Tuwinische Volksrepublik

Die Tuwinische Volksrepublik (tuwinisch Tьʙa Arat Respuʙlik (Lateinalphabet) bzw. Тыва Арат Республик (kyrillisches Alphabet), russisch Туви́нская Наро́дная Респу́блика, wiss. Transliteration Tuvinskaja Narodnaja Respublika), 1921 bis 1926 Volksrepublik Tannu-Tuwa (tuwinisch Таңды Тыва Улус (Республика) Tañdy-Tywa Ulus Respublika), in westlichen Publikationen zumeist Tannu-Tuwa, war ein von 1921 bis 1944 bestehender Staat im Süden Sibiriens.

Die tuwinische Volksrepublik stand politisch und wirtschaftlich stark unter dem Einfluss der Sowjetunion (UdSSR) und wurde von Zeitgenossen in Deutschland und den USA als Marionettenstaat oder sowjetische „Kolonie“ betrachtet. Neben der UdSSR erkannte nur die Mongolische Volksrepublik die Republik als souveränen und unabhängigen Staat an.[11][12][13] Deutschland erkannte das Land de facto nicht an.[14]

1944 wurde das Gebiet Teil der Sowjetunion, zunächst als Autonome Oblast Tuwa, 1962 als Tuwinische ASSR; seit 1992 ist Tuwa (auch Tuwinien) eine autonome Republik im südlichen Teil des asiatischen Russlands.

Republik Urjanchai

1911 spaltete sich infolge der Xinhai-Revolution das damals als Äußere Mongolei (heute: Mongolei) bezeichnete Gebiet, zu dem auch die Provinz Tannu-Urjanchai gehörte, vom Kaiserreich China ab. Unterstützt durch das zaristische Russland bildete sich eine separatistische Bewegung, die am 15. Februar 1912 die Unabhängigkeit von Tuwa unter dem Namen „Republik Urjanchai“ proklamierte.[15]

Russisches Protektorat

Im April 1914 errichtete das Zarenreich auf dem größten Teil des tuwinischen Gebietes das „Protektorat Urjanchajski Kraj“ (Урянхайский край, Region Urjanchai), um seine Händler und die rund 4.000 russischen Siedler zu unterstützen. Zur Verwaltung des Gebietes gründeten die Beauftragten der russischen Regierung die Siedlung Belozarsk (russisch Белоцарск, Weiße Stadt des Zaren).

Russischer Bürgerkrieg

Nach dem Vertrag von Kjachta war Tannu-Tuwa von 1915 bis 1918 ein autonomes Gebiet Chinas. Vom 5. Juli 1918 bis zum 15. Juli 1919 okkupierte die Weiße Armee des Admirals Alexander Wassiljewitsch Koltschak den größten Teil des Landes (Gouverneur war Pjotr Iwanowitsch Turtschaninow), chinesische Truppen eroberten den Südwesten und mongolische Truppen unter Chatanbaatar Magsardschaw den Süden Tannu-Tuwas. Von Juli 1919 bis Februar 1920 besetzte die russische Rote Armee das Land. Vom 19. Februar 1920 bis Juni 1921 gliederte China das Tannu-Tuwa wieder in sein Staatsgebiet ein, Gouverneur wurde Yan Shi-chao.

Republik Tannu-Tuwa

Am 14. August 1921 erklärten russische Siedler mit Unterstützung der Roten Armee die Unabhängigkeit der „Volksrepublik Tuwa“ und proklamierten 1922 die „Republik Tannu-Tuwa Ulus“ (tuwinisch: Таңды Тыва Улус (Республика) Tañdy-Tywa Ulus Respublika (Ulus = Befehlsbereich, Staat, Volk)). Die erste Regierung der Räterepublik führte von 1921 bis 1924 der Mongush Buyan-Badyrgy, das feudale Oberhaupt des Choschun (Bezirks) Daa (mongolisch: Nojon Bujan-Badrachuund).

Tuwinische Volksrepublik

1924 wurde Donduk Kuular Vorsitzender des Kleinen Churals, des tuwinischen Parlaments, und damit Staatsoberhaupt. Kuular erhob den Buddhismus zur Staatsreligion. Er versuchte, die Zuwanderung russischer Siedler sowie die sowjetische Propaganda im Land einzuschränken und eine engere Anbindung an die Mongolische Volksrepublik herzustellen. Donduk Kuular verfolgte die Absicht, Tuwa in eine lamaistische Theokratie umzuwandeln. Im November 1926 wurde Donduk Kuular zum Ministerpräsidenten gewählt und das Land in „Tuwinische Volksrepublik“ (Tьʙa Arat Respuʙlik/TAR) umbenannt.

Flagge der Tuwinischen Volksrepublik 1926–1930
Briefmarke von 1927

Die Hauptstadt Belozarsk (seit 1918 Chem-Beldyr) erhielt 1926 den Namen Kyzyl („Rot“ in den Turksprachen, russisch Кызыл). Die offizielle Landeswährung war zunächst der russische bzw. sowjetische Rubel unter der Bezeichnung Lan, von 1934 bis 1944 der tuwinische Akşa, der an den Rubel gebunden war.

Im Januar 1929 inszenierte die Sowjetunion einen kommunistischen Staatsstreich in der Tuwinischen Volksrepublik. Donduk Kuular wurde als Ministerpräsident abgesetzt, verhaftet und 1932 auf Befehl Stalins hingerichtet. 1930 wurden fünf junge tuwinische Absolventen der Kommunistischen Universität für die Arbeiter des Ostens, der gleichen Gruppe, die Kuular exekutieren ließ, zu Sonderkommissaren für Tuwa ernannt. Strikt der Linie Josef Stalins folgend, „säuberten“ sie die Tuwinische Kommunistische Partei von ungefähr einem Drittel ihrer Mitglieder und verstärkten den Druck zur Kollektivierung der Landwirtschaft in dem traditionell nomadischen Land. Die neue Regierung verfolgte eine Politik der Zerstörung des Buddhismus und Schamanismus in Tuwa, was ebenfalls von Stalin ausging. Das Land wurde zu einem Satellitenstaat der Sowjetunion.

Als Beweis für den Erfolg dieser Aktivitäten kann die Abnahme der Anzahl der Lamas im Land gesehen werden: 1929 gab es 25 buddhistische Klöster und ungefähr 4000 Lamas und Schamanen; 1931 gab es gerade noch ein buddhistisches Kloster, 15 Lamas und ungefähr 725 Schamanen. Die Versuche zur Ausrottung des Nomadismus waren schwieriger. Eine Zählung zeigte, dass 1931 82,2 Prozent der Tuwiner Nomaden waren.[16]

Saltschak Toka, einer der fünf Sonderkommissare, wurde Generalsekretär der 1932 gegründeten Tuwinischen Revolutionären Volkspartei (TPRP). Tuwa trat am 25. Juni 1941, drei Tage nach der UdSSR, auf der Seite der Alliierten in den Zweiten Weltkrieg ein. Ein tuwinisches Infanterieregiment und ein Kavalleriebataillon kämpften in der Roten Armee, ein tuwinischer Panzersoldat erhielt den Ehrentitel Held der Sowjetunion.[17] 1944 wurden in Tuwa Uranvorkommen entdeckt.

Am 17. August 1944 „beantragte“ der Kleine Chural auf einer Sondersitzung die Eingliederung der Volksrepublik in die Sowjetunion. Das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR stimmte dem zu, und am 13. Oktober 1944 wurde die tuwinische Volksrepublik als Autonomes Gebiet Teil der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR). Bemerkenswert war der doppelte Verfassungsbruch, denn gemäß der tuwinischen wie auch der sowjetischen Verfassung hätte eine solche Entscheidung nur der Große Chural bzw. der Oberste Sowjet der UdSSR treffen können. Sowjetische Zeitungen berichteten erst zwei Jahre später darüber,[18] andere zeitgenössische Publikationen nennen auch das Jahr 1945 als den Zeitpunkt der Eingliederung in die UdSSR.[19]

Die Eingliederung in die UdSSR brachte für das Land keine sichtbaren Veränderungen, war das Gebiet doch bereits seit mehr als einem Jahrzehnt politisch wie wirtschaftlich ein Teil der Sowjetunion geworden: Der gesamte Außenhandel wurde mit der UdSSR abgewickelt, die eigentliche Macht im Land übten sowjetische Berater aus. Bei der Umwandlung des bis dato formal „unabhängigen“ Staates in eine Verwaltungseinheit der UdSSR wurden nur die staatlichen Behörden umbenannt, die Tuwinische Kommunistische Partei in die KPdSU eingegliedert und die diplomatische Gesandtschaft aus Moskau abberufen.[20]

Koordinaten: 51° 42′ N, 94° 23′ O

Wirtschaft

Die Wirtschaft Tuwas war fast ausschließlich eine Nomadenwirtschaft; gehalten wurden Rinder, Schafe, Ziegen, Pferde, Yaks, Kamele und Rentiere. Die kalten Winter sorgten dabei regelmäßig für hohe Verluste, der Bau von Ställen oder das Anlegen von Futtervorräten war weitgehend unbekannt. Hauptnahrungsmittel waren Milch und Fleisch der Herden, teilweise wurde die Ernährung durch Jagd und Sammeln von Früchten, Nüssen oder Zwiebeln sowie Fischfang ergänzt.[21] Der Verkauf von Fellen und Geweihen an russische und chinesische Händler sorgte für ein geringes Einkommen. Ackerbau war in der nomadischen Gesellschaft wenig verbreitet, solcher wurde nur in geringem Umfang in besonders geeigneten Gebieten und mit primitiven Methoden betrieben.[22]

Literatur

  • Philip Walters: Religion in Tuva: Restoration or Innovation? In: Religion, State & Society. Band 29, Nr. 1, 2001, ISSN 0963-7494, S. 23–38.
  • Otto Mänchen-Helfen: Reise ins asiatische Tuwa. Der Bücherkreis, Berlin 1931.
  • Boris Chichlo: Histoire de la formation des territoires autonomes chez les peuples turco-mongols de Sibérie. In: Cahiers du monde russe et soviétique. Band 28, 1987, ISSN 0008-0160 S. 361–401, bes. S. 380–384.(Online.)
  • Georg Cleinow: Neu-Sibirien (Sib-krai). Eine Studie zum Aufmarsch der Sowjetmacht in Asien. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1928.
  • Toomas Alatalu: Tuva. A State Reawakens. In: Soviet Studies. Band 44, Nr. 5, 1992, ISSN 1465-3427, S. 881–895.
  • Robert A. Rupen: Tuva. In: Asian Survey. Band 5, Nr. 12, 1965, ISSN 0004-4687, S. 609–615.
  • William Ballis: Soviet Russia’s Asiatic Frontier Technique. Tana [sic!] Tuva. In: Pacific Affairs. Band 14, Nr. 1, 1941, ISSN 1715-3379, S. 91–96.
  • K. B.: Tannu Tuva Showing Signs of Industrial Activity. In: Far Eastern Survey. Band 6, Nr. 7, 1937, ISSN 0362-8949, S. 81.
  • David J. Dallin: Soviet Russia and the Far East. Yale University Press, New Haven 1948.
  • Chahryar Adle (Hrsg.): Towards the Contemporary Period: From the Mid-nineteenth to the End of the Twentieth Century (= History of Civilizations of Central Asia. Band 6). UNESCO Publishing, Paris 2005, ISBN 978-92-3-103985-0, S. 328–328. (Online.)
  • Werner Leimbach: Landeskunde von Tuwa. Das Gebiet des Jenissei-Oberlaufes. (Petermanns Geographische Mitteilungen. Band 222). J. Perthes, Gotha 1936, ISSN 0031-6229.
  • Werner Leimbach: Tuwa, das Quellgebiet des Jenissei. Ein landeskundlicher Abriss. In: Geographische Zeitschrift. Band 42, Nr. 11, 1936, ISSN 0016-7479, S. 401–416.
  • Erich Körner-Lakatos: Ada Kaleh, Tannu-Tuwa, Acre. Fünfzig historische Nischen. Monsenstein und Vannerdat, Münster 2010, ISBN 978-3-86991-172-4.
  • Sewjan Israilewitsch Weinstein: Nomads of South Siberia. The Pastoral Economies of Tuva. Cambridge University Press, Cambridge 1980, ISBN 978-0-521-22089-7.
  • Ralph Leighton: Tuva or Bust! Richard Feynman’s Last Journey. W. W. Norton, New York 2000, ISBN 978-0-393-32069-5.
  • Nikolaj Alekseevič Serdobov, Leonid Pavlovič Potapov: Istorija formirovanija tuvinskoj nacii. Tuvknigoizdat, Kysyl 1971.
Commons: Tuwinische Volksrepublik – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. heraldicum.ru
  2. worldstatesmen.org
  3. worldstatesmen.org
  4. Mortimer Epstein (Hrsg.): The Statesman’s Yearbook. Statistical and Historical Annual of the States of the World for the Year 1945. 82. Auflage, Macmillan & Co. Ltd., London 1945, doi:10.1057/9780230270749 S. 810 (PDF, 1,5 MB).
  5. Mortimer Epstein (Hrsg.): The Statesman’s Yearbook. Statistical and Historical Annual of the States of the World for the Year 1945. 82. Auflage, Macmillan & Co. Ltd., London 1945, doi:10.1057/9780230270749 S. 810 (PDF, 1,5 MB).
  6. worldstatesmen.org
  7. Toomas Alatalu: Tuva. A State Reawakens. In: Soviet Studies. Band 44, Nr. 5, 1992, ISSN 1465-3427, S. 881–895.
  8. worldstatesmen.org
  9. worldstatesmen.org
  10. worldstatesmen.org
  11. David J. Dallin: Soviet Russia and the Far East. Yale University Press, New Haven 1948, S. 84 & 87.
  12. Otto Mänchen-Helfen: Reise ins asiatische Tuwa. Der Bücherkreis, Berlin 1931, S. 140f.
  13. Georg Cleinow: Neu-Sibirien (Sib-krai). Eine Studie zum Aufmarsch der Sowjetmacht in Asien. Verlag von Reimar Hobbing, Berlin 1928, S. 99.
  14. David X. Noack: Das zweite Turnier der Schatten: Das Agieren der Großmächte Deutschland, Großbritannien und Sowjetunion in Sowjetisch- und Chinesisch-Turkestan 1919–1933 (Dissertation), portal-militaergeschichte.de 5. November 2018 (abgerufen am 5. November 2018).
  15. Toomas Alatalu: Tuva. A State Reawakens. In: Soviet Studies. Band 44, Nr. 5, 1992, ISSN 1465-3427, S. 881–895.
  16. Ralph Leighton: Tuva or Bust! Richard Feynman’s Last Journey. W. W. Norton, New York 2000, ISBN 978-0-393-32069-5, S. 49.
  17. The World at War, Tannu Tuva 1911–1944
  18. David J. Dallin: Soviet Russia and the Far East. Yale University Press, New Haven 1948, S. 89.
  19. Julian Towster: Political Power in the U.S.S.R. 1917-1947. The Theory and the Structure of Government in the Soviet State. Oxford University Press, New York 1948, S. 108.
  20. David J. Dallin: Soviet Russia and the Far East. Yale University Press, New Haven 1948, S. 87–91.
  21. Werner Leimbach: Tuwa, das Quellgebiet des Jenissei. Ein landeskundlicher Abriss. In: Geographische Zeitschrift. Band 42, Nr. 11, 1936, ISSN 0016-7479, S. 410–413.
  22. Otto Mänchen-Helfen: Reise ins asiatische Tuwa. Der Bücherkreis, Berlin 1931, S. 49, 59f.