteten und Verfolgten, die Vergewaltigten, die Flüchtlinge, die Hungrigen, verdeckt durch die Nebelschwaden der Sentimentalität, leiden und zugrundegehen? Ist Glück, mit Menschen, mit der Natur, mit Kunst, in der Kunst schuldhaft angesichts des entsetzlichen politischen und sozialen Unrechts, das täglich und stündlich geschieht, das einbetoniert ist in die Stabilität der herrschenden und uns privilegierenden Verhältnisse? Und es muß erlaubt sein, auch noch allgemeiner zu fragen: angesichts des Leids der Welt mit seinen unzählig vielen Gesichtern?“[2]

Parodien

Bei dem hohen Bekanntheitsgrad von Goethes Gedichten konnte es – wie bei Schillers Lied von der Glocke – nicht ausbleiben, dass sie oft parodiert wurden. Die bekanntesten Parodien auf dieses Gedicht sind 'Fisches Nachtgesang' von Christian Morgenstern, das – den Angaben des Autors zufolge – „tiefste deutsche Gedicht“, und das 'Abendgebet einer erkälteten Negerin' von Joachim Ringelnatz, das mit folgenden Zeilen endet:

Drüben am Walde
Kängt ein Guruh – –
Warte nur balde
Kängurst auch du.

In Karl Kraus' Tragödie Die letzten Tage der Menschheit, die als Reaktion auf den Ersten Weltkrieg entstand, wird in der 13. Szene des zweiten Akts ein „Wanderers Schlachtlied“ vorgestellt:

Über allen Gipfeln ist Ruh.
Über allen Wipfeln spürest du
Kaum einen Hauch.
Der Hindenburg schlafet im Walde,
Warte nur balde
Fällt Warschau auch. *

Oft und gern wird folgende Anekdote kolportiert: "1902 war "Ein Gleiches" ins Japanische übersetzt worden, 1911 wurde es aus dieser Sprache ins Französische übertragen und aus dem Französischen kurz darauf ins Deutsche, wo es als" japanisches Gedicht unter dem Tiel "Japanisches Nachtlied in einer Literaturzeitschrift abgedruckt wurde."[3]

Stille ist im Pavillon aus Jade
Krähen fliegen stumm
Zu beschneiten Kirschbäumen im Mondlicht.
Ich sitze
Und weine.

Eine Primärquelle, insbesondere die deutsche "Literaturzeitschrift", wird allerdings nie namhaft gemacht. Gedruckt scheint das japanisierende Gedicht erstmals 1960 erschienen zu sein, zusammen mit einer Darstellung seiner angeblichen Entstehung.[4] Es dürfte sich mithin um eine parodisierende Mystifikation handeln, die inzwischen allerdings wie eine Moderne Sage vielfach für bare Münze genommen wird.


Einzelnachweise

  1. Bertolt Brecht: Liturgie vom Hauch
  2. Gerhard Kaiser: Goethe und Buchenwald - oder: Kann Barbarei Dichtung in Frage stellen?. In: Politische Studien. Jg. 50 (1999), H. 366, S. 43-64
  3. Dagmer Matten-Gohdes: Goethe ist gut - Ein Lesebuch. Beltz und Gelberg. Weinheim, Basel 1982, 2006, S. 66
  4. in Die Sammlung. Zeitschrift für Kultur und Erziehung, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, Band 15, Seite 693
Wikisource: Ein Gleiches – Quellen und Volltexte

Literatur

  • Wulf Segebrecht: Goethes Gedicht über allen Gipfeln ist Ruh und seine Folgen. Texte, Materialien, Kommentar. Carl Hanser, 1978, ISBN 3446124993
  • Uwe C. Steiner: Gipfelpoesie. Wandrers Leiden, Höhen und Tiefen in Goethes beiden Nachtliedern. in Bernd Witte (Hg.): „Gedichte von Johann Wolfgang Goethe“ (Interpretationen). Stuttgart: Philipp Reclam jun., 1995, ISBN 3-15-017504-6