„Moorleiche“ – Versionsunterschied

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== Theorien ==
== Theorien ==
Für die germanischen Stämme bedeutete das Moor ein Grenzgebiet zwischen menschlicher und göttlicher Welt, daher fanden dort viele rituelle Opferdarbringungen statt. Aber auch „Feiglinge, Kriegsscheue und Unzüchtige“ wurden laut dem römischen Geschichtsschreiber [[Publius Cornelius Tacitus]] von den Germanen im Moor versenkt. Tacitus schreibt in der Germania (12,1): <ref>Publius Cornelius Tacitus: "Germania". Reclam, Ditzingen 1972, 2002</ref> {{Vorlage:Zitat|proditores et transfugas arboribus suspendunt, ignavos et imbelles et corpore infames caeno ac palude, iniecta insuper crate, mergunt. ''(Verräter und Überläufer knüpfen sie auf den Bäumen auf, Feiglinge, Kriegsscheue und körperlich Unzüchtige versenken sie im Schlamm und Sumpf und werfen noch Flechtwerk darüber)''}}
Für die germanischsprachigen ''gentes'' der römischen Kaiserzeit bedeutete das Moor ein Grenzgebiet zwischen menschlicher und göttlicher Welt, daher fanden dort viele rituelle Opferdarbringungen statt. [[Publius Cornelius Tacitus]] berichtet im 12. Kapitel seines ethnographischen Werks [''De origine et situ Germanorum''] über verschiedene Hinrichtungspraktiken bei den östlich des Rheins und nördlich der Donau siedelnden germanischsprachigen Völkerschaften. Demzufolge seien ''ignavi'' („Feiglinge“), ''imbelles'' („Kampfunwillige“) und ''corpore infames'' (persönlich freie Männer, die Tacitus zufolge im Rahmen gleichgeschlechtlicher Kontakte die sexuell passive Rolle einnahmen) durch Versenken im Moor bestraft worden. Tacitus schreibt hierzu (Germania 12,1): <ref>Publius Cornelius Tacitus: "Germania". Reclam, Ditzingen 1972, 2002</ref> {{Vorlage:Zitat|proditores et transfugas arboribus suspendunt, ignavos et imbelles et corpore infames caeno ac palude, iniecta insuper crate, mergunt. ''(Verräter und Überläufer knüpfen sie auf den Bäumen auf, Feiglinge, Kriegsscheue und körperlich Geschändete versenken sie im Schlamm und Sumpf und werfen noch Flechtwerk darüber)''


- Den Ergebnissen der aktuellen Moorleichenforschung zufolge scheint es sich bei der entsprechenden Passage innerhalb der Germania des Tacitus (Germania XII, 1-2) jedoch um einen Bestandteil der Interpretatio Romana zu handeln, d.h um einen Vergleich römischer Verhältnisse mit solchen bei germanischsprachigen Völkern bzw. um eine Übertragung römischer Sexualvorstellungen auf die angebliche Rechtspraxis bei den Einwohnern des rechtsrheinischen ''Barbaricums''. Hierfür sprechen folgende Hinweise: 1. Die mehreren hundert untersuchten Moorleichen stammen nicht nur aus mehreren Jahrtausenden, sondern lassen sich zudem nicht auf den geographischen Bereich der ''Germania libera'' bzw. Südskandinaviens eingrenzen; 2. Unter den Moorleichen befindet sich eine größere Anzahl von Frauen- und Kinderleichen, die zwar durch die numerische Anzahl der männlichen Leichname überwogen wird, deren Existenz jedoch trotzdem in Abweichung zum taciteischen Bericht steht, welcher das Versenken von Personen im Moor nur als Strafpraxis in Bezug auf Männer kennt; 3. Der eigentlich für diese Frage relevanten Gruppe der ''in situ'' Ertränkten lassen sich mit Bestimmtheit so gut wie keine der gefundenen Moorleichen direkt zuweisen, zumal viele der Leichname zuvor auf andere Art und Weise - wie bespielsweise Erhängen - getötet wurden, was ebenfalls im Gegensatz zum Bericht des Tacitus steht. Es ist daher nach dem Stand der gegenwärtigen Moorleichenforschung nicht mehr möglich, eine der vorgefundenen Gruppen von Moorleichen mit Sicherheit mit der Schilderung des römischen Historiographen in Germania XII, 1-2 in Verbindung zu bringen. 4. Hinzu kommt, dass Tacitus bei der Abfassung der Germania von der vermutlichen Intention geleitet wurde, das vermeintliche Sexualleben der ''Germani'' im Sinne der altrömischen Vorstellungen von ''mos maiorum'' und ''virtus'' als von scheinbarer Einfachheit geprägt darzustellen, um durch eine solche Topik zumindest indirekte Kritik an dem von ihm als "üppig" wahrgenommenen sexuellen Verhalten seiner Zeitgenossen aus der römischen ''nobilitas'' üben zu können. Da gleichgeschlechtliches Sexualverhalten unter Männern in Rom als Signum von eben dieser "Üppigkeit" galt, passte es nicht in das taciteische "Germanenbild". 5. Innerhalb der Gesamtheit der gefundenen Moorleichen können einige dieser Funde dennoch als nach einem konkreten Ritus im Moor versenkt angesehen werden. Da sich aber in vielen Fällen nicht eindeutig nachweisen lässt, ob es sich bei den vermutlich nach einem bestimmten Ritus versenkten Personen um einen Opferritus, einen Rechtsritus oder eine Kombination aus beiden dieser Faktoren handelt, zudem ein Großteil der im Moor versenkten Leichen wahrscheinlich als Opfer an die Götter anzusehen sein dürfte, muss eine abschließende Beantwortung der Frage, inwiefern bei den germanischsprachigen Völkerschaften des späten ersten Jahrhunderts Menschen parallel dazu im Rahmen einer Strafrechtspraxis durch Versenken im Moor hingerichtet wurden, offen bleiben, obwohl die Ansicht, Strafvollzug habe bei einigen der vorgefundenen Moorleichen vorgelegen, von manchen Forschern in der Tat vertreten wird. Unklar bleibt dann aber nach wie vor, ob bezüglich der möglicherweise in Folge Strafvollzugs versenkten Männer eines der von Tacitus erwähnten Delikte (z.B. ''Feigheit'' = ignavi) zutrifft, ein anderes jedoch nicht. Somit ließe sich eine innere kulturgeschichtliche Kohärenz der Aussage des Tacitus, sich sexuell passiv verhaltende, gleichgeschlechtlich agierende Männer seien von den Bewohnern der ''Germania libera'' im Moor versenkt worden, nicht mehr verifizieren. Spätere griechische und römische Autoren berichten im Gegensatz zu Tacitus davon, dass bestimmte Erscheinungsformen gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens bei einigen germanischsprachigen ''gentes'' verbreitet gewesen seien und zumindest toleriert wurden; so an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert n. Chr. Sextus Empiricus mit Blick auf die germanischsprachigen Völker in generalisierender Weise, in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts Ammianus Marcellinus hinsichtlich des Volkes der Taifalen sowie im sechsten Jahrhundert Prokopios von Caesarea bezüglich der Heruler. Die neuere historische Forschung nimmt demzufolge an, dass gleichgeschlechtlichen Sexualbeziehungen wenigstens bei einigen germanischsprachigen gentes der römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungsepoche die Funktion eines Initiationsritus der Jungmannschaft zugekommen sei (z.B. bei den Taifalen) oder dass solche Verhaltensmuster im Rahmen männerbündisch organisierter Gefolgschaftsverbände endemisch verbreitet waren. Damit geht konform, dass kriminelle Strafen bezüglich gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens unter Männern in den meisten germanischen Rechtsquellen der Völkerwanderungszeit fehlen. Eine derartige, gleichgeschlechtliches Sexualverhalten verurteilende, Rechtsnorm taucht zwar in der zur Regierungszeit Alarichs II. erlassenen Lex Romana Visigothorum (506 n. Chr.) auf, doch ist diese Strafandrohung eindeutig durch die Rezeption des zeitgenössischen römischen Rechts, namentlich des Codex Theodosianus, bestimmt. Zudem hatte die Lex Romana Visigothorum nur für die romanischsprachige Bevölkerung des Westgotenreiches Geltung, während der einige Jahrzehnte ältere Codex Euricianus, der für die gotischsprachigen Einwohner des regnum Visigothorum in Geltung war, parallel zur fränkischen Lex Salica sowie zu den Rechten der Burgunder, Langobarden, Angelsachsen etc., keinerlei Hinweise auf irgendeine strafrechtliche Verfolgung gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens erkennen lässt. Die durch Salvianus von Marseille für die Regierungszeit König Geiserichs in Nordafrika erwähnten sexualstrafrechtlichen Maßnahmen der vandalischen Führungsschicht gegen die so genannten ''viri molles'' dürfte sich auf spätantike Transvestiten unter der provinzialromanischen Bevölkerung Karthagos beziehen, vermutlich jedoch nicht auf gleichgeschlechtliche Verhaltensweisen vandalischer Männer, zumal Prokopios von Caesarea in seinem im sechsten Jahrhundert entstandenen "Bellum Vandalicum" davon berichtet, die in Nordafrika lebenden Vandalen hätten ''aphrodisia panta'' ("sämtliche Formen geschlechtlicher Liebe") praktiziert.
[[Gisela Bleibtreu-Ehrenberg]] hat daher die Theorie aufgestellt, dass es für die Germanen keinen Unterschied zwischen unzüchtigen Verbrechern, Deserteuren, Hochverrätern und Menschenopfern gab, da laut den überlieferten mythologischen Quellen alle diese Verbrecher gleichermaßen als frevlerische [[Neidingswerk|Neiding]]e, sprich unmenschliche, lüsterne Unholde angesehen worden seien, die, um den Zorn der Götter über diese Frevel zu besänftigen, den Göttern, darunter besonders [[Odin]], geopfert werden mussten; ihr Leben im Jenseits bestünde daher auch nicht aus dem ehrenvollen Einzug in [[Walhall]], sondern diese im Moor versenkten Unholde wurden dem Volksglauben nach im Jenseits dadurch bestraft, dass sie in Odins aus unehrenhaften Sklaven rekrutiertes Totenheer aufgenommen würden, der nordischen Vorstellung, die am ehesten der christlichen [[Hölle]] entsprach.

Gerade die bei einigen Moorleichen vorgefundenen mehrfachen schweren Verstümmelungen und sogar mehrere an den Leichen hintereinander vollzogene Hinrichtungsarten zugleich (Pfählen, Erhängen, Ertränken, Enthauptung etc.) könnten auf diesen nordischen Neidingsmythos hinweisen. Der [[Old-Croghan-Mann]], der vor seiner Versenkung im Moor gefoltert, gepfählt, enthauptet und schließlich zweigeteilt wurde, wurde allerdings nicht in Skandinavien oder Norddeutschland, sondern in Irland gefunden... Der [[Tollund-Mann]] aus Dänemark dagegen trug bei seiner Entdeckung noch den Strick um den Hals, mit dem er erhängt worden war.


== Abgrenzung ==
== Abgrenzung ==

Version vom 28. Juni 2009, 19:40 Uhr

Der Grauballe-Mann, eine Moorleiche aus Dänemark
Datei:Homme de Tollund.jpg
Der Tollund-Mann

Als Moorleiche bezeichnet man menschliche Überreste oder vollständige Leichenfunde, die durch Weichteilkonservierung im sauren Milieu eines Hochmoores sowie durch Sauerstoffabschluss und die Wirkung der Huminsäuren erhalten blieben, während sich die mineralischen Anteile der Knochen oft auflösen.

Allgemeines

Moorleichenfunde sind seit Beginn schriftlicher Aufzeichnungen bekannt, meist wurden die Körper zufällig beim Torfstechen gefunden und wieder beerdigt. Einmal dem schützenden Moor entnommen, trockneten die Körper rasch ein und verwesten. Aus Europa sind gegenwärtig über 1000 Moorleichen oder deren Teile bekannt. Bis in die frühe Neuzeit wurden Moorleichen, oder Teile von ihnen, gelegentlich zu Mumia verarbeitet und in Apotheken als Arzneimittel verkauft.

Der Begriff Moorleiche für die Fundgattung menschlicher Leichen und Leichenteile aus Mooren wurde 1871 von der holsteinischen Wissenschaftlerin Johanna Mestorf geprägt.

Die meisten Funde stammen aus dem 3. und 4. Jh. n. Chr., also aus der nordeuropäischen Eisenzeit. Als Moorleichen findet man in ganz Nordeuropa und den Britischen Inseln zwischen 650 v. und 500 n. Chr. den Göttern geopferte Menschen (in Irland über 100). Hingerichtete, im Moor versenkte „Verbrecher“ sind wohl allenfalls Ausnahmen. Besonders die Germanen versenkten Menschen im Moor, die meisten davon als Opfer für ihre Götter. Der römische Schriftsteller Tacitus beschreibt in seinem Buch über die Germanen Menschenopfer für die Erdgöttin Nerthus, die bevorzugt im Spätwinter oder frühen Frühjahr stattgefunden haben.

Jedoch sind bei weitem nicht alle Moorleichen auf Opferungen oder die Bestrafung von Verbrechern zurückzuführen: Es wurden auch immer wieder unter natürlichen Umständen Gestorbene regulär im Moor bestattet. Ein Beispiel dafür ist die Frau von Peiting, die bei der Geburt ihres Kindes oder im Kindbett starb.

Der jüngste Moorleichenfund ist eine mehr als 2.500 Jahre alte „Teenager“-Moorleiche. Das erste Körperfragment wurde 2000 gefunden, 2005 wurden weitere Körperteile im Uchter Moor bei Nienburg geborgen. Der Körper des 16 bis 20 Jahre alten Mädchens ist nahezu vollständig erhalten. Es handelt sich um eine der ältesten, jemals in norddeutschen Hochmooren gefundenen Leichen. Die Forscher erhoffen sich wichtige Aufschlüsse über die Lebensweise der Menschen vor 2.500 Jahren.

Auch im Moor verunglückte Menschen blieben als Moorleichen erhalten, wie die Frau von Fraer Mose zeigt. Sie wurde ausgestreckt auf dem Bauch liegend gefunden, ein Fuß steckte in einer tieferen Moorschicht fest.

Neben menschlichen Überresten wurden auch immer wieder Körper von Tieren gefunden, wie zum Beispiel von Torfhunden, denen jedoch nur selten besondere Beachtung beigemessen wurde und die weder geborgen, noch dokumentiert wurden. Eine Besonderheit ist hier der nahezu vollständig erhaltene Torfhund von Burlage, der etwa 1.200 vor Chr. ins Moor gelangte und eine der wenigen erhaltenen Tier-Moorleichen ist.

Mit der zunehmenden Mechanisierung im Torfabbau werden Moorleichenfunde immer unwahrscheinlicher. Das Risiko steigt, dass Fundmaterial mit dem Torf unerkannt abgebaut und damit für immer zerstört wird.

Konservierung in Mooren

Mann von Osterby

Chemisch gesehen haben Moore meist ein saures Milieu. Die im Moor vorhandenen Bleichmoose (Sphagnum) hemmen mikrobiologisches Wachstum von Bakterien, die organisches Material wie Holz oder Leder zersetzen. Je nach Typ haben einige Moore die Eigenschaft, durch ihre Säure die Knochen von Lebewesen fast völlig zu entkalken und die Knochenstruktur aufzulösen. Durch die in Mooren vorhandenen Humin- und Gerbsäuren werden Haut, Gewebe, Haare, Knorpel und Fingernägel regelrecht gegerbt und somit konserviert. Dabei verändert sich die Farbe der Materialien jedoch sehr stark. Begünstigt wird die Konservierung durch Luftabschluss und feuchte Lagerung im Wasser.

siehe auch Erhaltungsbedingungen für organisches Material

Wissenschaftliche Bedeutung

Die erste wissenschaftliche Untersuchung an einer Moorleiche führte die irische Gräfin von Moira im Jahre 1781 durch, allerdings dauerte es noch einige Jahrzehnte, bis Moorleichen in der Wissenschaft stärkere Beachtung fanden.

Moorleichen bieten aufgrund ihres oft ausgezeichneten Erhaltungszustands eine einmalige Gelegenheit, Menschen aus der Eisenzeit zu untersuchen. Es kann festgestellt werden, an welchen Krankheiten sie litten, sogar der Mageninhalt kann in Einzelfällen (Tollund-Mann, Grauballe-Mann) analysiert werden und gibt Aufschluss über den möglichen Todeszeitpunkt. Die meisten Moorleichen, die erkennbar als Menschenopfer sterben mussten, wurden demnach im Spätwinter getötet. Dies ist ein wichtiges Argument, das die Deutung der Moorleichen als Menschenopfer zulässt. Der ausgezeichnete Erhaltungszustand der Weichteile bis hin zu den individuellen Gesichtszügen erlaubt es, einem Menschen der damaligen Zeit „ins Gesicht zu sehen“. Diese Möglichkeit der Begegnung erklärt die Faszination, die Moorleichen auf viele Menschen ausüben.

Untersuchungen durch die kanadische Anthropologin Heather Gill-Robinson in jüngerer Zeit ergaben an den Torfmumien von Schleswig-Holstein im Museum Schloss Gottorf wertvolle Hinweise auf die Ernährungsweise der eisenzeitlichen Bevölkerung. Sie war sehr fleischarm und auch durch völligen Verzicht auf Meerestiere gekennzeichnet. Die Forscherin stellte auch fest, dass einige ältere Moorfunde manipuliert wurden.

Seit dem Beginn der Moorleichenforschung wurden zahlreiche Versuche unternommen, eine komplette Auflistung der europäischen Moorleichenfunde zu erstellen. Durch die teilweise schwierige Quellenlage (viele Fundberichte beruhen nur auf Hörensagen; viele Moorleichenfunde sind nicht erhalten, da sie wieder bestattet wurden oder ihr Verbleib unbekannt ist) ist eine gesicherte Angabe der genauen Anzahl an Funden jedoch nicht möglich. Am Beispiel der Forschungsarbeit Alfred Diecks zeigt sich diese Problematik besonders deutlich.

Theorien

Für die germanischsprachigen gentes der römischen Kaiserzeit bedeutete das Moor ein Grenzgebiet zwischen menschlicher und göttlicher Welt, daher fanden dort viele rituelle Opferdarbringungen statt. Publius Cornelius Tacitus berichtet im 12. Kapitel seines ethnographischen Werks [De origine et situ Germanorum] über verschiedene Hinrichtungspraktiken bei den östlich des Rheins und nördlich der Donau siedelnden germanischsprachigen Völkerschaften. Demzufolge seien ignavi („Feiglinge“), imbelles („Kampfunwillige“) und corpore infames (persönlich freie Männer, die Tacitus zufolge im Rahmen gleichgeschlechtlicher Kontakte die sexuell passive Rolle einnahmen) durch Versenken im Moor bestraft worden. Tacitus schreibt hierzu (Germania 12,1): [1] {{Vorlage:Zitat|proditores et transfugas arboribus suspendunt, ignavos et imbelles et corpore infames caeno ac palude, iniecta insuper crate, mergunt. (Verräter und Überläufer knüpfen sie auf den Bäumen auf, Feiglinge, Kriegsscheue und körperlich Geschändete versenken sie im Schlamm und Sumpf und werfen noch Flechtwerk darüber)

- Den Ergebnissen der aktuellen Moorleichenforschung zufolge scheint es sich bei der entsprechenden Passage innerhalb der Germania des Tacitus (Germania XII, 1-2) jedoch um einen Bestandteil der Interpretatio Romana zu handeln, d.h um einen Vergleich römischer Verhältnisse mit solchen bei germanischsprachigen Völkern bzw. um eine Übertragung römischer Sexualvorstellungen auf die angebliche Rechtspraxis bei den Einwohnern des rechtsrheinischen Barbaricums. Hierfür sprechen folgende Hinweise: 1. Die mehreren hundert untersuchten Moorleichen stammen nicht nur aus mehreren Jahrtausenden, sondern lassen sich zudem nicht auf den geographischen Bereich der Germania libera bzw. Südskandinaviens eingrenzen; 2. Unter den Moorleichen befindet sich eine größere Anzahl von Frauen- und Kinderleichen, die zwar durch die numerische Anzahl der männlichen Leichname überwogen wird, deren Existenz jedoch trotzdem in Abweichung zum taciteischen Bericht steht, welcher das Versenken von Personen im Moor nur als Strafpraxis in Bezug auf Männer kennt; 3. Der eigentlich für diese Frage relevanten Gruppe der in situ Ertränkten lassen sich mit Bestimmtheit so gut wie keine der gefundenen Moorleichen direkt zuweisen, zumal viele der Leichname zuvor auf andere Art und Weise - wie bespielsweise Erhängen - getötet wurden, was ebenfalls im Gegensatz zum Bericht des Tacitus steht. Es ist daher nach dem Stand der gegenwärtigen Moorleichenforschung nicht mehr möglich, eine der vorgefundenen Gruppen von Moorleichen mit Sicherheit mit der Schilderung des römischen Historiographen in Germania XII, 1-2 in Verbindung zu bringen. 4. Hinzu kommt, dass Tacitus bei der Abfassung der Germania von der vermutlichen Intention geleitet wurde, das vermeintliche Sexualleben der Germani im Sinne der altrömischen Vorstellungen von mos maiorum und virtus als von scheinbarer Einfachheit geprägt darzustellen, um durch eine solche Topik zumindest indirekte Kritik an dem von ihm als "üppig" wahrgenommenen sexuellen Verhalten seiner Zeitgenossen aus der römischen nobilitas üben zu können. Da gleichgeschlechtliches Sexualverhalten unter Männern in Rom als Signum von eben dieser "Üppigkeit" galt, passte es nicht in das taciteische "Germanenbild". 5. Innerhalb der Gesamtheit der gefundenen Moorleichen können einige dieser Funde dennoch als nach einem konkreten Ritus im Moor versenkt angesehen werden. Da sich aber in vielen Fällen nicht eindeutig nachweisen lässt, ob es sich bei den vermutlich nach einem bestimmten Ritus versenkten Personen um einen Opferritus, einen Rechtsritus oder eine Kombination aus beiden dieser Faktoren handelt, zudem ein Großteil der im Moor versenkten Leichen wahrscheinlich als Opfer an die Götter anzusehen sein dürfte, muss eine abschließende Beantwortung der Frage, inwiefern bei den germanischsprachigen Völkerschaften des späten ersten Jahrhunderts Menschen parallel dazu im Rahmen einer Strafrechtspraxis durch Versenken im Moor hingerichtet wurden, offen bleiben, obwohl die Ansicht, Strafvollzug habe bei einigen der vorgefundenen Moorleichen vorgelegen, von manchen Forschern in der Tat vertreten wird. Unklar bleibt dann aber nach wie vor, ob bezüglich der möglicherweise in Folge Strafvollzugs versenkten Männer eines der von Tacitus erwähnten Delikte (z.B. Feigheit = ignavi) zutrifft, ein anderes jedoch nicht. Somit ließe sich eine innere kulturgeschichtliche Kohärenz der Aussage des Tacitus, sich sexuell passiv verhaltende, gleichgeschlechtlich agierende Männer seien von den Bewohnern der Germania libera im Moor versenkt worden, nicht mehr verifizieren. Spätere griechische und römische Autoren berichten im Gegensatz zu Tacitus davon, dass bestimmte Erscheinungsformen gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens bei einigen germanischsprachigen gentes verbreitet gewesen seien und zumindest toleriert wurden; so an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrhundert n. Chr. Sextus Empiricus mit Blick auf die germanischsprachigen Völker in generalisierender Weise, in der zweiten Hälfte des vierten Jahrhunderts Ammianus Marcellinus hinsichtlich des Volkes der Taifalen sowie im sechsten Jahrhundert Prokopios von Caesarea bezüglich der Heruler. Die neuere historische Forschung nimmt demzufolge an, dass gleichgeschlechtlichen Sexualbeziehungen wenigstens bei einigen germanischsprachigen gentes der römischen Kaiserzeit und der Völkerwanderungsepoche die Funktion eines Initiationsritus der Jungmannschaft zugekommen sei (z.B. bei den Taifalen) oder dass solche Verhaltensmuster im Rahmen männerbündisch organisierter Gefolgschaftsverbände endemisch verbreitet waren. Damit geht konform, dass kriminelle Strafen bezüglich gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens unter Männern in den meisten germanischen Rechtsquellen der Völkerwanderungszeit fehlen. Eine derartige, gleichgeschlechtliches Sexualverhalten verurteilende, Rechtsnorm taucht zwar in der zur Regierungszeit Alarichs II. erlassenen Lex Romana Visigothorum (506 n. Chr.) auf, doch ist diese Strafandrohung eindeutig durch die Rezeption des zeitgenössischen römischen Rechts, namentlich des Codex Theodosianus, bestimmt. Zudem hatte die Lex Romana Visigothorum nur für die romanischsprachige Bevölkerung des Westgotenreiches Geltung, während der einige Jahrzehnte ältere Codex Euricianus, der für die gotischsprachigen Einwohner des regnum Visigothorum in Geltung war, parallel zur fränkischen Lex Salica sowie zu den Rechten der Burgunder, Langobarden, Angelsachsen etc., keinerlei Hinweise auf irgendeine strafrechtliche Verfolgung gleichgeschlechtlichen Sexualverhaltens erkennen lässt. Die durch Salvianus von Marseille für die Regierungszeit König Geiserichs in Nordafrika erwähnten sexualstrafrechtlichen Maßnahmen der vandalischen Führungsschicht gegen die so genannten viri molles dürfte sich auf spätantike Transvestiten unter der provinzialromanischen Bevölkerung Karthagos beziehen, vermutlich jedoch nicht auf gleichgeschlechtliche Verhaltensweisen vandalischer Männer, zumal Prokopios von Caesarea in seinem im sechsten Jahrhundert entstandenen "Bellum Vandalicum" davon berichtet, die in Nordafrika lebenden Vandalen hätten aphrodisia panta ("sämtliche Formen geschlechtlicher Liebe") praktiziert.

Abgrenzung

Moorleichen sind zu trennen von Funden im Moor aus der Zeit der jüngeren Trichterbecherkultur wie in Dagsmose, Døjringe, Føllenslev, Gemeindeberggasse, Sigersdal und Sludegard Mose, alle in Dänemark, die aus Leichenteilen bestehen (zumeist Schädeln) und als Mooropfer anzusehen sind.[2]

Bekannte Moorleichen

Frau von Haraldskær
Der Mann aus Jührdenerfeld

Auswahl:

Dänemark:

Deutschland:

Vereinigtes Königreich:

Niederlande:

Irland:

Schweden:

Siehe auch

Moorarchäologie, Moorbutter, Halsschnur von Bunsoh

Quellen

  1. Publius Cornelius Tacitus: "Germania". Reclam, Ditzingen 1972, 2002
  2. Manfred Rech: "Studien zu Depotfunden der Trichterbecher und Einzelgrabkultur des Nordens". S. 48-53, Offa-Bücher Bd. 39 (1979)

Literatur

  • Michael Gebühr: Moorleichen in Schleswig-Holstein. Verein zur Förderung des Archäologischen Landesmuseums e.V., Schleswig 2002, Wachholtz, Neumünster 2005. ISBN 3-529-01870-8
  • Peter Vilhelm Glob: The Bog People. Iron Age Man preserved. Cornell University Press, Cornell 1969. ISBN 0-8014-0492-4 (Grundlegende Arbeit über Moorleichen und ihre Deutung als Menschenopfer)
  • Peter Vilhelm Glob: Die Schläfer im Moor. Winkler, München 1966
  • Miranda Aldhouse Green Menschenopfer - Ritualmord von der Eisenzeit bis zum Ende der Antike Magnus Verlag. Essen 2003. ISBN 3-88400-009-8
  • Peter Pieper: Peat bog corpses. In: Andreas Bauerochse & Henning Haßmann (Hrsg.): Peatlands. Leidorf, Rahden/Westfalen 2003. ISBN 3-89646-026-9
  • Wijnand van der Sanden C14-Datierungen von Moorleichen aus Niedersachsen und Schleswig-Holstein. In: Die Kunde Neue Folge 46. Hrsg. vom Niedersächsischen Landesverein für Urgeschichte. Hannover 1995.
  • Wijnand van der Sanden Mumien aus dem Moor - Die vor- und frühgeschichtlichen Moorleichen aus Nordwesteuropa. Drents Museum / Batavian Lion International. Amsterdam 1996. ISBN 90-6707-416-0
  • Publius Cornelius Tacitus: Germania. Reclam, Ditzingen 1972, 2002 (lat./dt.). ISBN 3-15-009391-0